„Mir geht es um kritische Aufklärung. Sie ist [...] wichtiger als alles. Und darum wird sie auch mehr als alles gehasst, bekämpft, totgeschwiegen und totgetreten. Warum wichtiger als alles? Weil sie alles brandmarkt, was – nicht erst heute – die Welt terrorisiert und verelendet: Krieg, Ausbeutung, Hunger, Verdummung und grenzenlose Heuchelei, von oben bis unten, oben aber vor allem! Für nichts auf der Welt, nicht mal für Rüstung, für ihre Ruinierung, wird so viel Geld verplempert wie für ihre Verdummung. Lauter Themen, Hauptthemen meiner“ – ich füge hinzu: – Schriften.
Auf Sie, Herr Deschner, anlässlich Ihres 80. Geburtstags eine Laudatio zu halten, ist fast schon absurd. Weniger, weil Sie als Preisträger der für Aufklärungsengagierte hierzulande wohl wichtigsten Preise und anlässlich Ihres 70. Geburtstags bereits sechs beeindruckende Laudationes anzuhören das Vergnügen hatten – was bleibt da noch an Neuem präsentierbar? –, sondern aus einem formalen und inhaltlichen Grund. Mit „Laudatio“ ist ja eine feierliche Lobrede gemeint, „in der die Leistungen und Verdienste eines Menschen, der geehrt wird, gewürdigt werden“. Das setzt voraus, dass der Laudator dazu berechtigt ist. Schon in dieser Hinsicht kann ich Ihr Laudator kaum sein.
Entscheidend jedoch: Loben ist Anbiederung von ‘oben herab’ oder, um Nietzsche zu paraphrasieren, „im Lobe ist“ noch „mehr Zudringlichkeit, als“ selbst „im Tadel“.
Doch eine antike Nebenbedeutung von „Laudatio“ als „Dankadresse, die die Bewohner einer römischen Provinz als Zeichen ihrer Zufriedenheit mit der Verwaltung eines Statthalters in Form eines lobenden Berichtes an den Senat in Rom durch Gesandte [...] schickten“, half mir aus der Falle.
So überbringe ich Ihnen nun „eine Dankadresse“. Inhalt und Schwerpunkte meines lobenden Berichts über Sie an Sie sind durch das eröffnende Zitat gesetzt: ich danke Ihnen als selbst- und zumal religionskritischem Aufklärer und Ermutiger zumindest für Aufklärer, da ich Ihr Œuvre und Ihr Leben primär aus dieser Perspektive verstehe und die Konsequenz Ihres Vorgehens als Schriftsteller bewundere; natürlich im Wissen, dass Sie zu fast allem, was ich nun formuliere, einen Ihrer Aphorismen als Fragezeichen beifügen könnten.
Ich gliedere meinen genetisch strukturierten Dank in
I. Das was war,
II. Das was mittlerweile ist,
III. Das was vermutlich bleibt, und ich schließe
IV. mit vier unfrommen Wünschen.
I. Das was war
Was waren (die) entscheidende(n) Stimuli Ihrer Entwicklung und Ihres Werks? Ich weiß es nicht; kann nur aus langjähriger Lektüre gewonnene Vermutungen skizzieren. Evident erscheint, dass Sie anders als die meisten Ihrer Altersgenossen vermocht haben, Ihr Entsetzen und Ihre Empörung über Ihre Erfahrungen zumal während des Zweiten Weltkriegs schon in Ihrer faszinierenden Würzburger Dissertation von 1951, Lenaus metaphysische Verzweiflung und ihr lyrischer Ausdruck, sowie in Ihren Romanen früh hochrangig zu artikulieren, damit produktiv zu machen und in ungebrochener und unkorrumpierter Kontinuität nunmehr ein halbes Jahrhundert lang in konsequenter Ausweitung auf die jeweils primär relevanten Gegenstandsfelder mit strategischem Blick umzusetzen:
„Dass ich vor 40 Jahren schon dachte, was ich heute denke“, schrieben Sie vor 10 Jahren, denn: „Mein ganzes Leben stand ich auf Seiten der Erniedrigten, Beleidigten. Und keinen Augenblick auf der des Gegenteils.“
So gelang es Ihnen, Ihre immense Sensibilität in Transformation Ihrer ursprünglichen Jagdleidenschaft zunehmend mit Ihrer analytischen Kraft, Ihrem kritischen Scharfblick, Ihrer artistischen Kreativität, Ihrer außergewöhnlichen Arbeitskraft sowie -bereitschaft und Ihrer schriftstellerischen Potenz so integrieren, dass Sie zu Leistungen (‘Synergieeffekten’) fähig wurden, von denen wohl Sie selbst kaum zu träumen wagten; und für die noch Generationen zu danken haben.
So haben Sie sich schon früh einen Namen als ein eigene Erfahrungen in exemplarischer Weise gestaltender Romanautor gemacht, da Sie Subjektivität in Intersubjektivität zu transformieren vermochten, persönliche Gefährdungen jedoch noch keineswegs gebannt erschienen. So lässt Die Nacht steht um mein Haus, 1956, nur allzu verständliche Gefahren – „Je größer die Hellsicht, desto tiefer die Nacht“ –, von Melancholie, Resignation oder Verzweiflung angesichts nahezu durchgängiger Borniertheit und Verklebtheit der Gehirne oder berserkerhafter literarischer Amokläufe ahnen.
Doch Sie haben schon früh als Verdummungsjäger und Verlogenheitenaufspürer die erwähnte Konzentration Ihrer Kräfte und Fähigkeiten erarbeitet und erreicht: zuerst in Weiterführung Ihrer Lenauinterpretation als literaturwissenschaftlicher Kritiker, beginnend mit Kitsch, Konvention und Kunst, einem nicht nur für mich augenöffnenden Werk, in welchem Sie die Literaturkritik in den dumpfen 1950er Jahren vielleicht stärker stimuliert und vor allem Jüngeren subtilere Lektüreperspektiven eröffnet haben als ein Fuder literaturwissenschaftlicher Untersuchungen: Dank Ihnen waren Autoren wie Hermann Broch, Hans Henny Jahnn und Robert Musil literarische Maßstäbe geworden und geblieben.
Dann freilich schienen Sie das Terrain gewechselt zu haben, denn wie passte eine kritische Kirchengeschichte wie Abermals krähte der Hahn, 1962, zu Ihren Romanen? Glän zend: zumindest im Sinne einer Hintergrundausleuchtung nicht nur Ihrer eigenen weltanschaulichen Genese; sondern eben auch von Faktoren, die literarische Wertungen der westdeutschen weitestgehend christlich orientierten oder okkupierten medialen Öffentlichkeit bestimmten – Carossa, Bergengruen und Wiechert statt Jahnn und Musil – und deren Ausfall bei den von Ihnen primär geschätzten Autoren evident war. Schließlich war niemand von ihnen Freund oder gar Verherrlicher irgendeiner Form des Christentums. Was die Aufarbeitung von Verlogenheit und Verdummung betraf, gerieten Sie damit freilich vom Regen in den Ozean, denn Christentum bietet Europäern für beides wohl die umfangreichste und differenzierteste Sammlung an Belegen in syn- wie in diachroner Perspektive. Literaturberge waren aufzuarbeiten, um die Einsicht zu belegen, dass sich in der Geschichte von Verlogenheit, Verdummung und Grausamkeit strukturell mehr wiederholt als gemeinhin akzeptiert zu werden scheint; und dass Religion, Politik und Wirtschaft erstaunlich oszillieren.
Dabei erhielten Sie allerdings ermutigende Hilfe: offenbar haben Sie als Schüler und Student ebensowenig wie fast jeder andere von uns von der englischen, französischen oder gar der antiken Aufklärung erfahren. Derlei entdeckt und erarbeitet man sich erst später; wenn überhaupt. Doch früh haben Sie sich dank philosophischer Hilfe von christlichen Prägungen zu befreien vermocht: als Fünfzehnjähriger durch Ihre wohl rauschhafte Lektüre Nietzsches; als Student dann Schopenhauers und „besonders gründlich, Kants“. Diese drei „entrissen“ Sie „geistig, nicht emotional noch, dem Christentum“. Letzteres war im Blick auf die Akzeptabilität Ihrer kritischen Kirchengeschichte vielleicht sogar von Vorteil: wäre sie in vergleichbarer Breite und Intensität rezensiert und rezipiert worden, wenn Ihre Kritik nicht nur theistische Ansprüche Jesu unterlaufen, sondern auch dessen Persönlichkeit bereits ins Fadenkreuz der Kritik genommen hätte? Eines Jesus – si esset –, der, hätte er nur Spuren prognostischer Potenz und von Göttlichkeit besessen, in Kenntnis seitheriger in seinem Namen inszenierter Heilsgeschichte wohl eiligst diesen Trabanten verlassen hätte; in einem letzten Liebesakt Saulus gleich mit im Gefolge. Der Menschheit wäre wohl viel erspart geblieben; und in den vergangenen Jahrhunderten hätte eine gaiaphile Ethik längst erarbeitet und praktiziert werden können, die ja noch heute fehlt ...
Doch warum sind Sie nicht – als „Student beharrlich Autodidakt“ – zur Philosophie gewechselt, deren kritischer Mini-Fraktion Sie dank Ihrer Begabung noch größere Dienste hätten leisten können? Weil Sie als Autodidakt unabhängiger sein konnten und / oder weil Sie damals schon bemerkt hatten, dass christliche Denkbremsen, -verbiegungen und leider auch -korruptionen die abendländische Philosophieentwicklung ebenso wie die Interpretation der Texte derjenigen Autoren, die dennoch auszubrechen vermochten, in so hohem Maße bestimm(t)en, dass ein „ad fontes“ selbst im Blick auf Philosophie auch noch dann Christentumskritik bedeutet, wenn man die Entwicklung antiken Denkens vor allem des 6. und 5. Jahrhunderts vor unserer glorreichen Zeitrechnung nicht ausklammert? Nicht nur für Deutschland ist die „Kritik der Religion“ wie insbesondere des Christentums und aller seitherigen Fundamentalismen jedenfalls noch längst nicht „beendigt“.
II. Das was mittlerweile ist
Damit komme ich zu dem, was mittlerweile ist. Sie und nicht irgendein Filigraninterpret sind der kompetenteste Christentumskritiker des 20. Jahrhunderts: denn Christentum war und ist kein System, keine Einheit, sondern ein amorphes Ensemble und an Heterogenität sowie Assimilationsfähigkeit schwer überbietbares Konglomerat in seiner Geschichte, als Legitimationsinstanz ebenso wie als Profiteur trotz zahlreicher menschlich wertvollster Mitglieder eher auf unterer Ebene leider verquickt mit einer Vielzahl politischer Schandtaten, ja Schurkenstücken der vergangenen nahezu 20 Jahrhunderte. Nicht nur Hitler, selbst noch Stalin hatte seine Feldpopen. Zur Christentumskritik gehört die Berücksichtigung der Geschichte; sonst bleibt sie meist oberflächlich. Doch bleibt sie es nicht, erfordert sie im Sinne einer Lebensaufgabe fast die Aufgabe des eigenen Lebens. So bedeutete das Erweitern der Zeitperspektive Ihrer Kritischen Kirchengeschichte die Ausarbeitung einer Verbrechens-, Verbrecher- und zumal Opfergeschichte – kurz: Kriminalgeschichte – als Gegenbilanz der üblichen Verherrlichungen des Christentums. In den erschienenen acht Bänden haben Sie nun das 16. Jahrhundert erreicht. Christinnen, die Novenen veranstalten, damit Sie Ihren Écrasez-l’infâme-Dekalog aus biophiler Perspektive vollenden, schließen sich unsere Wünsche an. „Biophile Perspektive“ meint, dass Sie nicht ausschließlich aus einer lediglich menschliche Interessen berücksichtigenden Sichtweise Ihre Kritik ansetzen – so vorrangig diese bleibt –, sondern das spezifisch christliche Missverhältnis zu außermenschlichem Leben, selbst zu uns näher verwandten so genannten ‘Nutztieren’, und darüber hinaus die sich noch in vielfacher Kaschierung inszenierenden Formen des Supranaturalismus – genauer: jenseitsfixierter Welt- und Freudenvermiesung samt deren ruinösen Folgen – ins Fadenkreuz Ihrer Kritik nahmen.
Christentumskritik jedenfalls hat viele Facetten, bedarf differenzierender Multiperspektivität. Bestimmte Schwerpunktthemen sind abzuhandeln. Sie haben dies in zahlreichen Arbeiten getan: konsequenzenreich und epochemachend vor allem Ihre Sexualgeschichte des Christentums Das Kreuz mit der Kirche, 1974, und die dogmenkritische Arbeit Der manipulierte Glaube, 1971. Die geistige Ehrenlegion wesentlicher Kritiker des Christentums, in die Sie schon längst aufgenommen sind, war auch hierzulande zumindest mit knappen Textauszügen und im Zusammenhang zu präsentieren: Sie haben sich dieser Mühe in Das Christentum im Urteil seiner Gegner, 1969 und 1971, in beeindruckender Manier unterzogen: 49 Persönlichkeiten sind dokumentiert von Kelsos, Porphyrios und Kaiser Julian über Goethe, Feuerbach und Nietzsche bis Russell und Gerhard Szczesny, dem wir Die Zukunft des Unglaubens, die Gründung der Humanistischen Union und die Bände des Club Voltaire, Jahrbuch für kritische Aufklärung, zu verdanken haben (gerade letzteres dürfte zum aufklärungsfreundlichen Zwischenhoch der späten 60er Jahre in der alten BRD einen erheblichen Beitrag geleistet haben).
Schließlich ist im Sinne einer historischen Zangenstrategie angesichts der Tatsache, dass Sie die Kriminalgeschichte des Christentums beginnend mit drei allein der Antike gewidmeten voluminösen Bänden aufarbeiteten, einerseits das segensreiche christliche Wirken in jüngster Vergangenheit und andererseits einer sich als christlich firmierenden Weltmacht zu thematisieren: auch dieser Arbeitsaufgabe haben Sie sich längst gestellt und sie mit den beiden Bänden Ein Jahrhundert Heilsgeschichte. Die Politik der Päpste im Zeitalter der Weltkriege sowie Der Moloch: „Sprecht sanft und tragt immer einen Knüppel bei euch!“ Zur Amerikanisierung der Welt abgeschlossen; und: Sie haben Ihre eigene Sichtweise nicht nur nicht verheimlicht, sondern in einem meiner Lieblingstexte, Ihrem Essay Warum ich Agnostiker bin, zur Diskussion gestellt.
Dass Sie sich schon früh den Schwerpunkten Jesusforschung, der Faschismusgeneigtheit der katholischen Kirche und dem Dauerthema Kirche und Krieg zuwandten sowie auch die Literaturkritik von Talente, Dichter, Dilettanten bis „sub specie amoris“ Musik des Vergessens. Über Landschaft, Leben und Tod im Hauptwerk Hans Henny Jahnns nicht vernachlässigten, bedürfte einer gründlicheren Würdigung als purer Auflistung.
Nehme ich noch Ihre faszinierenden Landschaftsskizzen zumal über Franken, die drei Aphorismenbände und die erfreulicherweise auch als Taschenbücher lieferbaren Sammelbände Ihrer kürzeren kritischen Arbeiten Opus diaboli und Oben ohne hinzu, so verfügen Sie längst über ein Œuvre, das Autoren schon dann mit Stolz erfüllen müsste, wenn sie nur jeden dritten der von Ihnen veröffentlichten Bände vorgelegt hätten.
Dennoch darf ich etwas für Sie und Ihre Arbeit sehr Charakteristisches nicht übergehen: Sie haben schon als sehr junger Autor eine Art von Integrationsfunktion einschließlich der damit verbundenen Arbeit übernommen, um kritische Themen möglichst multiperspektivisch in die Öffentlichkeit zu bringen und dank jeweils einiger illustrer Beiträger einerseits Rezensionsbreite und öffentliche Wahrnehmbarkeit und andererseits ein öffentliches Vorstellen zuvor vergleichsweise unbekannter kritischer Köpfe zu erzielen: in Ihren 10 Sammelbänden. Wiederum kann ich nur auflisten, wenngleich: welch’ listige Liste: Was halten Sie vom Christentum? 18 Antworten auf eine Umfrage; Jesusbilder in theologischer Sicht; Warum ich aus der Kirche ausgetreten bin; Warum ich Christ / Atheist / Agnostiker bin und Das Christentum im Urteil seiner Gegner mit nicht weniger als 30 Beiträgern; Das Jahrhundert der Barbarei; Wer lehrt an deutschen Universitäten; Kirche und Krieg und als Nachzügler Woran ich glaube mit sogar 47 Beiträgern.
Schließlich ein besonderer Freundschaftsdienst: um Robert Mächler zu würdigen, haben Sie mit Zwischen Kniefall und Verdammung eine Auswahl aus dessen fulminantem religions- und kirchenkritischen Werk herausgegeben, und mit einem umfangreichen Vorwort versehen; so wie Sie ja – um nur ein weiteres Beispiel zu nennen – auch bei aller Konzentration auf Ihre Kriminalgeschichte dem Handbuch für konfessionslose Lehrer, Eltern und Schüler. Das Beispiel Bayern mit „Wir brauchen keine Menschen, die denken können ... oder: Dicke Finsternis ruht über dem Lande“ ein wichtiges Vorwort beigesteuert haben. Danke!
Was zeichnet Ihre Schriften nun insgesamt aus? Darauf kann es kaum nur eine Antwort geben, doch nach meinem Eindruck ist es vor allem dieses: in langjährigem Training der Bündelung und Potenzierung Ihrer so breitgefächerten Kompetenzen und in Konzentration Ihrer analytischen und literarischen Fähigkeiten haben Sie eine Art kritischen Brennglaseffekts erreicht, der Ihnen mittlerweile Millionen Leser eintrug, weil Sie mit diesem Brennglaseffekt ebenso Legitimationen von Krieg, Ausbeutung und Hunger wie Formen sowie Legitimationen von Verdummung, Grausamkeit und grenzenloser Heuchelei in einer Weise zu entlarven, zu destruieren und intellektuell zu depotenzieren vermögen, dass in den Köpfen vieler Ihrer Leser – „Licht ist meine Lieblingsfarbe“ – tradierte ebenso wie neu kreierte Formen von Volksverdummung lautlos implodierten. Nicht nur in dieser Hinsicht sind Sie Aufklärer par excellence; und wohl einer der erfolgreichsten und wichtigsten der letzten Jahrzehnte. Wenngleich immer auch mit Fragezeichen.
III. Das was bleibt
Frage ich nach dem, was bleibt, so wage ich eine Prognose und bewege mich im Bereich von Spekulation. Doch vorausgesetzt, Verdummung lässt sich zumindest partiell inhibieren, müssten bleiben:
1. Ihre Aphorismen,
2. Ihre Kritiken des Christentums,
3. der Kultur- und Politikkritiker als moralische Institution und
4. der Mensch Karlheinz Deschner als aufklärungsskeptischer, religions‑ und selbstkritischer Aufklärer, Mutmacher und damit als zentrales Glied in der wohl wichtigsten Kontinuitätslinie abendländischer Identität.
1. Ihre Aphorismen haben in meinem Dank bisher nur en passant – als Zitate – eine Rolle gespielt. Zu Unrecht, denn Nur Lebendiges schwimmt gegen den Strom, Ärgernisse und nun Mörder machen Geschichte habe wohl nicht nur ich oft gelesen. Für mich sind Sie innerhalb des deutschen Sprachraums nach Lichtenberg im 18. und Nietzsche im 19. mit Karl Kraus der Aphoristiker des 20. Jahrhunderts, der außerdem auch gegenwärtig Zeichen setzt. So wenden Sie sich in Serien argumentativer aphoristischer Blattschüsse zwar nur an wenige Denkende, denn „Geist ist nicht mehrheitsfähig“, da Sie unkonventionelles Mit- ebenso wie Weiter- und Gegendenken zu provozieren suchen, doch als Gedankenkomprimate und -kondensate sind Ihre Aphorismen in hohem Maße zeitlos. Viele werden wohl solange bleiben, solange subtiles Denken in differenzierter deutscher Sprache noch Interesse findet.
2. Nicht ganz so leicht fällt mir, im Blick auf Ihre christentumskritischen Arbeiten langfristig zu prognostizieren, denn hier steht ja noch Entscheidendes aus. Dass bereits Ihre 8 Bände Kriminalgeschichte noch für Jahrzehnte als Standardwerk genetischer Christentumskritik am Beispiel primär des Katholizismus gelten werden, ist als Prognose kaum riskant. Angesichts der Gegenwarts- und allenfalls Nahvergangenheitsfixiertheit selbst der meisten kritischeren Zeitgenossen dürften Prestige und künftige Präsenz der Kriminalgeschichte jedoch in nicht geringem Maße davon abhängen, ob und in welcher Form Sie den noch offenen Zeitraum vom späten 16. bis ins 20. Jahrhundert darzustellen vermögen. Da diese Jahrhunderte noch mehr als selbst Antike und Mittelalter mit nicht zu übergehenden Ungeheuerlichkeiten gespickt sind, prognostiziere ich bei Beibehaltung des 10-Bände-Schemas zwei seitenstarke Dünndruckbände, wenn die Dekalogprämisse nicht inhaltlich zum atemberaubenden Korsett werden soll. Doch wie auch immer: dass Ihre Kriminalgeschichte in der Weltliteratur schon jetzt einen einmaligen Rang auch als ein selten mutiges sogar deutsches Werk einnimmt, dürfte nicht nur Ihnen bewusst sein; ich komme darauf noch zurück.
Auch Abermals krähte der Hahn und Das Kreuz mit der Kirche dürften noch Jahrzehnte attraktiv bleiben. Und auch andere christentumskritische Arbeiten wie etwa Ihr Teamwork mit Horst Herrmann: Der Anti-Katechismus. 200 Gründe gegen die Kirchen und für die Welt.
Unverzichtbar erscheint mir die Dauerpräsenz Ihrer beiden Sammelbände Das Christentum im Urteil seiner Gegner, deren einbändige Neuausgabe nun auch im Taschenbuch seit vielen Jahren leider vergriffen ist.
3. Noch etwas schwerer fällt mir, im Blick auf den Kultur- und Politikkritiker Prognosen zu wagen, denn: Wer hätte angenommen, dass man 10 – und, wie ich befürchte, auch noch 20 und mehr – Jahre später Der Moloch, 1992, als glänzenden Kommentar politischer Intentionen und Praktiken der größten Weltmacht lesen kann?
„Dass in den USA prozentual mehr Menschen hinter Gittern sitzen als in jedem anderen Land, wäre wohl Rechtens, säßen da die Richtigen.“
Spätestens hier rückt neben dem Werk nun auch dessen Autor in den Vordergrund: Unkorrumpierbarkeit ist bei tiefenscharfem Blick und stilistischer Brillanz eine so seltene Ausnahme unter bekannteren Autoren, dass allein die Tatsache, dass jemand über so viele Jahre aus Aufklärungsperspektive so konsequent, mutig und treffsicher diagnostiziert, aufarbeitet und auch publiziert, dabei aber als Person keineswegs den Eindruck einer selbst- oder weltblinden Büchermaus erweckt, Mut macht und noch auf längere Sicht wache Leser stimulieren dürfte, genauer hinzusehen; und jüngere Autoren, Sie als Vorbild zu schätzen.
4. Nun erst jenseits aller Werkrezeptionsprognosen zu Ihnen ganz persönlich, lieber Herr Deschner, und zu Ihrer Lebensleistung als eines konsequenten tabubrechenden Aufklärers par exellence und als immensen Mutmachers, ja, Vorbilds nicht weniger Aufklärungsorientierter und Adressaten meiner Laudatio im Sinne einer Danksagung.
Dass Ihnen kritische Aufklärung „wichtiger als alles“ ist, leben Sie seit mittlerweile mehr als einem halben Jahrhundert. Das ist wichtig, denn nur für sehr wenige differenzierte Köpfe diskreditieren Lebensformen nicht jedwede Theorie; außerdem gehörten wohl nicht nur für antike Philosophen Theoria und Lebensform zusammen.
Nun zeigt die Geschichte, dass nicht nur kritische (und zumal religions- und christentumskritische) Aufklärung „mehr als alles gehasst, bekämpft, totgeschwiegen und totgetreten“ wird, sondern dass auch Aufklärer selbst diffamiert und gehasst werden, denn seit Menschengedenken diffamiert derjenige, der einem Argument nicht gewachsen ist, den Argumentierenden; und oft genug suchte er – und gelang es leider auch – ihn physisch auszuschalten. Schon deshalb bleibt Zähmung von Herrschaft und Gewalt – insbesondere von Religion und Politik – elementarstes Aufkläreranliegen.
Kommt nun hinzu, dass ein Aufklärer nicht naiv Aufklärer, sondern ein selbstreflektierter und -kritischer, zwischen skeptischen und agnostischen Perspektiven oszillierender Aufklärer ist, jemand, der gegenüber Etikettierungen betont Distanz aufrecht zu erhalten sucht und sich von keiner Seite einbinden lässt, so ist Einzelgängertum programmiert: „Originalität? Mut zu sich selbst – falls es lohnt.“
Angesichts weitestverbreiteter So
zialsucht stimuliert konsequente und selbstbestimmte Eigenorientiertheit,
wenn sie weder querulantisch noch parasitär, sondern in Aufklärungsperspektive hochkarätig ist, diejenige Form einer imitatio philosophiae, die in den wertvollsten Strom abendländischer Identität einmündet, in denjenigen kritischer Aufklärung nämlich. Diese beginnt spätestens mit Thales von Milet und Xenophanes von Kolophon und markiert bereits in der zweiten Hälfte des 5. Jahrhundert vor unserer kuriosen Zeitrechnung – Schimpfworte „Sophistik“ und „Atomistik“ – einen Höhepunkt, der nach meinem Eindruck vor 1277 wohl kaum erreicht und erst vom 17. Jahrhundert an überboten werden konnte. In diesem Strom europäischer Aufklärung, der mit Ihnen und dem winzigen Fähnlein Aufklärer hier im Raum ja nicht endet, haben Sie sich, um in der Metaphorik der römischen Laudatio zu bleiben, ebenso wie Karl Raimund Popper, Gerhard Szczesny, Ernst Topitsch und Hans Albert als Provinzstatthalter seit Jahrzehnten engagiert und bewährt.
Nun aber vielleicht erst zum Eigentlichen, zu Ihrer charakteristischen Leistung und damit Ihrem spezifischen Ort innerhalb der neuzeitlichen europäischen Aufklärungstradition. Als Ihren Schwerpunkt kritischer Aufklärung haben Sie sich die wohl brisanteste Form hierzulande möglicher Religionskritik – Christentumskritik in concreto nämlich – ausgewählt. Das gilt zumal in meiner Disziplin vielerorts als intellektuell anrüchig, da nicht abstrakt und distanziert genug, doch „Philosophiegeschichte ist“ [ich ergänze: neben faszinierenden Leistungen leider auch] „die Geschichte von den Notlügen der Philosophen“. Ich ergänze nochmals: wenn nicht manchmal von noch sehr viel Schlimmerem ...
So ist Christentumskritik in concreto genau diejenige Kritik, die zumindest in einem Lande unabdingbar bleibt, in welchem die grundgesetzlich ‘garantierte’ Trennung von Kirche und Staat seit mehr als einem halben Jahrhundert nahezu allenthalben unterlaufen wird, christliche Großkirchen aus öffentlichen Steuermitteln jährlich mit Milliardenbeträgen subventioniert werden, der Mediensektor im Sinne des Großkirchenschutzes weitestgehend kontrolliert erscheint, Vorschulerziehung ebenso wie Altenheimmarkt trotz öffentlicher Höchstsubventionierung von Religionsgemeinschaften großenteils dominiert werden und Vertretern der Großkirchen ungeachtet deren unglaublicher Geschichte selbst noch in höchsten staatlichen Gremien – Ethikkommissionen! – dank einer Quasi-Vetofunktion das Recht eingeräumt wird, als zentrale moralische Institutionen zu agieren.
Aus Aufklärungsperspektive freilich leisten Sie noch sehr viel mehr: mit Ihrer Kriminalgeschichte lösen Sie nämlich einen jahrhundertealten Aufklärertraum ein, da Sie die ethische Bibelkritik der frühneuzeitlichen Aufklärung nun durch genau dasjenige ergänzen, was weder Pierre Bayle noch Deisten, weder französische, englische oder gar deutsche Aufklärer des 18. Jahrhunderts in aller Klarheit ihren Lesern zu präsentieren vermochten, da diese ja – wenn das nur mehr Interpreten endlich angemessen berücksichtigen würden! – noch im Schatten von Kerker und Galgen zu formulieren hatten: Sie und niemand sonst sind es, der die erste primär ethische detaillierte Kritik der gesamten Geschichte hierzulande dominanter Religionen über einen Zeitraum von nunmehr 2000 Jahren wundersamer Heilsgeschichte im Zusammenhang darzustellen sich entschlossen und in jahrzehntelanger Arbeit zum größten Teil bereits umgesetzt hat. Ein einmaliges Projekt, durch das Sie sich in die Reihe der wichtigen neuzeitlichen Aufklärer eingliedern. So gebührt Ihnen mehr an Dank und Anerkennung, als ich auch im Namen einiger Ihrer Freunde auszusprechen vermag.
IV. Unfromme Wünsche
Schließlich die Wünsche, von denen ich hier nur einige formuliere.
Der Erste: bleiben Sie kritischer Aufklärung noch lange erhalten und genießen Sie in beibehaltener Gesundheit nach Ausklingen restlicher Kärrnerarbeit – Kriminalgeschichte! – zunehmend die Freiheiten eines Schriftstellers, der Anlass hat, selbst in depressivsten Momenten wohlgefällig auf ein unvergleichliches Œuvre zu blicken.
Der Zweite: sichern Sie die öffentliche Zugänglichkeit Ihres Œuvres für die Generationen nachrückender Aufklärungsorientierter gegen alle nur denkbaren Zufälligkeiten (einschließlich Lizenzaufkauf seitens Höchlichstinteressierter), von denen Werke selbst wichtigster Autoren in zuweilen unzumutbarem Maße bestimmt sind. (Ich erinnere nur an das Schicksal der Schriften Nietzsches.) Nach meinem Empfinden gibt es so etwas wie einen moralischen Anspruch künftiger Generationen nicht nur auf biophysische Intaktheit dieses Trabanten, auf funktionsfähige und hochrangige Sozial- und Bildungssysteme sowie die Zugänglichkeit zentraler Literatur in Bibliotheken, sondern auch darauf, sich für die eigene Bewusstseinsbildung wichtige Aufklärerliteratur möglichst preiswert beschaffen zu können. Zu diesen Texten gehören Ihre Titel.
Der Dritte: Ihnen und uns wünsche ich, dass Ihre Saat nun aufgeht. Dazu würden beispielsweise auf der Theorieebene gehören: Kriminalitätsgeschichten aller sog. monotheistischen ‘Hochreligionen’ sowie ‘der monotheistischen Hochreligion’ insgesamt mit ihren zentralen Diversifikationen in Strukturvergleichen sowohl auf ‘theologisch-weltanschaulich-ideologischer’ als auch auf politisch-lebenspraktischer ‘Ebene’; ethisch fundierte Kritiken an den sog. Heiligen Schriften aller großen Religionen sowie der Verflechtung von Religionen und Kapital in besonderer Berücksichtigung dabei verwandter Abschirmungstechniken samt Folgelasten; Entwürfe diverser Formen anthropo-, bio- und gaiaphiler Ethiken; auf praktischer Ebene hingegen die Vorlage wichtigster Aufklärertexte in deutscher Sprache sowie in preiswerten Ausgaben; Entwürfe und Realisierungsversuche biophilerer Lebensformen; und nicht zuletzt: intensivere Zusammenarbeit von Aufklärern hierzulande.
Der Vierte und vorerst Letzte: uns gratuliere ich dazu, dass Sie den Beginn Ihres neunten Jahrzehnts als eine psychophysisch und geistig so voll präsente Persönlichkeit erreicht sowie dass Sie sich als Person und Autor so entwickelt haben, wie Sie sich entwickelt haben: in den vergangenen Jahrzehnten haben Sie das Leben von Hunderttausenden Aufklärungsorientierter erleichtert und deren Geist geschärft. Nicht zuletzt deshalb wünsche ich uns, dass Sie noch manch’ weitere Laudatio zu ertragen haben.
Um den Schlussteil und die Anmerkungen gekürzte Laudatio anlässlich des 80. Geburtstages von Karlheinz Deschner. Erschienen in „Aufklärung ist Ärgernis...“. Karlheinz Deschner: Leben – Werk – Wirkung. Aschaffenburg 2006.