Der RU ist auch das einzige Schulfach, welches Erwähnung im Grundgesetz findet. Dieses schreibt aber ebenso die Freiwilligkeit der Teilnahme fest2 – selbst wenn die Erlasslage oder eine Verwaltungsvorschrift eines Bundeslandes dem widerspricht. Denn: Bundesrecht bricht Landesrecht.3
Ich will hier aus meiner Beratungstätigkeit exemplarisch dar- stellen, wie Schülerinnen und Schüler (SuS) mit Zwangsmaßnahmen belegt wer- den, sobald sie gegen die Missionierung aufbegehren, ja, wie sie in ihrer Eigenschaft als Rechteinhaber – das Menschenrecht der Weltanschauungsfreiheit – verletzt, wenn nicht sogar ignoriert werden. Auch möchte ich einen Diskussions- beitrag leisten, ob und wie der Religionsunterricht vielleicht aus den Stundenplänen der öffentlichen Schule4 verschwinden kann.
Unwissenheit oder Absicht?
Es erfolgt in allen Schulformen, ob Grund-, Haupt- oder Realschule, ob Gymnasium oder Berufsschule. Die häufigste Beschwerde betrifft tatsächlich die Frage nach einer Teilnahmepflicht an RU oder Schulgottesdiensten. Schon bei der Einschulung oder dem Wechsel auf eine weiterführende Schule bedarf es höchster Aufmerksamkeit, denn es wird durchaus die Religionszugehörigkeit abgefragt und – so habe auch ich es bei meinem Sohn erlebt – an welchem RU denn teilgenommen werden soll. Die Information über die Freiwilligkeit der Teilnahme wird nicht gegeben, das Wissen darüber müssen Eltern oder SuS mitbringen. Das Lehrpersonal ist sehr häufig noch nicht einmal darüber informiert, dass – bis zur Abmeldung durch die Eltern oder die religionsmündigen SuS5 – nur die Angehörigen der Konfession, in welcher der RU erteilt wird, zur Teilnahme an diesem verpflichtet sind. Noch viel selbstverständlicher ist die Freiwilligkeit des Besuchs eines Schulgottesdienstes.6
Tatsächlich wird versucht – es ist hier nicht zu untersuchen, ob durch Unwissenheit oder Intention –, den Nicht-Religiösen Steine in den Weg zu legen, wenn sie ihr Grundrecht wahren wollen. SuS werden zur Zeit des RU in andere Klassen gesetzt, teilweise werden ihnen zu verrichtende Aufgaben gegeben, manchmal sollen sie an dem anderen Unterricht teilnehmen, mitunter sollen sie sich still beschäftigen, oftmals wird ihnen strikt untersagt, in dieser so verschwendeten Zeit ihre Hausaufgaben zu erledigen. Eine hierfür häufig – selbst von Schulleitungen und -ämtern – vorgebrachte Ausrede ist: „Das wäre ja gegenüber allen anderen unfair, die sich in einer ‘wichtigen’ Unterrichtsstunde konzentrieren müssen.“ Als wäre die Wahrnehmung eines Abwehrrechtes ein Ausflug auf die Hängematte! Das Bundesverwaltungsgericht urteilte 19987: „Die Verfassung nimmt es in Art. 7 Abs. 3 GG hin, daß diejenigen Schüler, welche am Religionsunterricht teilnehmen, eine zusätzliche Belastung auf sich nehmen.“ Somit ist klargestellt, dass die Zeit des RU für diejenigen SuS, welche nicht daran teilnehmen, und an deren Schule kein vom Landesgesetzgeber installiertes und „gleichwertig ausgestaltetes“ Ersatzfach erteilt wird, Freizeit ist. Und die Verpflichtung zur Teilnahme am Unterricht einer anderen Klasse, oder gar die Aufforderung, sich dort „still“ zu beschäftigen, ist eine Einschränkung dieser Freizeit.
Das für SuS Unerfreulichste, was mir vorgetragen wurde, fand an einem Berufskolleg in Düsseldorf statt: hier wurden die „Religionsflüchtlinge“ freitagsnachmittags zur Teilnahme an Sportstunden genötigt.8 In einem anderen Fall wurde eine Siebtklässlerin an einer Realschule in Bergisch-Gladbach Bensberg während der Religionsstunden auf einen unbeheizten Flur gesetzt und erhielt Sonderaufgaben;9 schließlich sollte ein konfessionsloser Grundschüler während des Religionsunterrichtes bei Wind und Regen vor der Schule auf den erst eine Stunde später fahrenden Schulbus warten.10
Schulgottesdienste
Es obliegt den Bundesländern, ob und wie viele Gottesdienste im Schuljahr stattfinden dürfen. So können in Bayern jährlich maximal fünf11 Messen und in Nordrhein-Westfalen sogar ein Opferdienst wöchentlich12 abgehalten werden. Wie aber oben bereits geschildert, darf nach dem Grundgesetz niemand „zu einer kirchlichen Handlung oder Feierlichkeit oder zur Teilnahme an religiösen Übungen (...) gezwungen werden“.
Obwohl die Rechtslage noch klarer als die zum RU scheint, erreichte mich zu dem Thema häufig fassungsloser Protest über ein noch heimtückischeres Vorgehen. Schulgottesdienste finden zumeist in der ersten Schulstunde statt – dies macht zunächst Sinn und unterstützt die Freiwilligkeit der Teilnahme: einfach nicht hingehen und gut ist! Dies ist in Gegenden mit einem pünktlichen und regelmäßigen ÖPNV und SuS ab etwa der fünften Klasse in Ordnung.
Extrem übel ist dies für Grundschüler und deren Eltern, sobald beide berufstätig sind und ihr Kind nicht individuell zur Schule befördern können. Die kritisierten Lehrer und Schulleitungen reagierten indifferent: „Es sei in Ordnung, dass das Kind nicht am Gottesdienst teilnähme, doch die Schule könne in der Zeit für keine Beaufsichtigung sorgen.“ In Einzelfällen wurde auch die Teilnahme der Heidenkinder an der vorhandenen Ganztagsbetreuung verweigert.
Nach meiner Auffassung obliegt es allein der Verantwortung der Schule als staatlicher Einrichtung, die Beaufsichtigung der ihr anvertrauten Individuen angemessen zu bewältigen – völlig egal, ob die SuS religiös sind, einer nichtreligiösen Weltanschauung angehören oder ob sie ihre Ansichten noch finden wollen.
Religionsunterricht und Schulgottesdienste abschaffen
Die Frage ist durchaus berechtigt, da kein Kind von sich aus nach Religion oder gar einem Gott fragen würde. Das nun mehrfach zitierte Urteil des Bundesverwaltungsgerichtes aus dem Jahr 1998 stellt klar, dass die Verfassung den Religionsunterricht „um der Freiheit der Religionsausübung willen hin[nimmt], um ein anderes Ziel, nämlich die Ausübung der Religionsfreiheit ausnahmsweise auch innerhalb einer staatlichen Institution – hier der staatlichen Schule – zu ermöglichen“.
Alle Beratungen zum Thema wären unnötig, wenn die auf dem RU beharrenden Personen und Lobbygruppen – wie die Kirchen, inzwischen natürlich auch islamische Religionsgemeinschaften – ihr Privileg wirklich auch als Ausnahme ansähen.
Da dies offensichtlich nicht der Fall ist, und dieser „Kulturkampf“ auch und gerade auf den Schultern der Jüngsten ausgetragen wird – was wäre also, wenn Schulen verpflichtet würden, übereinstimmend mit den rechtlichen Vorgaben und offensiv über die Freiwilligkeit der Teilnahme an RU und Gottesdiensten zu informieren? Selbstverständlich müssten sie ebenso die altersgerechte Beaufsichtigung der SuS durch dazu befähigtes Personal gewährleisten.
Würde sich nicht – hinsichtlich der ständig steigenden Zahl der Konfessionslosen13 und der ebenso beharrlich schwindenden Zahl der ihren Glauben ausübenden Religionsangehörigen – das Problem von selbst lösen?
Stell dir vor, es ist Religion, und keiner geht hin!
Für heute ende ich mit einem Zitat des Priesters und Radikalaufklärers Jean Meslier (1664–1729):
„Alle Kinder sind Atheisten. Sie haben keine Vorstellung von Gott. Unsere Ammen sind unsere ersten Theologen. Sie erzählen den Kindern von Gott, wie sie ihnen von Geistern erzählen
Sehr wenig Leute hätten einen Gott, wenn man nicht dafür gesorgt hätte, ihnen einen zu geben.“
Anmerkungen
1 BVerfG, Beschluss vom 25.2.1987, 1 BvR 47/84.
2 https://www.kmk.org/themen/allgemeinbildende-schulen/unterrichtsfaecher/religion-ethik-philosophie.html.
3 Art. 31 GG.
4 Für die immer noch existierenden öffentlichen Bekenntnisschulen gelten Sonderregeln.
5 Mit Vollendung des 14. Lebensjahres, vgl. Gesetz über die religiöse Kindererziehung - https://www.gesetze-im-internet.de/kerzg/BJNR009390921.html.
6 Art. 136 (4) WRV - https://www.gesetze-im-internet.de/gg/art_140.html.
7 BVerwG 6 C 11.97.
8 Dabei beschreibt das bereits zitierte Urteil des Bundesverwaltungsgerichtes die Verpflichtung zur Teilnahme an einem dem RU nicht gleichwertigen Ersatzfach als unstatthafte Einflussnahme.
9 Ein Artikel in einer lokalen Tageszeitung beendete die Maßnahme, da der Vorsitzende des Fördervereines keine schlechte Presse wollte.
10 Diese Verletzung der schulischen Aufsichtspflicht fand durch den privaten Transport des Schülers sowie eine Fahrtkostenklage vor dem zuständigen Verwaltungsgericht ein Ende.
11 https://www.gesetze-bayern.de/Content/Document/BayVV_2230_1_1_0_UK_043.
12 https://bass.schul-welt.de/16254.htm.
13 Von denen immer noch nicht genug im IBKA organisiert sind.