Schwerpunktthema | Veröffentlicht in MIZ 3/13 | Geschrieben von Carsten Frerk

Kirchen als politische Akteure

Immer wieder stellt sich die Frage, warum die Kirchen – trotz des Mitgliederrückgangs, der immer wieder öffentlich thematisierten Skandale, ihrer rigiden Moralpolitik – immer noch einen politi­schen Einfluss haben oder zugesprochen bekommen, sogar Ver­treter in die staatliche Kommission zur Klärung der Atommüll-Endlager entsenden. Damit werden die zwei Seiten des Themas deutlich: Zum einen, welchen Anspruch haben die christlichen Kirchen in Deutschland gegenüber der Politik und zum anderen, welcher Einfluss wird den Kirchen von der Politik eingeräumt? 
Das Wollen muss ja nicht dem Gewähren lassen entsprechen.

Für die Vertreter in der Atommüll-Kommission gibt es eine einfache Be­gründung: Tradition. Die Bundesrepub­lik Deutschland ist in der politischen Willensbildung eine Verbände-Demo­kratie und als nach dem Zweiten Welt­krieg die „Karten neu gemischt“ wurden, brachten CDU/CSU die Kirchen und die SPD die Gewerkschaften mit ins Boot der wichtigsten gesellschaftspolitischen Akteure, die sich seitdem traditionell den Kuchen aufteilen, sei es in Rundfunkräten, Bildungswerken, Stif­tungen oder Studierendenförderungs­werken: Alle Parteien, die Kirchen und die Gewerkschaften sind beteiligt. Doch das ist keine hinreichende Erklärung für die Einwirkung auf die aktuelle Gesetzgebung.

Prinzip des Lobbyismus

Wesentliches Element der (erfolgreichen) Einflussnahme eines Lobbyisten ist die Diskretion, dass nichts über Kontakt und Einfluss bekannt wird. Insofern ist es verständlich, dass die Akteure (auf beiden Seiten) ihre Arbeit und (insbesondere) ihre Erfolge bedeckt halten.

In diesem Punkt liegt die Nähe des
Lobbyismus zur Korruption. Dies ist
einer der Gründe, warum die Geheim­haltung beider Vorgänge eine Basis für Verdächtigung und schlechtes Image bildet. Aber es muss gleich betont werden, dass der Lobbyismus mit korrekten Informationen zu arbeiten hat, denn einmal einen Abgeordneten sachlich falsch beraten zu haben, ist das Ende der Einflussnahmemöglichkeit.

Strukturell müsste meines Erach­tens unterschieden werden zwischen einem Konkurrenz-Lobbyismus, bei 
dem verschiedene Akteure um Ein­flussnahmen konkurrieren, um die eigenen Interessen gegen andere durch
zusetzen (z.B. Abtreibung), und einem Exklusiv-Lobbyismus, bei dem es keinen direkten Konkurrenten gibt, da es sich um die Regelung spezifischer eigener Interessen handelt (z.B. Kirchensteuer). Allerdings ist auch und insbesondere dieser Bereich immer weniger „Kirchenbereich“, da die demokratische Legitimation traditioneller und neuer Regelungen immer lautstärker öffentlich wird. Die Reaktionen der Kirchenvertreter und der ihnen zugeneigten Politiker sind bezeichnend hilflos bis aggressiv, da sie ungeübt sind, auf diesem Terrain zu agieren.

Interessendurchsetzung der Kirchen

Auf den ersten Blick scheint es, dass die Kirchen in so gut wie allen gesellschaftlichen (Wert-)Fragen, und dabei insbesondere die katholische Kirche, im Rahmen der Bundesgesetzgebung in den letzten Jahrzehnten elementare Vorstellungen nicht mehr durchsetzen konnten. Sie haben, was bis dahin ihren Normen entsprach, entweder nicht erhalten können (Ehescheidung, Kinderrechte, Homosexualität…) oder
sie mussten zumindest Kompromisse eingehen, die sich sehr weit von ihrem Wahrheitsanspruch entfernten
(Abtreibung, gleichgeschlechtliche Part
nerschaften, Präimplantationsdiagnos­tik…).

Doch der Schein trügt. Tatsächlich haben die Kirchen „die vorübergehend verfassungslose Zeit nach dem Zusammenbruch von 1945 unter Druck auf alle Parteien ausgenutzt, um in der allgemeinen Verwirrung bis 1949 ihre Machtstellungen stärker auszubauen als jemals zuvor, insbesondere hinsichtlich ihrer Finanzierungsbasis. So besitzen die großen Kirchen in der Bundesrepublik Deutschland heute weitaus mehr Privilegien als nach der Revolution von 1918 und als sie ihnen in den fortschrittlichsten Verfassungen der westlichen Demokratien, nämlich in Großbritannien, in den USA und in Frankreich, gewährt werden.“1

Die Kirchen haben in allen finanzi­ellen Fragen ihre Interessen bisher
komplett durchsetzen können – nicht
nur in der Bewahrung ihrer „Besitz­stände“, sondern auch bei neuesten,
 noch in Diskussion stehenden Rege­lungen (automatischer Abzug der Kapi
talertragssteuer bei Kirchenmitglie­dern). Diese finanzreli­gionsverfas­sungsrechtlichen Bestimmungen sind so
 gut wie alle juristisch bis zum Bundes
verfassungsgericht (BverfG) durchdekliniert worden, wo die Kirchen normalerweise Recht bekommen.

Sind die Kirchen „Lobbyisten“?

Nein, werden Kirchenvertreter auf diese Zwischenfrage antworten, denn sie selbst verstehen ihre politische Arbeit immer als Verpflichtung zum Gemeinwohl aller Bürger. Sie beanspruchen, wie es Horst Herrmann vor fünfunddreißig Jahren (sarkastisch) beschrieb2 ein „Wächteramt“ im Dienste der Demokratie, während die anderen Verbandslobbyisten als Vertreter eines begrenzten Klientel mit eindimensionalen und zudem egoistischen Interessen angesehen werden.

Aber: Es ist kein eindimensionales Thema. Christlicher Glaube und Motivation kann politisch durchaus zu individuellem Verhalten führen.
Beispiele:

Der überzeugte evangelische Christ
Gustav Heinemann (1949 bis 1955 Präses der Synode der EKD, 1949-1950 Bundesinnenminister, 1966-1969 Bundesjustizminister und 1969-1974 Bundespräsident), vertrat ethisch und gesellschaftlich durchaus auch Positionen, die nicht unbedingt den Auffassungen der Mehrheit seiner christlichen Amtsbrüder entsprachen.

Ebenso ließ sich der gläubige Katholik Hans-Jochen Vogel (SPD) 1975 als Bundesjustizminister in der Durchsetzung des Kompromisses zum Schwangerschaftsabbruch nicht durch den erbitterten Widerstand der katholischen Bischöfe irritieren.

Literaturlage

Die veröffentliche Forschungslage zum kirchlichen Lobbyismus ist überaus mager. Die Deutsche Nationalbibliothek nennt zum Thema „Lobbyismus“ 397 Titel. In der Kombination „Lobbyismus (und) Kirche“ werden nur zwei Titel genannt. Eine theologische Dissertation vor allem zu ekklesiologischen Fragen des kirchlichen Lobbyismus von Johannes Keppeler (2007) und von Dominik Hierlemann Lobbying der katholischen Kirche (2005), der die Situation in Polen darstellt.

Thomas Leif3 und Rudolf Speth4, die man wohl als die derzeit federführenden Lobbyismusforscher in Deutschland betrachten kann, gehen in einem Sammelband Die stille Macht. Lobbyismus in Deutschland5 (2003) gar nicht auf die Kirchen ein.

In dem von Leif/Speth drei Jahre später herausgegebenen Sammelband prägen sie nicht nur den Begriff der fünften Gewalt6, sondern es ist auch ein Beitrag von Johanna Holzhauer zum „Lobbyismus der Kirchen in der Bundesrepublik“ enthalten. Nicht nur allein der geringe Umfang (13 Seiten) verweist auf eine gewisse nur beschreibende Ebene, sondern auch die Tatsache, dass die Autorin „Verantwortliche Redakteurin. ‘Gott und die Welt’, WDR“ ist, lässt (zu Recht) nicht viel Erhellendes erwarten, aber immerhin ist es ein erster Einblick in die Funktionsweise der politischen Hauptstadtbüros beider Kirchen, ihre Eigeninteressen und die Rolle von Caritas und Diakonie.

Generell zum kirchlichen Lobbyismus

Kirchen sind keine Lobbyisten wie andere, da sie ich in alles (!) einmischen und sie ihre Lobbyisten (und die Gefolgschaft) schon als Kinder indoktrinieren, die dann später Politiker, Juris­ten, Ärzte u.a.m werden. Insbesondere dieser zweite Aspekt der Erzeugung von Angst im Kindesalter (vor dem allmächtigen Gott, vor dem Höllenfeuer…), die dann (verinnerlicht) zu Gedanken wird, die Menschen gefügig macht, schafft Einfallstore für kirchlichen Einfluss und vorauseilender Interessenerfüllung – eine mentale Korrumpiertheit, für die der Erzbischof nur einen Brief schreiben muss, damit sie aktiviert wird. Zum Lobbyisten (beispielsweise) der Metall-Industrie wird man nicht als Kind erzogen, sondern als Erwachsener ausgebildet. Insofern charakterisierte ein Bundestagsabgeordneter es einmal so: „Christliche Interessenvertreter im Bundestag sind keine Lobbyisten, sondern Überzeugungstäter!“

Das ist jedoch jeweils für das Ein­zelthema zu klären, welche kirchlichen Organisationen mit welchen Interessen im politischen Feld unterwegs sind. Ebenso wie bei den Parteien gibt es auch innerhalb der Kirchen verschiedene Strömungen, von liberal bis konservativ und fundamentalistisch.

Lobbyismus von außen

Die Lobby-Macht der Kirchen gegenüber Parteien und Parlamentariern liegt eben nicht nur darin, dass ein Bischof etwas von der Kanzel predigt und die Gläubigen sind folgsam – das waren die 1950er Jahre –, sie liegt vor allem in einer organisatorischen Struktur, die sich gegebenenfalls ‘massenhaft’ aktivieren lässt.

Ein Beispiel für die katholische Kirche: In der Arbeitsgemeinschaft der katholischen Organisationen Deutsch
lands (AGKOD) sind rund 125 katholische Verbände, Geistliche Gemein
schaften und Bewegungen, Säkular­institute sowie Aktionen, Sachverbände, Berufsverbände und Initiativen zusammengeschlossen, die auf überdiözesaner Ebene tätig sind. Die in dieser Arbeitsgemeinschaft zusammengeschlossenen Organisationen stehen für rund sechs Millionen Mitglieder.

Die Büros der Abgeordneten des
Bundestages (und auch die der Län­derparlamente) erhalten regelmäßig
Einladungen seitens kirchlicher Organisationen zu Veranstaltungen, Ausflü­gen, Gesprächsrunden mit MdBs, Ge­sprächsrunden mit Mitarbeitern der MdB-Büros, u.a.m. In dieser Hinsicht sollen die Kirchen die aktivsten Orga­nisationen sein.

Kirchen sind nicht als Lobbyisten registriert

Im Lobbyregister des Deutschen Bun­destages sind 32 katholische und 18
evangelische Organisationen als Lobby­isten eingetragen. Besonders interessant dürfte dabei jedoch sein, welche Verbände bzw. Organisationen nicht auf dieser Lobbyliste eingetragen sind.

Grundsätzlich werden nur diejenigen Verbände in die öffentliche Liste aufgenommen, die eine Aufnahme von sich aus beantragt haben. Nicht registriert werden Anstalten, Körperschaften und Stiftungen des öffentlichen Rechts und deren Dachorganisationen sowie Organisationen, deren Interessenver­tretung bereits auf überregionaler Basis erfolgt. Gleiches gilt für angeschlossene Verbände eines bereits registrierten Dachverbandes sowie für einzelne Vereine und Einzelfirmen.“7

Es ist so formuliert, dass man es beinahe überliest, dass die beiden Großkirchen, als Körperschaften des öffentlichen Rechts (und die ihnen zugeordneten Organisationen) nicht als Lobbyorganisationen registriert werden. Das Zentralkomitee der deutschen Katholiken e.V. (ZdK) ist also in der Lobbyliste entsprechend genannt, das Katholische Büro u.a.m. jedoch nicht.

Direkte Interventionen

Die (nach außen hin) geräuschlosen Interventionen haben eine andere Qualität, als das offizielle Treffen des Regierenden Bürgermeisters von Berlin, Klaus Wowereit, mit dem Erzbischof von Berlin, Kardinal Rainer Maria Woelki, am 13. Mai 2013. (Das letzte Treffen davor, auf dieser Ebene, gab es im Jahr 2007.) Ergebnis, das über alle Medien verbreitet wurde, war u.a. dass Kirchenaustritte in Berlin künftig Geld kosten sollen.

Es geht aber auch ‘halb-öffentlich’: Am 8. April 2011 veranstaltete der AK Christinnen und Christen in der SPD im Reichstagsgebäude eine Fachtagung zur Frage, ob es eine neue Balance zwischen Staat und Kirchen geben müsse. Zum Tagungsthema referierte als Hauptredner Dr. Jürgen Schmude, SPD-Mitglied, 1978 bis 1981 Bundesminister für Bildung und Wissenschaft, 1981 bis 1982 Bundesminister der Justiz und 1982 Bundesminister des Innern; er war von 1985 bis 2003 Präses der Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD). Sein Fazit hatte eher den Charakter einer Drohgebärde: Grundlegende Eingriffe in das bewährte System des Staatskirchenrechts, die die Positionen der Kirchen schwächen würden, seien nicht sachdienlich. Und: Würde diese Schwächung durch die SPD erfolgen, wäre dies primär und vor allem für die SPD schädlich. „Es wird zuerst die Partei treffen, bevor es die Kirchen erreicht!“

Katholische Büros / Evangelische Büros

Beide Kirchen in Deutschland haben auf Bundesebene, aber auch auf Länderebene, politikbezogene Büros, die vor Ort die Verbindungen zu Parteien, Parlamenten und Bundes- wie Landesregierung herstellen.

Dazu schreibt das Bistum Trier: „Sie sorgen für den wechselseitigen Informationsfluss – sie beobachten für die Kirche wichtige Tendenzen in Staat und Gesellschaft – sie geben Anregungen und bereiten Gespräche und Stellungnahmen vor – sie bemühen sich um Einflussnahme auf die Gesetzgebung und Gesetzesanwendung auf den Gebieten, auf denen kirchliche Interessen berührt werden wie z.B. im Schul- und Hochschulbereich...“8 Das Interessante dürfte sich dann wohl bei den … abspielen.

Lobbyismus von innen

Innerhalb aller Parteien bestehen kon
fessionelle Gruppen, wie der Evange­lische Arbeitskreis der CDU/CSU“ oder 
der Kardinal-Höffner-Kreis, der Arbeits­kreis Christinnen und Christen in der SPD, die Arbeitsgemeinschaft Christinnen und Christen bei der LINKEN ebenso wie die Bundesarbeitsgemeinschaft Grüne Christen. Ebenso gibt es diese Gruppierungen in den Parlaments­fraktionen, etwa den Stephanuskreis der CDU oder die Christen in der FDP-Bundestagsfraktion.

Auch wenn eine ehemalige Bundes­tagsabgeordnete einmal anmerkte: „Wer zum Mainstream im Bundestag gehören will und in der zweiten Legislaturperiode seines Mandats nicht in der Synode der EKD oder im ZdK ist, der ist nicht erfolgreich“, so bleibt dennoch jeweils zu prüfen, welche Hierarchieebene der Parteien und Fraktionen sich in diesen konfessionellen Gruppen in welcher Weise engagiert.

Vernetzungen

Mit „Vernetzungen“ sind Strukturen und Treffen gemeint, bei denen Akteure verschiedenster Bereiche zu
sammenkommen und sich eine Meinung bilden. Damit sind natürlich eigentlich auch schon alle erwähnten Verbände erfasst, aber es geht vorrangig um „Elitenbündelung“ und gezielte politische Erörterungen und Einflussnahmen.

Eine spezielle Variante der politischen Meinungsbildung sind die katholischen und evangelischen Akademien, die sich daran mit Vorträgen, Ein­ladungen, Gesprächskreisen beteiligen. Besonders in Berlin gibt es bei den kirchlichen Akademien diverse politische Clubs, in den Parlamentarier und Vertreter gesellschaftlicher Gruppen Kommunikationsgelegenheiten haben.

Effektiv sind vermutlich auch die Mitgliedschaften einzelner Personen in verschiedenen Gremien/Verbänden/Institutionen gleichzeitig oder auch nacheinander („Elitenetzwerke“).

Fazit

Um das Zusammenwirken der verschiedenen skizzierten Komponenten hinsichtlich ihrer politischen Qualität zu erfassen, werden detaillierte Untersuchungen von einzelnen Gesetzes­vorhaben notwendig sein, um die beteiligten Akteure, Gruppen sowie Verbände zu identifizieren und ihre Einflussqualität bewerten zu können.

Anmerkungen

1 Arbeitsgemeinschaft für die Trennung von Staat und Kirche: Kirchensteuer-Einzug durch den Staat verletzt Religionsfreiheit und Datenschutz, in: MIZ 2/81. http://www.ibka.org/artikel/miz81/kirchensteuereinzug.html.
2 http://www.humanistische-union.de/nc/publikationen/vorgaenge/online_artikel/ online_artikel_detail/browse/12/back/nach-autoren/article/wider-die-lobbyisten-der-transzendenz/.
3 Thomas Leif ist seit 1997 Chefreporter Fernsehen Südwestrundfunk Mainz, war bis 2011 Vorsitzender des Netzwerks Recherche und im Beirat von Transparency International.
4 Rudolf Speth ist Privatdozent an der Freien Universität Berlin und der Universität Kassel und eng mit der Bundeszentrale für politische Bildung verbunden.
5 Thomas Leif/Rudolf Speth (Hrsg.): Die stille Macht. Lobbyismus in Deutschland. Wiesbaden, Westdeutscher Verlag, 2003, 382 Seiten.
6 Thomas Leif/Rudolf Speth: Die fünfte Gewalt. Lobbyismus in Deutschland. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften, 2006, 366 Seiten.
7 https://www.bundestag.de/dokumente/lobbyliste/index.html (Hervorhebung durch den Autor, C.F.)
8 http://cms.bistum-trier.de/bistum-trier/Integrale?MODULE=Frontend&ACTION= ViewPageView&Filter.EvaluationMode=standard&PageView.PK=1&Document.PK=235.