Rolf Bergmeier: Schatten über Europa. Der Untergang der antiken Kultur. Aschaffenburg: Alibri 2012. 293 Seiten, Abbildungen, kartoniert, Euro 20.-, ISBN 978-3-86569-075-3
Karl Popper (1902-1994) schrieb einst, ein Wissenschaftler sollte sich bemühen seine Lieblingstheorie zu widerlegen. Bertrand Russel (1872-1970) befand, dass vor allem Vorsicht geboten ist, wenn die Experten sich einig sind. Besondere Vorsicht war bisher angebracht hinsichtlich der These von der konstruktiven kulturgeschichtlichen Rolle des Christentums und der Einordnung des Untergangs Westroms als Ursache des frühmittelalterlichen Kulturverfalles. Der Althistoriker Rolf Bergmeier hat in seinem Buch Schatten über Europa diese etablierte Auffassung einer radikalen Kritik unterzogen und die Bildungsfeindlichkeit des antiken Christentums und sein Aufstieg zur Staatsreligionen des Römischen Rei ches (Cunctos Populos, 380) als Hauptursache dargelegt.
Bisher divergierten die in der Öffentlichkeit wahrnehmbaren Expertenmeinungen eher über die Ursachen für den Untergang des Weströmischen Reiches, es wurde simultan dazu als ganz selbstverständlich unterstellt, dessen Kollaps im 5. Jahrhundert habe den zivilisatorischen Einbruch bedingt. Dies ist meines Erachtens eigentlich überraschend, denn die Geschichte zeigt viele Beispiele über Eroberer von niedrigerer Kulturstufe, welche die vorhandene Hochkultur nicht zerstörten sondern übernahmen, darunter die Chaldäer in Babylon, die Araber und Türken im Orient, die Mongolen und Mandschu in China sowie die Azteken in Zentral-Mexiko. Ausgerechnet die Germanen sollen da aus der Rolle fallen?
Mit Recht hinterfragt Bergmeier dieses Dogma und zeigt, wie sehr die Germanen daran interessiert waren, von der herkömmlichen Kultur zu pro fitieren und dass sie sich in ihren neuen Hoheitsgebieten als herrschende Krie gerkaste in die antike Kultur integrieren wollten. Dies unter der Oberhoheit des verbliebenen römischen Kaisers zu Konstantinopel (Byzanz) und in Koope ration mit den einheimischen Eliten. Als sichtbarstes Zeichen ihres Integrationswillens kann Bergmeier auf deren Übernahme des Christentums (Goten und Vandalen im 4. Jahrhundert!) verweisen, doch genau diese Religion war laut Bergmeier der eigentliche Teil des Problems.
Diese Bildungs- und Kulturfeindlichkeit besonders des westlichen Christentums kann der Autor bereits mit Verweis auf die Bibel begründen, auch und gerade anhand zahlreicher Aussagen und Maßnahmen namhafter christlicher Autoritäten, darunter Augustinus (354-430) und Papst Gregor „den Großen“ (540-604). Im Jahre 529 ließ der christliche Kaiser Justinian (482-565) die ehrwürdigen Universitäten in Athen schließen. In heidnischer Zeit konnte zumindest in den Städten die Hälfte der Bevölkerung noch lesen und schreiben, es gab staatlich besoldete Elementarlehrer. Selbst in kleinen Städten konnte jeder mann öffentlich zugängliche Bibliotheken aufsuchen. Mit dem Aufstieg des Christentums machte sich eine Atmosphäre der Geringschätzung von Philosophie, weltlicher Literatur und Wissenschaft breit. Die klassischen Dramen (Aischylos, Sophokles, Euripides, Aristophanes ) konnten schon wegen ihrer Bezüge zur heidnischen Götterwelt kaum überleben. Viele der wenigen heute verfügbaren Werke der antiken Dramatiker sind nur durch Zufall erhalten. Philosophie war verpönt, weil ja das Wort Gottes die Wahrheit enthalte. Das neue Menschenbild betont nur noch seinen Charakter als Sünder und Knecht Gottes. Die großen Bibliotheken der Antike verrotteten oder wurden bewusst zerstört. Millionen Titel wurden einst regelmäßig kopiert, im Frühmittelalter dagegen enthielten sogar die Bibliotheken bedeutender Klöster nur 300 Bücher und davon waren in der Regel 90% religiösen Inhalts. Schulbildung wurde nur noch dem Nachwuchs des Klerus zuteil. Schließlich können oft nicht einmal mehr die Könige lesen und schreiben. Karl der Große (742-814) soll eine Schreibtafel unter seinem Kopfkissen verstaut haben, um vor dem Einschlafen ein wenig zu üben.
An der neuen Religion lässt der Autor kein gutes Haar. Niemand habe sie damals wirklich gebraucht. Weder humanitäre Prinzipien noch spiritueller Trost seien eine christliche Erfindung gewesen. Die flächendeckende Christianisierung ist für Bergmeier das Ergebnis von staatlicher Dekretierung. Ein ganzes Strafgesetzbuch musste nach 380 zur Verfolgung Andersgläubiger mobilisiert werden.
Bergmeier schreibt mit einer Leidenschaft, welche seine Liebe zur antiken Kultur verrät, darüber hinaus aber auch die Vorsicht des akribischen Gelehrten, der sich gegen die potentiellen Angriffe der hochdekorierten Vertreter der herkömmlichen Lehrmeinung mit einem Anmerkungsapparat wappnet, als ginge es darum die Hydra und Medusa gleichzeitig zu bekämpfen. Dankenswerterweise sind die Anmerkungen am unteren Rand der betreffenden Textseite aufgeführt, so dass der Leser dieselben ohne nervtötendes Hin- und Herblättern einsehen kann.
Mitunter fördert das Buch erstaunliche Details zutage. Mir war es nicht bewusst, dass Ciceros Schrift De res publica eigentlich nur noch in Fragmenten erhalten war und nur zurückgewonnen wurde, weil man den mit einem Psalm-Kommentar des Augustinus überschriebenen Text wieder restaurieren konnte.
Meines Erachtens hätte der Autor noch mehr Informationen über die verfemten Werke liefern müssen, damit der Leser die Tragweite der christlichen Geringschätzung antiker Literatur besser ermessen kann. Nur wenige Leser werden wissen, dass z.B. De res publica jene antike Staatsphilosophie enthält, wonach eine Verfassung demokratische, aristokratische und monarchische Elemente mischen sollte. Oder dass die Aeneis des Vergil (das „römische Nationalepos“) über die Suche trojanischer Flüchtlinge nach einer neuen Heimat berichtet und dies nicht wie in der Bibel (Buch Josua) durch Völkermord erreicht wird.
Ich selbst beschäftige mich seit meiner Kindheit mit der Antike und ich bin froh, dass endlich der herkömmlichen Beschönigungseifrigkeit vieler Althistoriker durch fundierten Klartext Paroli geboten wird. Ich kann es nur empfehlen.