Schwerpunktthema | Veröffentlicht in MIZ 2/25 | Geschrieben von Rainer Ponitka

Religions- und Weltanschauungspolitik

In der Bundesrepublik sind inzwischen mehr als 50 Prozent der Bürgerinnen und Bürger konfessionslos. Die Anzahl der Menschen, die sich für einen nichtreligiösen Lebensentwurf entschieden haben, aber aus sozialen oder beruf­lichen Gründen – oder weil sie vor den bürokratischen Hürden des Kirchenaustrittes zurückschrecken – der jeweiligen Religionsgemeinschaft noch nicht den Rücken gekehrt haben, ist noch höher. Es ist anzunehmen, dass die Menge der Konfessionslosen und/oder Nichtreligiösen sich auch bei den gewählten Volksvertretern in den Parlamenten widerspiegelt. Für mich wäre ein Schritt in die Moderne der Religions- und Weltanschauungspolitik getan, sobald sich die politische Be­deutung dieses Bevölkerungsanteils ent­sprechend seiner zahlenmäßigen Stärke steigert.

Nun, unabhängig ob modern oder anachronistisch, es sind und bleiben nach wie vor die gleichen Themen, ich möchte hier beispielhaft einige benennen.

Einzug der Kirchensteuer durch den Staat

Es ist ein gelungener Coup der Reli­gionsgemeinschaften, die Beiträge ihrer Mitglieder als eine sogenannte Steuer von den staatlichen Finanzämtern einfordern zu lassen. Ich kritisiere schon die Begrifflichkeit. Der Begriff Steuer vermittelt den Eindruck, es handele sich um eine Abgabe an die Solidargemeinschaft der Bürger eines Staates, die der entsprechende Staat zum Nutzen seiner Bürger einsetzt. Doch dieses ist ja nicht gegeben: Die Kirchen müssen die Beiträge ihrer Mitglieder nicht selbst erheben und noch nicht einmal ein eigenes Inkasso durchführen. Auch werden diese Gelder nicht zum Allgemeinwohl verwendet, es werden interne kirchliche Aufwendungen davon bestritten. Dennoch steht den Kirchen der Finanzapparat des Staates zur Verfügung: Werden die Mitgliedsbeiträge an die Religions­gemeinschaften nicht geleistet, kann das Finanzamt private Bankkonten pfänden und so weiter und so fort.

Auch impliziert der Begriff der Steuer, dass Bürgerinnen und Bürger diese Abgabe leisten müssen; dass es keine Möglichkeit gibt – wie beispielsweise den Kirchenaustritt – diese Ab­gabe zu umgehen.
Tatsächlich werden nach § 140 des Grundgesetzes Vereinigungen, die sich die gemeinschaftliche Pflege einer Weltanschauung zur Aufgabe machen, den Religionsgemeinschaften gleichgestellt. Sobald diese den Titel „Körperschaft des öffentlichen Rechts“ erworben haben, können diese ebenso ihre Mitgliedsbeiträge über die staatlichen Finanzämter in Rechnung stellen – oder bei unselbstständigen Arbeitern unmittelbar vom Lohn abziehen lassen. Welche der in Deutschland existierenden Verbände dieses Recht nutzen, entzieht sich meiner Kenntnis.
Nach meiner Auffassung wäre „modern“, wenn Religions- und Weltan­schauungsgemeinschaften anderen zivilgesellschaftlichen Vereinigungen gleichgestellt werden und das In­kasso der Beiträge ihrer Mitglieder selbst durchführen – wie dies beispiels­weise Kaninchenzüchter- und Schrebergar­tenvereine auch müssen.

Religionsunterricht 
an Schulen

Der Religionsunterricht ist in Deutsch­land im Grundgesetz verankert, als einziges Schulfach wird er dort erwähnt. Dieses – das GG – sagt auch, dass die Eltern über die Teilnahme ihrer Kinder am Religionsunterricht entscheiden. Mit Erreichen der Religionsmündigkeit (mit 14 Jahren) können sich Schülerin­nen und Schüler selbst vom Reli­gionsunterricht befreien.

Das Bundesverfassungsgericht hat 
sich im Jahr 1987 damit beschäftigt, 
ob eine katholische Schülerin ein Recht habe, am evangelischen Reli­gions­unterricht teilzunehmen, nach­dem die Schule dies abgelehnt hatte. Das Gericht führte aus, „er [der Religionsunterricht] ist keine überkonfessionelle vergleichende Be­trachtung religiöser Lehren, nicht bloße Morallehre, Sittenunterricht, histo­risierende und relativierende Religionskunde, Religions- oder Bibel­geschichte. Sein Gegenstand ist vielmehr der Bekenntnisinhalt, nämlich die Glaubenssätze der jeweiligen Religionsgemeinschaft. Diese als bestehende Wahrheiten zu vermitteln ist seine Aufgabe“.
So ist der Religionsunterricht kein Schulfach, welches objektives Wissen vermittelt, sondern ein dem Staat abgetrotztes kirchliches Privileg, ein Relikt aus vordemokratischen Zeiten, die staatliche Schule für die jeweilige Glaubensunterweisung nutzen zu dürfen. Und alles wird aus dem allgemeinen Steueraufkommen finanziert.
Ich bevorzuge eine weltanschaulich neutrale Werteerziehung, die in meiner Auffassung auch fachübergreifend stattfinden kann. Jungen Menschen sollen vielfältige Informationen angeboten werden: Über unterschiedliche Vorstellungen von einem gelungenen Leben, vom wünschenswerten Umgang der Menschen untereinander und von Ethik, sowie Informationen über unterschiedliche Weltanschauungen und 
Religionen, über unterschiedliche Inter-
pretationen von wichtigen Welt­an­schau­ungen und Religionen, und auch Weltanschauungs‐ und Religionskritik. Auch sollen die jungen Menschen angeregt werden, über all das nachzudenken und miteinander zu diskutieren. Je mehr unterschiedliche Auffassungen sich dabei treffen, umso besser.
Wichtig ist, dass Religionen von außen betrachtet werden, und ihre Inhalte nicht als Wahrheit vermittelt werden.
Wären Schulen grundsätzlich ve-
­pflichtet, offensiv über die Frei­wil­lig­keit der Teilnahme an einem Religions­unterricht zu informieren, würde sich das Thema wahrscheinlich von selbst erledigen.

Reform der Feiertagsgesetzgebung

Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland schützt die Sonn- und Feiertage durch den aus der Weimarer Reichsverfassung übernommenen Artikel 139: „Der Sonntag und die staatlich anerkannten Feiertage bleiben als Tage der Arbeitsruhe und der seelischen Erhebung gesetzlich geschützt.“ Es geht also um staatlich anerkannte Feiertage – nicht um in erster Linie religiöse Feiertage.

Dennoch können diese Feiertage einen religiösen Bezug aufweisen, allerdings ohne dass sich der Staat – als „Heimstatt aller Bürger“ – diesen zu eigen macht. Artikel 139 WRV vermittelt keine besonderen Rechte oder Pflichten. Auch sagt er nichts darüber aus, was eine „seelische Erhebung“ ist oder wie sie zu gestalten sei.
Das klingt erstmal gut, stellt es doch den Erholungsbedarf des Individuums in den Mittelpunkt. Mir fallen tatsächlich nur zwei säkulare Feiertage ein: der 1. Mai als „Tag der Arbeit“ und der 3. Oktober als Tag der deutschen Einheit. Unter den anderen Feiertagen gibt es auch sogenannte „Stille Feiertage“, an denen die Feiertagsgesetze der Länder Arbeitsverbote aussprechen, auch sind etliche Veranstaltungen wie Tanz, Konzerte und sogar Schachturniere untersagt. Selbst wenn diejenigen, die Stille suchen, in ihrer Andacht nicht gestört werden. Das ist so, als würde der Gesetzgeber an einem „Tag der Vernunft“ die religiöse Andacht untersagen!
Nach diesen dringend reformbedürftigen Regeln sollen Verbote nicht nur die Arbeitsruhe gewähren und „seelische Erhebung“ ermöglichen; vielmehr können Störungen von in erster Linie religiösen Veranstaltungen und Festen als Ordnungswidrigkeiten geahndet werden. In der öffentlichen Diskussion zum Fall des Tanzverbotes am Karfreitag behaupten die Verfechter eines rigiden Feiertagsschutzes häufig, wir Säkularen wollten die arbeitsfreien Tage abschaffen. Hierum geht es keineswegs, auch nicht um die Einschränkung der Glaubensfreiheit als bedeutendem Individualrecht der Moderne – die, es kann nicht oft genug gesagt werden, gegen die Kirchen erstritten wurde! Bei einer Reformierung geht es darum, dass künftig alle an ihren arbeitsfreien Tagen die Freiheit haben, ihre „seelische Erhebung“ auf individuelle Art zu finden; sei dies nun in der Andacht, beim Tanz oder im Kino. Ein Gesetzeswerk kann und soll gegenseitige Störung der Menschen verhindern, doch selbstverständlich kann niemand denjenigen gerecht werden, die sich schon in ihrem Handeln eingeengt fühlen, weil sie ahnen, dass irgendwer irgendwo etwas anderes tut.

Kirchliches Arbeitsrecht

Die Wohlfahrtsorganisationen der katholischen und der evangelischen Kirche – Caritas und Diakonie – betreiben in Finanzierung durch die Sozialversicherungen und teilweise auch durch das allgemeine Steuer­aufkommen sehr viele Einrich­tungen der Sozialfürsorge wie zum Beispiel Kindergärten, Krankenhäuser und Seniorenheime – sie verfügen fast über ein Monopol in dem Sektor. Und – obwohl öffentlich finanziert – entscheiden sie unter anderem anhand der Religionszugehörigkeit, ob Kindergärtner, Kranken- und Alten­pflegerinnen und selbst Reini­gungs­personal eingestellt werden. Hier be­steht quasi ein Berufsverbot für Atheisten.

Vision

Die Abkehr von einem „kollektiven Selbstbestimmungsrecht“ – in welchem kulturelle und religiöse Normen allen Gruppenmitgliedern verbindlich aufgezwungen werden – hin zu einer individuellen Selbstbestimmung – in weltanschaulichen und religiösen Fragen – mit auch der Freiheit, das eigene Leben entsprechend den eigenen Anschauungen und Wünschen zu gestalten. Diese Selbstbestimmung findet ihre Grenzen selbstverständlich in den Rechten anderer.

Diese Freiheit darf nicht durch Kirchen und andere religiöse Gemein­schaften in Frage gestellt werden, die sich zum Ziel gesetzt haben, ihre religiös begründeten Wertvorstellungen für die gesamte Gesellschaft verbindlich zu machen.1

Anmerkung

1 Vgl. Politischer Leitfaden des IBKA, 5. Selbst­bestimmung – https://www.ibka.org/de/leitfaden/lf-s.html.