Während in Frankreich der Toten hochoffiziell gedacht wurde, fiel die Anteilnahme in Deutschland geringer aus. Aus dem Bundestag (es war sitzungsfreie Woche) war nichts zu vernehmen, und auch der Bundespräsident konnte sich nicht zu einer Pressemitteilung durchringen (möglicherweise war er noch zu erschöpft vom Empfang der Sternsinger am Vortag, um etwas zur Bedeutung der Meinungsfreiheit zu äußern). Der Bundeskanzler immerhin „twitterte“ auf X: „#JesuisCharlie ging nach dem barbarischen Angriff auf das Satiremagazin Charlie Hebdo vor 10 Jahren um die Welt. Wir fühlen heute wie damals mit unseren französischen Freunden. Der Angriff galt unseren gemeinsamen Werten von Freiheit und Demokratie – das akzeptieren wir niemals.“
Nicht einmal die Medien betonten uneingeschränkt die Wichtigkeit der Meinungsfreiheit. Während auf dem Berliner Presseball Gérard Biard, der jetzige Chefredakteur von Charlie Hebdo, den Ehrenpreis für Presse- und Meinungsfreiheit entgegennehmen durfte, belehrte die Journalistin Jenni Zylka die Welt am 7. Januar in der taz, dass es „eine subjektive Angelegenheit“ sei, zudem „abhängig von vielen Faktoren“, was als lustig empfunden wird. Im Verlauf ihres Textes landet sie dann bei der Frage: „Wieso wollen sie [Menschen] denn überhaupt etwas sagen, das jemand anderen beleidigt?“1
Und schon war vergessen, was sie eingangs ihres Artikels dem Publikum mitgeteilt hatte, nämlich dass in der gesamten Debatte über das, was gesagt, geschrieben oder gezeichnet werden, ein starker subjektiver Anteil steckt. Das gilt nicht nur für das, was als lustig, sondern auch für das, was als beleidigend empfunden wird. Dass hier keine Einigkeit erzielt werden kann und deshalb eine Entscheidung getroffen werden muss, welche Maßstäbe eine Gesellschaft ansetzt, um das gerechtfertigterweise Sagbare, Schreibbare und Zeichenbare zu definieren, dürfte auch Jenni Zylka wissen. Und entschieden hat sie sich auch: Geht sie doch davon aus, dass mit Blick auf eine „gerechtere, weniger verletzende und beleidigende Welt weniger fiese Spitzen erwünscht sind“.
Fiese Spitzen, die Menschen, „deren Glauben so stark mit ihrer Identität verbunden ist, dass sie eine Karikatur ... als rassistischen Angriff verstehen“, dazu bringen, gewalttätig zu werden (an anderer Stelle spricht sie von „bewusst verletzenden Humor- oder Ironieversuchen“). Indem Zylka ohne jede weitere Reflexion einschiebt, dass eine religionskritische Karikatur nicht nur als „rassistischer Angriff“ verstanden werden, sondern dies „ja durchaus sein kann“, positioniert sie sich klar auf der Seite der Identitären, für die Aufforderungen zum Nachdenken sowie zur Emanzipation und rassistische Ausgrenzung auf einer Stufe stehen.
Wohl um zu verdeutlichen, über welche Banalität am 7. Januar gesprochen wird, schließt Zylka ihren Text mit einer Analyse von Witzen Heinz Schenks und Rudi Carrells. Nicht einmal zu einem glaubwürdigen Bekenntnis zur Meinungs- und Kunstfreiheit kann sich die taz-Autorin durchringen. In der Gewalt gegen Karikaturist:innen sieht sie von den Karikaturen evozierte „Taten, die immer unverhältnismäßig sind“ (was sie als „verhältnismäßig“ ansehen würde, spricht Zylka nicht aus – angesichts des von ihr verwendeten Vokabulars und der vorgenommenen Täter-Opfer-Umkehr ist das aber leicht vorstellbar).
Zylkas Zielpublikum ist die wachsende Zahl derer, die sich Meinungs- und Kunstfreiheit nur noch in bestimmten Schranken vorstellen können (ob diese nun mit einer „weniger beleidigenden Welt“ oder mit einer „historisch-kulturellen Identität“ begründet werden, macht im Effekt keinen Unterschied). Auf den von säkularen Organisationen durchgeführten Gedenkveranstaltungen wurde ein anderer Ton angeschlagen.
Das Recht, Gott lächerlich zu machen
In Frankfurt wurde vom Humanistischen Verband (HVD) Frankfurt unter dem Titel Das Recht, Gott lächerlich zu machen an die Opfer der Anschläge erinnert und daran, dass die Morde auch darauf abzielten, Angst zu verbreiten, die Schere im Kopf in Gang zu bringen, um so letztlich Kritik zum Verstummen zu bringen. Den Konflikt zwischen Kritikfreudigkeit und Aufklärung einerseits sowie Identität als Wagenburgmentalität und Emanzipationsverweigerung andererseits hat Richard Malka, der Anwalt von Charlie Hebdo, in seinem Plädoyer im Prozess gegen die Helfer der Mörder sprachlich pointiert dargestellt. Aus diesem Buch wurden einige Passagen gelesen; darunter auch der Abschnitt, in dem Malka aufdeckt, wie der Konflikt um die ursprünglichen Mohammed-Karikaturen seinerzeit durch der Muslimbruderschaft nahestehende dänische Imame bewusst angeheizt wurde, indem sie gefälschte Zeichnungen verbreiteten.
Damit nicht in Vergessenheit gerät, dass Blasphemie und „Religionsbeschimpfung“ auch in „westlichen“ Demokratien im Visier der Behörden sind, folgte ein Vortrag über den § 166 StGB. Auf dieser Rechtsgundlage wird in Deutschland allzu freche Kritik von Kirchen und Religion geahndet. Auch nach seiner Umformulierung 1969 (seitdem wird nicht mehr „Gott“ geschützt, sondern der „öffentliche Friede“) kann der Paragraph als Zensurinstrument eingesetzt werden. Als jüngste Entwicklung zeigt sich, dass zunehmend auch Ex-Muslime belangt werden, die islamische Glaubensinhalte oder Einrichtungen kritisieren.
Karikatur und Kabarett
Der Bund für Geistesfreiheit (bfg) München erinnert seit 2016 jedes Jahr mit einer Veranstaltung an das Attentat. Dabei verfolgt der bfg das Konzept, an diesem Abend vor allem Kunst und Kultur auf die Bühne zu bringen. Dieses Jahr waren es der Sänger Heribert Haider, der Kreisler-Lieder intonierte, und der Kabarettist HG Butzko. Der Karikaturist Michael Heininger (der Georges Wolinski 1969 kennengelernt hatte) übernahm die Aufgabe, den Gästen jenen 7. Januar 2015 vor Augen zu führen. Besonders gedachte er des Webmasters Simon Fieschi, der den Anschlag schwer verletzt überlebte, sich querschnittsgelähmt ins Leben zurückkämpfte, auch beim Prozess gegen die Helfer der Mörder aussagte, im Oktober 2024 aber verstarb.
Bereits Jahre vor dem Anschlag hatte der bfg München den Kunstpreis Der freche Mario ins Leben gerufen. Vorsitzende Assunta Tammelleo präsentierte an dem Abend nicht nur zwei Dutzend Werke, die für vergangene Wettbewerbe eingereicht worden waren, sondern kündigte auch eine neue Ausschreibung an und die Preisverleihung am 1. November – Allerheiligen – an (vgl. auch die Meldung in der Rubrik Zündfunke).
Free Charlie!
Dass die Überlebenden des Attentats in Deutschland mit dem § 166 StGB hätten belangt werden können, ist ein eher bizarrer Aspekt. Aber tatsächlich stellte die Aktion der Mörder eine Störung des öffentlichen Friedens dar, und nach dem Buchstaben des Gesetzes müsste dies Ermittlungen gegen den „Auslöser“, die Charlie Hebdo-Redaktion, nach sich ziehen. Auf diese perfide Seite des „Gotteslästerungsparagraphen“ hatte die von der Giordano-Bruno-Stiftung (gbs) initiierte Kampagne #Free Charlie! bereits vergangenes Jahr hingewiesen.
Am Jahrestag tat die Kampagne nun, was die Attentäter (und alle sie unterstützenden Kräfte) für alle Zeiten unterbinden wollten: sie verspottete Religionen und ihr Bodenpersonal in Wort, Ton und Bild und forderte die Streichung des § 166 aus dem Strafgesetzbuch. Auf einer Pressekonferenz im Museum Ludwiggalerie in Oberhausen stellten sie das Buch Free Charlie! vor, das fast 100 religionskritische Karikaturen enthält, und einen gleichnamigen Film2, der die subversive Kraft des Humors feiert und erklärt, warum der § 166 StGB einen Fremdkörper im Rechtssystem eines liberalen Rechtsstaates darstellt. Gleichzeitig wurde eine Ausstellung eröffnet, auf der einige Karikaturen aus dem Buch zu sehen sind.
Anmerkungen
1 Jenni Zylka: Sehr witzig!? 10 Jahre nach Anschlag auf Charlie Hebdo, https://taz.de/10-Jahre-nach-Anschlag-auf-Charlie-Hebdo/!6057047/ (Zugriff 19.1.2025)
2 https://www.youtube.com/watch?v= Jb5AadQ4BOE