Schwerpunktthema | Veröffentlicht in MIZ 1/16 | Geschrieben von Gunnar Schedel

Doppelte Ausgrenzungserfahrung

Wenn heute über Flucht nachgedacht, geschrieben oder diskutiert wird, geht es meist um die großen Flüchtlingsströme, um Regionen, in denen Krieg herrscht oder Warlords und Milizen die Menschen terrorisieren. Im Zentrum der Aufmerksamkeit steht derzeit Syrien, doch auch im Irak, in Zentralafrika oder Afghanistan bestimmt Gewalt das alltägliche Leben; hinzu kommen unzähligen kleinere Konfliktherde. Es sind Millionen von Menschen, die dort auf der Flucht sind,1 Tendenz steigend.

Neben diesen „großen“ Flucht­ursachen, denen sich niemand entziehen kann, gibt es aber auch individuelle Fluchtgründe. Sie bringen Menschen dazu, Gegenden zu verlassen, in denen sich eigentlich ganz gut leben ließe.
Zum Beispiel Frauen. Die Aussicht, nie ein selbstbestimmtes Leben führen zu können, immer von männlichen Verwandten abhängig zu sein, schon als Jugendliche zu wissen, welche Erwartungshaltung die nächsten 60 Jahre zu erfüllen sein wird, veranlasst Frauen zur Flucht. Zur Flucht aus einem konventionellen Leben.
Zum Beispiel Schwule. In vielen Ländern steht (vor allem männliche) gelebte Homosexualität unter Strafe. Doch auch wo keine Strafverfolgung droht, sehen sich Schwule oft hohem gesellschaftlichen Druck bis hin zu gewalttätigen Übergriffen ausgesetzt. Sie fliehen, um sich nicht ein Leben lang verstellen zu müssen.2
Zum Beispiel Atheistinnen und Athe­isten. Unglauben offen zu bekennen, ist insbesondere in der islamischen Welt kaum möglich. Oft setzt der Konformitätsdruck schon ein, wenn Menschen in ihrer alltäglichen Lebensweise mangelndes religiöses Interesse erkennen lassen. Selbst das Eintreten für religiöse Toleranz oder eine säkular ausgerichtete Politik wird von konservativen Kreisen als Zeichen für Unglauben gewertet und entsprechend sanktioniert. Die Betroffenen fliehen, um nicht ständig einen Glauben bekennen zu müssen, an dem sie zweifeln oder dem sie längst „abgeschworen“ haben.
Gemeinsam ist diesen Gruppen, dass ihr Verhalten von gesellschaftlichen Normen abweicht. Beziehungsweise abweichen würde, wenn es denn geduldet würde. Doch die konservativen Kräfte sorgen dafür, dass Frauen, Schwule, Atheisten und zahlreiche andere „Dissidenten“ in Gegenden, in denen es sich eigentlich gut leben ließe, eben nicht gut und oft auch überhaupt nicht leben können.
Eine ganz zentrale Ursache dafür ist in der Religion zu suchen. Sie lässt sich nicht nur gegen Ungläubige in Stellung bringen, sondern liefert Traditionalisten und Fundamentalisten auch Begründungen, warum die Frau in der Gesellschaft am besten zu schweigen habe und warum Homosexuelle die Ordnung der Dinge stören (oder eine Gefahr für die Jugend darstellen). Auch wenn Patriarchat und Homophobie nicht allein in der Religion begründet sind, fällt es deutlich schwerer, sie zu beseitigen, wenn ihre Befürworter sich auf Bibel oder Koran berufen. Denn so kann jede gesellschaftliche Veränderung zum Angriff auf die gottgebene Ordnung erklärt werden – ein 
bei Konservativen sehr beliebtes Ver­fahren der Kritikimmunisierung (das für die Betroffenen das zusätzliche Problem birgt, dass die zu erwartende Strafe höher ausfällt und manchmal vom gottesfürchtigen Mob auch gleich selbst vollstreckt wird).
Wer sich angesichts solcher Lebens­umstände nach Europa aufmacht, hofft wohl in der Regel darauf, zukünftig selbstbestimmt und authentisch leben zu können. Diese Hoffnung ist auch nicht unbegründet, denn tatsächlich haben, um bei den genannten Beispielen zu bleiben, Frauen, Homosexuelle und Ungläubige in den meisten europäischen Staaten größere Freiräume als, beispielsweise, in der arabischen Welt. Uneingeschränkt gilt dies freilich nicht, da es auch in Europa Kräfte gibt, die Frauenemanzipation, sexuelle Selbstbestimmung und Welt­anschauungsfreiheit ablehnen.
Viel frustrierender ist für diese Flüchtlinge jedoch die Erfahrung, erneut „anders“ zu sein. Ausgegrenzt werden sie nun nicht mehr aufgrund ihrer sexuellen Identität oder Weltanschauung, sondern, ganz pauschal, als Zugewanderte. Schlimmer noch: Konnten sie sich in ihrem Heimatland verstellen und Sanktionen somit entgehen, entfällt diese Möglichkeit nun; ihr Äußeres und mangelhafte Sprachkenntnisse identifizieren sie als „Fremde“.
Da Flüchtlinge zunächst in Lagern untergebracht werden, kommt ein weiteres Problem hinzu: Die dort lebenden Menschen bilden in etwa den sozialen und ideologischen Querschnitt des Landes ab, aus dem sie geflohen sind. Sprich: In der Regel bringen sie ihre homophoben usw. Einstellungen von „zuhause“ mit und dementsprechend gestaltet sich die Atmosphäre in den Lagern – davon berichten gleich mehrere unserer Beiträge.
Und schließlich ist nicht einmal gesichert, dass diese Menschen, zum Beispiel in Deutschland, Asyl erhalten. Denn sie müssen nachweisen, dass sie in ihrem Herkunftsland verfolgt wurden bzw. ein Merkmal haben, das im betreffenden Land Verfolgung nach sich zieht. Anders als politisch Verfolgten, die auf die Mitgliedschaft in einer Partei oder die Teilnahme an Protestaktionen verweisen können, fällt dies Homosexuellen oder Atheisten schwerer, da sie diesen Teil ihrer Identität ja verborgen hatten. Die Behörden unterstellen immer wieder, dass der vorgebrachte Asylgrund nur vorgeschoben sei.
Selbst gegen eine solche ungerechte Behandlung vorzugehen, stößt auf Hindernisse. Denn häufig wird zunächst in der Lager-Community über derartige Vorkommnisse kommuniziert, bevor diese nach außen dringen und Leute, die Flüchtlinge unterstützen und die rechtlichen Möglichkeiten besser kennen, sich der Sache annehmen. Für „Dissidenten“ ist es hingegen manchmal unmögllich, jenen ersten Schritt zu gehen. Dass sie, mehrfach diskriminiert, nicht ungehört bleiben, müsste eine Aufgabe säkularer Flüchtlingspolitik sein.

Anmerkungen

1 Das UNO-Flüchtlingshilfswerk spricht für 2015 von knapp 60 Millionen Betroffenen, 86% davon leben in Entwicklungsländern. www.uno-fluechtlingshilfe.de/fluechtlinge/zahlen-fakten.html (Zugriff: 12.4.2016)
2 Der Druck trifft sogar Männer, die nicht homosexuell sind, aber Verhaltensweisen an den Tag legen, die als „schwul“ angesehen werden. Ein aktuelles Beispiel dafür bietet die Autobiografie von Yosef Şimşek (Riverfield, 2016).