Prisma | Veröffentlicht in MIZ 4/22 | Geschrieben von Lea Martin

Wut auf alles, was weiblich ist

Literarisches Psychogramm eines Terroranschlags

Koran-Verse haben mir gerade noch gefehlt, denke ich, als ich anfange zu lesen. Dann verstehe ich, dass der Protagonist sich mit ihnen tröstet. Er sitzt im Gefängnis, wo er gefoltert wird. Zögernd bekomme ich Mitleid mit dem jungen Mann, der sich an seiner Religion festhält, um unter der mörderischen Folter nicht seinen Freund zu verraten.

Wie das Buch beginnt, geht es weiter. Der zweite Abschnitt erzählt von einer jungen Frau, die nach dem Tod ihrer Mutter verkauft wird. Sie ist sieben Jahre alt, als ihr neuer Besitzer sie vergewaltigt. „Erst sprach er ein paar Verse aus dem Koran, dann vergewaltigte er mich.“ Die gleichaltrige Tochter des Hauses wird so etwas wie eine Freundin. Im dritten Abschnitt fangen wir aus Leilas Perspektive an zu verstehen, dass der junge Mann im Gefängnis ihr Bruder ist. Wir lernen, dass auch der Prophet Mohammed eine siebenjährige Frau geehelicht hat. Die Familie, in die wir Einblick erhalten, findet das normal. Zwar hasst die Ehefrau das Kind genauso wie die erwachsenen Frauen, die ihr Mann sich nimmt. Seine Mutter findet, das sei besser, als dass er in den Puff geht.

Thema des Romans ist Gewalt gegen Frauen, ist die Gewalt des Vaters, des Bruders gegen die Schwester, und die Liebe der Schwestern, die dieser Gewalt ohnmächtig ausgeliefert sind, weil die Mütter zu schwach sind, um sie zu schützen. Der Schulbesuch wird vom Vater verboten, die kurdische Lehrerin verhaftet und hingerichtet, die »satanische« Lektüre, darunter Der kleine Prinz von Antoine Saint-Exupéry, im Hof verbrannt. Die Gewalt ist nicht auf syrische Frauen begrenzt. Die Mutter der kurdischen Lehrerin wurde von ihrem Mann verstoßen, weil sie sich seinem Regime nicht beugen wollte. Der persische Geliebte von Leila wird getötet, weil er der Sklavin zur Flucht verhilft. Sein Vater wurde im Iran ermordet, weil er als Wissenschaftler nicht religiös war.
Woher rührt die Wut auf Weiblich­keit? Dieses Thema verfolgt die aus dem Iran stammende Schriftstellerin Noshin Shahrokhi in ihrem auf Deutsch geschriebenen Roman. Er spannt einen weiten Bogen aus dem Innenleben einer streng religiösen islamischen Familie in Damaskus, die 2015 vom Krieg außer Landes getrieben wird, zu einem Terroranschlag auf die westliche Kultur. „Ich denke, dass der Bürgerkrieg, noch bevor er im Land existierte, in meiner Familie begann“, überlegt der männliche Held, mit dem wir uns eingangs identifiziert haben und der vor unseren Augen zum Vergewaltiger, Mörder und Terroristen wird. Wir erhalten einen tiefen Einblick in die Köpfe derjenigen, die als Geflüchtete bezeichnet werden. „Jetzt haben die Deutschen ein neues Wort für Flüchtlinge erfunden: Geflüchtete, was bedeuten soll, dass die Flucht ein Ende hat. Aber es wurde nur das Wort geändert und nicht der Umgang mit uns.“
Die Autorin macht aus ihrem Stoff keinen Krimi, keinen Thriller, sondern legt ein Psycho-Drama bloß, das in einen Terroranschlag mündet. Die Innensicht der verschiedenen Perspektiven gleicht einem Kammerspiel, das im letzten Akt explodiert. Eine Gegenbewegung wird in der vierten Perspektive durch die Figur des Musikers Barbad gezeigt, dessen Gedanken an den tiefgründigen Reichtum der östlichen Poesie von Dichtern und Philosophen erinnern. Im Spannungsfeld der vier Perspektiven, die wie die Himmelsrichtungen das Universum zwischen Gut und Böse menschlichen Handelns definieren, leuchtet der Roman die häusliche Atmosphäre brutaler patriarchaler Gewalt aus, die sich gegen alles richtet, was weiblich ist. Leila heißt nicht zufällig wie die Heldin der tragischen arabischen Liebesgeschichte aus dem 7. Jahrhundert, sondern erleidet ebenfalls eine Tragödie. Auch ihr jüngerer Bruder Majid, dessen Name dem des legendären Geliebten „Madschnun“ ähnelt, gerät ins Visier der Gewalt. Nach ihrer Befreiung ist es die frühere Sklavin Raihana, die Verantwortung für die Zukunft übernimmt: „Ich sollte an die Kinder denken, die in häuslicher oder gesellschaftlicher Gewalt eingesperrt sind oder auch die Frauen, die keine Wahl, keine Stimme, und vor allem keine Rechte haben. Ich sollte für sie eine Stimme werden.“
Während der Roman einen vierstimmigen Chor aus zwei Männer-, zwei Frauenstimmen komponiert, bekennt er sich gleichzeitig klar zu den Unterdrückten. Die Imame sind die Verbrecher im Hintergrund. Der Selbstmord von Leila wird ausgelöst durch die versuchte Vergewaltigung der Haupt-Erzählerin Raihana durch einen Imam, die diesem Gewaltakt entkommt. Die Schuldgefühle, für den Tod des jungen Paars verantwortlich zu sein, trägt sie ab, indem sie von ihnen erzählt und sie so wieder ins Leben holt. Der Freiheitsdurst der Frauen und die patriarchale Wut auf alles Weibliche sind die beiden Stränge, aus denen sich das literarische Psychogramm eines Terrors ergibt, der in Deutschland explodiert. Der Osten wird zum Symbol eines verlorenen Paradieses, in dem Männer noch etwas galten und Frauen keine Huren waren. Die Wut auf den Westen rührt aus der Wut auf alles Weibliche. Diese Wut wird bewusst geschürt.
Dass es der Autorin gelingt, den Schmerz spürbar zu machen, der sich hinter der gewaltsamen Abwertung alles Weiblichen verbirgt, ohne die Gewaltakte zu bagatellisieren, ist die entscheidende Stärke dieses Romans. Trotz drastischer Gewaltszenen gibt es keine Sensationslust, keine Porno­grafie. In den Gedanken von Yasin liegen Zärtlichkeit und brutale Gewalt erstaunlich realistisch nebeneinander. Plausibel wird gezeigt, wie es diesem jungen Mann, der im Gefängnis gefoltert wurde, nicht gelingt, der eskalierenden Gewalt in seiner Familie anders als ebenfalls durch Gewalt zu begegnen. Dass seine Schwester vor ihrem Selbstmord mit blutender Hand „Mörder“ an die Wand ihres Zimmers schreibt, löst in ihm Hass auf alles aus, was ihn an sie erinnern könnte: Musiker, Schwule, westliche Frauen. Die Feindbilder, mit denen er vollgestopft ist, lassen ihn auch in Deutschland zum Vergewaltiger werden: „Eine Deutsche hatte ich noch nie!“
Noshin Shahrokhi, die in Deutsch­land Germanistik studiert hat, legt die Abgründe sozialen Miteinanders ebenso nüchtern wie engagiert frei. Sie beherrscht die Klaviatur des Spiels mit Identifikation und Verfremdung und bewahrt ihre LeserInnen vor literarischer Manipulation. Dieses Buch fesselt nicht, sondern setzt frei. Eine besonders berührende Szene beschreibt, wie die Erzählerin Raihana am Ende des Romans mit ihrem achtjährigen Sohn in das Flüchtlingslager zurückfährt, wo sie den Kontakt zu seinem Vater verlor. Der Sohn gibt ihr die Kraft, sich ihrer Trauer zu stellen und von der Zukunft zu träumen. Es ist eine große Wahrhaftigkeit in den Erzählungen, die der Roman miteinander verflicht. Die Sprache ist schlicht und von erfrischender Direktheit, insbesondere in Hinblick auf Körperlichkeit und Sexualität. Der Roman führt in Gegenden, in die man sich nicht begeben möchte, doch er tut es auf ermutigende Art und endet mit einem Leben in Freiheit und der Sehnsucht nach Liebe. Beides zu zeigen: den Sieg des Bösen, und die Stärke der Liebe, macht den Roman zu einem Ereignis.

Noshin Shahrokhi: So leicht kommst du nicht ins Paradies, 408 Seiten, gebunden, Alibri Verlag, 2021, ISBN 978-3-86569-318-1