Es geht um die offensichtliche Diskrepanz zwischen Religionszugehörigkeit und dem Einfluss institutionalisierter religiöser Gruppen und darum, warum Atheismus oft als Sonderrolle wahrgenommen wird, obwohl er die Lebensweise der Mehrheit ist.
Wenn man mit jungen Menschen über ihre Schulerfahrungen spricht, und das sollten nicht nur kommunalpolitisch Engagierte öfter tun, dann kommt schnell das Thema Religionsunterricht und die Aussage: „Ich glaube nicht an Gott“ oder „Ich bin nicht religiös, aber ich habe mich für Religion entschieden“. Warum eigentlich? Weil die Lehrerin cool war, weil die Eltern es so wollten oder weil viele kleine Schulen auf dem Land geschlossen wurden und die meisten freien Schulen in Trägerschaft eines kirchlichen Trägers oder eines Vereins sind? Oder liegt es daran, dass die Eltern die Erfahrung gemacht haben, dass man die vermeintlich von „oben“ gewünschte Haltung zumindest vortäuschen muss, um in der Sicherheit der Konformität seinen Weg gehen zu können?
In einer kurzen, nicht repräsentativen Umfrage unter Jugendlichen in Görlitz gaben 66% der Teilnehmenden an, am Religionsunterricht teilgenommen zu haben und 64% aller Teilnehmenden, dass sie Religionsunterricht nicht gut fänden. 61% der Befragten antworteten auf die Frage „Sollte Religionsunterricht nicht in der Schule stattfinden?“ mit „Ja“, sprachen sich also für einen wertneutralen Unterricht in der Schule aus. Die Möglichkeit, die eigene Meinung in einer kurzen Notiz niederzuschreiben, wurde genutzt, um sich einen Unterricht zu wünschen, der über alle Religionen und Weltanschauungen informiert und nicht einseitig in eine Richtung blickt. Es besteht also Interesse an Vielfalt und anderen Lebensweisen. Kaum zu finden ist der Wunsch, über ein Leben ohne Religion, Götterglauben oder ähnliches informiert zu werden. Dies kann zum einen daran liegen, dass in einer Region, die überwiegend von Menschen bewohnt wird, die selbst atheistisch leben, nichtreligiöse Lebenswelten als normal und damit eher in die Alltagsbewältigung integriert denn als eigenständige Lebensform betrachtet werden – dann müsste man einen Unterschied zu westdeutschen Regionen mit mehrheitlich religiöser Gesellschaft finden. Oder es handelt sich um ein Problem der schulischen Bildung, dann wäre es eine Frage der Gestaltung von Unterrichtsinhalten. Es kann aber auch sein, und diese These möchte ich hier vertreten, dass Personen, die als Repräsentantinnen der institutionalisierten Religion auftreten, als solche benannt, begrüßt oder einbezogen werden, während Personen, die faktisch Repräsentantinnen eines religionsfreien Lebens sind, nicht als solche wahrgenommen werden. Keine Eröffnung, keine Einweihung, keine öffentliche Veranstaltung ohne Beteiligung der institutionalisierten Religion, Verbände wie der IBKA kommen dagegen nicht vor.
Die zweite Erklärungsmöglichkeit wäre, dass die Eltern sehr wohl abwägen, was sie für ihre Kinder für das Beste halten, und sich für den Religionsunterricht entscheiden. In Sachsen, das seit 1990 von einer beispiellosen Welle der Rechristianisierung des öffentlichen und privaten Lebens geprägt ist, liegt diese Vermutung sehr nahe. Viele der Helferinnen und Helfer, die im Zuge des Umbaus von Verwaltung, Arbeitswelt und öffentlichem Leben nach Sachsen kamen, waren Angestellte, Manager oder Beamte aus dem Westen und mit ihnen eine Verzerrung der Wahrnehmung der Bedeutung der Kirche im Staat und damit auch eine scheinbare Aufhebung der Trennung von Kirche und Staat.
Die Menschen haben schnell gelernt, dass man als Christ einen Bonus hat, weil die jetzt Verantwortlichen aus dem Westen kommen, und schnell bereit sind, in Schubladen zu stecken. Christen sind diejenigen, die in der DDR nicht staatstragend waren, und wie viele Christen glauben sie, wer nicht an Gott glaubt, hat die Liebe Gottes noch nicht erkannt. Das ist vielleicht etwas zugespitzt und man könnte auch meinen, dass das 34 Jahre nach der Wende nicht mehr relevant ist, aber es ist so. Das führt in der Konsequenz zu der Vorstellung, dass Wohlgefallen letztlich besser für die individuelle Entwicklung ist, religiöse Themen scheinbar allgegenwärtig sind und zum Eindruck, dass eine religionskritische Haltung gleichbedeutend mit einer Einschränkung der Religionsfreiheit ist. Was wiederum zur Folge hat, dass, obwohl die meisten Menschen in Ostdeutschland keine religiöse Bindung haben, sie sich – in einigen Fällen – für den Religionsunterricht der eigenen Kinder entscheiden. Eine mögliche Reaktion ist Aufklärung.
Mitmachen ohne zu glauben
Warum halte ich das für ein Problem, dem wir uns nicht nur im IBKA stellen sollten, sondern das auch als gesellschaftliche Aufgabe in Ostdeutschland gesehen werden muss? Ich bin davon überzeugt, dass die Diskrepanz zwischen der gefühlten Bedeutung von Religion in der Zivilgesellschaft, einer gewissen Opportunität, getragen von Lebenserfahrungen gegen den Staat, die fehlende Multikulturalität, die auch aus der fehlenden Aufklärung über verschiedene Modelle der Lebensgestaltung resultiert, zu einer gesellschaftlichen Situation führt, die eher eine totalitäre als eine demokratisch tolerante Lebensweise begünstigt.
Nach 10 Jahren im Sächsischen Landtag und nach über 20 Jahren mit kommunalpolitischen Mandaten ist es mir zu einer festen Erkenntnis geworden, dass die Herausforderungen, vor denen wir gesamtgesellschaftlich in Ostdeutschland stehen, auch damit zu tun haben, dass nach der glaubenskritischen Zeit der DDR der Diskurs um Glaube und Glaubensfreiheit, die individuelle Entscheidung einer Religion anzugehören oder atheistisch zu leben, nicht stattgefunden hat. Die Religion, ihre Institutionen und „der Glaube“, sind zu einer gesellschaftlich relevanten Entscheidungsgrundlage für Menschen geworden, ohne dass sie das Wissen und die Erfahrung haben, um zwischen kritischer Reflexion und radikalem Fundamentalismus wissensbasiert unterscheiden zu können. Deshalb wäre es so wichtig, dass Lebenskundeunterricht und nicht Religionsunterricht stattfindet. Deshalb wäre es wichtig, wenn Vorurteile und Unwissenheit, wenn vermeintliche Einflussfaktoren auf die eigene Lebensentwicklung kritisch hinterfragt werden und sich der Eindruck nicht verfestigt: Ich glaube zwar nicht an Gott, aber wenn ich keinen Ärger bekommen will, dann mache ich trotzdem mit, auch wenn ich mich praktisch nicht beteilige.
Kinder in den Religionsunterricht zu schicken, die selbst nicht christlich erzogen wurden und deren Familien keinen Glauben leben, führt eben nicht zu Wissenserweiterung und Toleranz, sondern zur Anpassung an ein scheinbar gegebenes Gesellschaftsmodell, das wir dann wieder als Dissonanz zwischen den Welten West- und Ostdeutschlands empfinden. Die gefühlte Spaltung, die 34 Jahre nach der Wende immer noch besteht, hat viele Ursachen, viele sind viel bedeutender, weil sie in ökonomischen Verhältnissen verankert sind. Eine kleine Ursache ist jedoch, dass man die Tatsache ignoriert, dass in Ostdeutschland eine Mehrheit von Geburt an und über mehrere Generationen hinweg keine religiöse Bindung hat. Dann aber mit einer westdeutschen Brille – positiv getönte Emanzipation von Religion, negativ getönte Entfremdung von Religion – auf die Herausforderung geschaut hat. Deshalb brauchen wir in Ostdeutschland eine viel stärkere Präsenz einer atheistischen und konfessionsfreien Aufklärung. Ostdeutschland ist nicht weiter und fortschrittlicher, wenn es um atheistische und konfessionslose Lebensformen geht, es ist gefangen zwischen zwei Welten und braucht Hilfe. Diese Hilfe können und sollten wir leisten.
Mirko Schultze