Prisma | Veröffentlicht in MIZ 4/22 | Geschrieben von Christoph Antweiler und Redaktion MIZ

„Sobald Religion institutionalisiert wird, werden die Unterschiede betont“

Ein Gespräch mit dem Ethnologen Christoph Antweiler über Religion und Religiosität

Der Ethnologe Christoph Antweiler vertritt in seinem Buch Heimat Mensch die Auffassung, dass Menschen viel mehr gemeinsam haben, als die derzeit vorherrschenden Identitätsdiskurse vermuten lassen. Die soeben erschienene Neuauflage hat er um ein Religionskapitel ergänzt, das den bezeichnenden Untertitel Religiosität verbindet Kulturen – Religionen trennen sie trägt. MIZ sprach mit ihm über seine Forschungsaufenthalte in Indonesien, über Toleranz, Vielfalt und ein Gerücht namens Atheismus.

MIZ: In der ersten Auflage deines Buches Heimat Mensch war kein Religions­kapitel enthalten. Deutet das darauf hin, dass Religion keiner der zentral wichtigen Faktoren von Gesellschaft ist (du ihn also erstmal weglassen konntest)? Oder finden sich im Bereich der Religion zu wenige Gemeinsamkeiten?
Christoph Antweiler: Nein. Religion ist ein zentraler Faktor. Und es gibt einige Gemeinsamkeiten. Quer durch die Kulturen scheint der Kern von Religiosität darin zu bestehen, sich in aufwändiger Weise an höhere Wesen zu binden. Es lassen sich mehrere universale Aspekte von Religiosität finden. In allen Kulturen finden wir die Vorstellung eines übernatürlichen Be­reichs der Welt. In wahrscheinlich allen Gesellschaften existiert das Konzept, dass es spezieller Medien bedarf, um mit übernatürlichen Wesen zu kommunizieren. Die religiösen Wesen werden überall stark anthropomorph gedacht. Quer durch die Religionen kann dokumentiert werden, dass das religiöse „Personal“ nicht ganz menschlich aber auch nicht völlig anders ist, sondern etwas unorthodox handelt. In sämtlichen Kulturen fanden Ethnologen Seelenvorstellungen. Religiosität finden wir in allen Kulturen. Religionen unterscheiden sich weniger durch spezifische Merkmale, sondern durch die Gewichtung von Charakteristika, die aller Religiosität gemeinsam sind.

Warum erst jetzt ein Religions­kapitel? Ein einfacher Grund ist vielleicht, dass ich selbst komplett ungläubig bin, höchstens „Wissenschafts-gläubig“. Außerdem hatte ich damals vielleicht eine gewisse Schere im Kopf, weil Gläubige dazu tendieren, schnell beleidigt zu sein, auch wenn man die religiöse Praxis einfach nur beschreibt. Mein aktuelles Motiv ist, das ich meine, dass Religion auch in unserem offiziell „säkularen“ Staat eine zu große Rolle spielt. Hinzu kommt ganz aktuell, dass ich in der Universität beobachte, dass der fundamentale Unterschied zwischen Wissenschaft und Religion immer unklarer zu werden scheint. Wissenschaft ist nicht „irgendein Weltbild“, sondern methodisch kontrollierte Forschung. Vor allem kennt sie keine absoluten Wahrheiten. Gerade das geht in den aktuellen Identitätsdebatten oft verloren. Deshalb habe ich auch ein Nachwort angehängt, in dem ich für eine „menschlichere Diskussionskultur“ in öffentlichen Debatten eintrete und eine wissenschaftliche und rationale Haltung stark mache.

MIZ: Welche grundsätzlichen, allgemeinen Fragen stellt Ethnologie denn an das Phänomen Religion?
Christoph Antweiler: Ethnologen fra­gen vor allem nach dem religiösen Tun. Sie sind (noch) mehr an der konkreten Praxis interessiert als an den Glaubensinhalten. Also erforschen Sie z.B. Rituale, wie Opferungen oder schamanistische Seancen.
MIZ: Viele deiner Forschungsreisen haben dich nach Indonesien geführt, ein Land mit Dutzenden von nebeneinander existierenden Kulturen. Wie stellt sich dort religiöse Vielfalt dar?
Christoph Antweiler: Die Zahl der Kulturen sind nicht nur Dutzende, sondern es sind Hunderte an Kulturen, wenn man die Zahl der Sprachen (nicht Dialekte) in Indonesien mal als Hausnummer nimmt. Deshalb benutzt man im Alltag die Bahasa Indonesia, die nationale Einheitssprache. Die Vielfalt der Religionen im Land ist groß und gering zugleich. Es gibt Hunderte von zumeist kleinen Religionen. Dominant sind aber der Islam (mit knapp 87%) und das Christentum (etwa 11%), während die anderen Glaubensformen klein sind und die vielen ethnischen Religionen enthalten.

Aber die Vielfalt wird vom Staat gelenkt. Sie wird dadurch domestiziert, dass es ein Religionsministerium gibt, das nur sechs Buchreligionen als wirkliche „Religion“ (agama) anerkennt, während die anderen nur als „Glaubensformen“ gelten. Die Religions­angehörigkeit wird in Indonesien in den Pass eingetragen, und nur diese sechs sind wählbar. Menschen, die de facto solchen anderen kleinen Glaubensgemeinschaften angehören, müssen eine der genannten agama wählen. Blasphemie ist illegal und der Vorwurf der Blasphemie ist ein gern benutztes politisches Kampfmittel. Atheismus oder Agnostizismus sind keine Option, weil Kommunismus allseits als das Allerschlimmste gilt. Religiöse Unterschiede werden in Indonesien vom Staat stärker betont als ethnische Differenz. Im Alltag leben Menschen verschiedenen Glaubens in Indonesien vergleichsweise tolerant nicht nur neben- sondern miteinander.

MIZ: Ist dieses Modell, religiöse Vielfalt grundsätzlich zuzulassen und abzusichern, sie dabei aber gleichzeitig zu kanalisieren, einzigartig oder findet sich diese Form staatlichen Handelns öfter?
Christoph Antweiler: In dieser Kon­sequenz ist das wohl einmalig. Aber andere Länder etwa in Asien kanalisieren kulturelle und sprachliche Vielfalt ebenfalls. Das subtilste Modell stellt Singapur dar. Dort wird sprachliche wie religiöse Vielfalt gezeigt, aber die nationale Einheit stark betont. Diese Domestizierung von Vielfalt steht in der Regel im Kontext der Nationenbildung (nation building). Wenn man, wie verbreitet in Indonesien, der Meinung ist, der Staat sei noch keine kulturelle Einheit oder die Nation könnte gar zerfallen, dann muss die Einheit im Land stark gemacht werden. Das geht dann einher damit, die Unterschiede zu Nachbarnationen zu betonen. Neben Sprache ist da Religion ein nützliches Mittel.
MIZ: Geht die friedliche Koexistenz von Religionen eigentlich immer auf Interventionen der politischen Ebene zurück oder kennst du auch Formen von Religiosität, die aus sich heraus religiös-weltanschauliche Toleranz entstehen lassen?
Christoph Antweiler: Indonesier sind für Toleranz bekannt und das gilt grundsätzlich auch in Glaubensdingen. Toleranz gibt es sehr verbreitet auf der Ebene des Alltags, der ganz normalen Menschen. Sobald aber Religion institutionalisiert wird, werden die Unterschiede betont und die Toleranz nimmt ab. Religion wird dann oft soweit funktionalisiert, dass auch im Alltag Intoleranz und Feindschaft und manchmal auch Gewalt entstehen.

Seit den 1980er Jahren gibt es in Indonesien aber verstärkte Tendenzen einer Islamisierung. Gewaltsame Kon­flikte sind aufs ganze Land betrachtet selten, aber nicht zu übersehen. Zwischen 1999 und 2002 kamen auf den Molukken in Ostindonesien und in Zentral-Sulawesi Tausende vor allem bei Kämpfen zwischen christlichen und islamischen Religionsgruppen ums Leben. Hierbei kam es oft zu Gewalt zwischen Menschen, die Jahrzehnte lang friedlich nebeneinander gelebt hatten. Dahinter stehen oft Konflikte, die religiös ausgetragen werden, faktisch aber wirtschaftliche Ursachen haben oder aus politischen Interessen geschürt werden.

MIZ: Vor 25 Jahren gab es in der MIZ einen Aufsatz, in dem der Autor zu dem Fazit kam, der Atheismus habe das Land „bislang nur als Gerücht erreicht“. Hat sich das mittlerweile geändert?
Christoph Antweiler: Kaum. In Indonesien sind meiner Erfahrung nach fast alle Menschen religiös. Das liegt auch daran, dass es ungeschickt bis gefährlich wäre, sich als ungläubig zu zeigen. Etwa so gefährlich wie sich als jüdisch oder als schwul zu outen. Es ist kaum übertrieben, dass selbst Menschen, die sich (nur im Zweiergespräch) als „Atheisten“ bezeichnen, doch als religiös erscheinen, etwa, wenn man über Menschenrechte diskutiert. Für mich als Ethnologen und komplett Ungläubigem ist das manchmal eine Herausforderung. Ich möchte Respekt zeigen, aber gleichzeitig eine eigene nichtreligiöse Haltung haben.
MIZ: Vor diesem Hintergrund: Ist Reli­gion dann doch sowas wie eine anthropologische Konstante? Und die Entwicklung der letzten 200 Jahre in Europa ein vorübergehender Aus­nahmezustand?
Christoph Antweiler: Religiosität ist ein menschliches Universal, also in allen Gesellschaften regelmäßig zu finden. Sie ist aber keine „anthropologische Konstante“, die dann ja auch für jedes Individuum gelten würde. Religion ist in allen Gesellschaften zu finden, ändert sich aber immer wieder stark und in vielen Ländern nimmt explizite Religiosität ab und spirituelle Orientierungen nehmen zu.
MIZ: In Indonesien gibt es einige Formen synkretistischer Religiosität. Nach meinem Eindruck tritt dieses Phänomen zunehmend häufiger auf, je kleiner die Welt durch die Globalisierung wird und je marktförmiger eine Gesellschaft organisiert ist. Könnte das ein kommender Trend sein oder sind die religiösen Hierarchien noch mächtig genug, ihre Exklusivitätsansprüche zu verteidigen?
Christoph Antweiler: Religiöse Misch­formen, religiöser Synkretismus, hat in Indonesien eine lange Tradition. So bekennen sich zum Beispiel die Menschen in Java, der kulturell zentralen Insel des Landes, mehrheitlich zum Islam. Sie glauben dabei aber auch an Geister und andere Kräfte, die den uns hier bekannten Formen des Islams fremd sind. Das ist typisch für viele Weltgegenden, wo die tatsächlich praktizierte Religiosität unordentlich ist, eben unorthodox. Was Menschen tatsächlich religiös glauben und tun, passt oft nicht in die einfachen Religionskategorien.
MIZ: Ich danke für das Gespräch.
Christoph Antweiler: Ich danke für die interessanten Fragen!