Allgemeines | Veröffentlicht in MIZ 1/08 | Geschrieben von Gunnar Schedel

Vorurteile

Dass ein Kinderbuch auf die Liste der jugendgefährdenden Schriften gesetzt werden soll, ist in der Geschichte der Bundesprüfstelle nicht allzu häufig vorgekommen. Aber das war wohl nicht der Grund, weshalb die Diskussion über das „Ferkelbuch“ überwiegend im „Erwachsenen-Diskurs“ stattfand. Die wenigsten der weit über 100 Beiträge in Presse und Rundfunk stellten die Frage in den Vordergrund, ob das Buch für die anvisierte Altersgruppe geeignet sei bzw. auf welche Weise Religionskritik einem sechsjährigen Kind nahegebracht werden könne. Und selbst wenn scheinbar in diese Richtung argumentiert wurde, lief die Kritik letztlich doch darauf hinaus, dass die ausschließlich negative Darstellung der Religion störte.

Jeder Ansatz, Religion aus den Kinder und Klassenzimmern zu verbannen, führt sofort zu einer reflexartigen Abwehrhaltung – und das nicht nur bei ausgewiesenen Parteigängern der Kirchen. Anstatt die Frage zu erörtern, wie Kindern der Lerninhalt (hier: kein Mensch braucht Religion) am erfolgversprechendsten vermittelt werden kann, erhitzten sich die Gemüter am offen verfolgten Bestreben, Kindern eine prinzipiell ablehnende Haltung Religionen gegenüber nahezulegen. Dabei ist die Vorstellung, Religion sei für die Entwicklung eines Kindes wichtig oder gar unverzichtbar, sachlich nicht sonderlich gut begründet: Es gibt keine empirischen Daten, die darauf hindeuten, dass zum Beispiel Sozialverhalten oder Wertmaßstäbe durch eine religiöse Erziehung so signifikant beeinflusst würden, dass sich der gläubige Teil einer Bevölkerung vom ungläubigen Teil hier positiv unterscheidet.1 Und wer sich an die Berichte von Heimkindern erinnert, die in christlichen Erziehungsanstalten aufwachsen mussten, dürfte es als Anmaßung empfinden, dass ausgerechnet die Kirchen ein „Recht auf Religion“ reklamieren, wenn es darum geht, wie kleine Kinder erzogen werden. Gemeint ist ohnehin eher eine „Pflicht zur Religion“, denn „ohne religiöse Begleitung“, so sieht es jedenfalls die EKD, „kann das kindliche Bedürfnis nach Vergewisserung und Orientierung nicht angemessen aufgenommen werden“.2

Die Selbstverständlichkeit, mit der dieser Satz Wertevermittlung „ohne religiöse Begleitung“ als unangemessen erklärt, signalisiert den Tonfall, in dem das gesamte EKD-Thesenpapier – das Gültigkeit keineswegs nur für Einrichtungen in evangelischer Trägerschaft beansprucht – gehalten ist. Dass derlei Dreistigkeit von vielen, auch konfessionslosen, Bürgerinnen und Bürgern nicht als Dreistigkeit angesehen wird, hat seine Ursache in der verbreiteten
Auffassung, Religion habe bei der Herausbildung ethischer Standards eine unverzichtbare Rolle gespielt und spiele diese auch bei der individuellen Entwicklung jedes Menschen. Diese Auffassung wäre freilich eher „Vorurteil“ zu nennen, doch Vorurteilen begegnen wir, wenn es um Religion geht, häufig.

Da der Begriff „Vorurteil“ negativ aufgeladen ist, kommt einem vielleicht zunächst der Diskurs über sog. Sekten in den Sinn, der häufig durch die Öffentlichkeitsarbeit der kirchlichen „Weltanschauungsbeauftragten“ geprägt ist und insofern die kritischen Aspekte kleiner Religionsgemeinschaften betont. Wer sich die Mühe macht, selbst zu recherchieren, gelangt dann des öfteren zu einem differenzierteren Urteil. Deutlich häufiger ist aber der umgekehrte Fall, dass Religion von einem „positiven Vorurteil“ profitiert. Das obige Beispiel ist beileibe kein Einzelfall. Mutter Teresa, jene erzreaktionäre Nonne und „Missionarin der Nächstenliebe“, wird wohl noch lange als „Engel der Armen“ im Bewusstsein der Menschheit bleiben. Ein klassisches Vorurteil, denn wer sich mit ihrer Vorstellung von Nächstenliebe und der Arbeit ihrer Organisation auseinandersetzt, wird diese freundliche Einschätzung danach nicht aufrechterhalten können.3 Oder Kardinal von Galen, der als Widerstandskämpfer gegen den Nationalsozialismus gilt („der Löwe von Münster“); wer sich seinen Lebensweg anschaut und seine Stellungnahmen zur Weimarer Republik oder zum Krieg gegen die Sowjetunion durchliest, wird ihm diesen „Orden“ nicht mehr so uneingeschränkt verleihen mögen.4 Oder Joseph Ratzinger, der als brillianter Denker gehandelt wird; wer in seinen Werken liest, tut sich schwer, ein solches Urteil zu begründen. Diese Vorurteile lassen sich nicht (oder zumindest nicht in erster Linie) darauf zurückführen, dass die Fakten nicht bekannt oder schwer zugänglich wären; bereits ein Blick in die Internet-Enzyklopädie Wikipedia reicht, um auf kritische Informationen zu stoßen – die dazu anregen könnten, das Vorurteil durch ein fundierteres Urteil zu ersetzen.

Aktuelles Anschauungsmaterial für eine durch ein „positives Vorurteil“ induzierte selektive Wahrnehmung bietet seit Mitte März die Berichterstattung über die Aktionen von Menschenrechtsgruppen und Exiltibetern gegen die PR-Veranstaltungen für die Olympischen Spiele in Peking. Der Dalai Lama bietet sich als Friedensnobelpreisträger, politischer Exilant und buddhistischer Mönch seit je als Projektionsfläche an. Die ihm zugeschriebenen Eigenschaften, von Friedfertigkeit bis Weisheit, prägen sein Bild in der Öffentlichkeit viel stärker als seine tatsächlichen Aussagen und Aktivitäten. Auch auf den von ihm repräsentierten tibetischen Buddhismus5 und die zu einem guten Teil von Mönchen getragenen „Free Tibet“-Aktivitäten hat dies abgefärbt. Die positive Grundstimmung, mit der weite Teile der Öffentlichkeit und der Medien dem Dalai Lama und seinem politischen Apparat begegnen, hat dazu geführt, dass deren antichinesische Inszenierungen nicht nur weitgehend unkritisch kommentiert wurden, teilweise hielten sogar Formulierungen aus der Propagandakiste Einzug in Stellungnahmen aus der Politik. Der Präsident des Europäischen Parlaments, der Unionspolitiker Hans-Gert Pöttering, übernahm den Begriff „des kulturellen Völkermords an den Tibetern“6 – offenbar ohne zu überlegen, was er da nachplapperte. RTL und ntv ließen sich Filmsequenzen andrehen, die angeblich prügelndes chinesisches Militär zeigten – bis sich herausstellte, dass die Aufnahmen aus Nepal stammten. Die Zeit druckte ein Foto anrollender Militärlastwagen ab – und hatte die steinewerfenden Tibeter einfach weggeschnitten.7 Es dominierte das Bild eines kleinen Volkes, das sich geschlossen und friedlich unter der Führung der Mönche gegen jahrzehntelange chinesische Unterdrückung wehrt.

Dieses Vorurteil geriet nicht ins Wanken, als Aufnahmen abgefackelter chinesischer Ladengeschäfte und gewalttätiger Demonstranten in Lhasa ausgestrahlt wurden, und auch nicht, als sich Behauptungen des Dalai Lama über vermeintliche Opferzahlen oder das Vorgehen des chinesischen Militärs als falsch erwiesen. Selbst als sich die in der Tibet-Unterstützerszene kolportierte Meldung, chinesische Soldaten hätten als Mönche verkleidet die Krawalle in Lhasa vom Zaun gebrochen, als Räuberpistole entpuppte, tat dies der Grundstimmung keinen Abbruch. Der völkische Zug der „Tibet den Tibetern“-Kampagne geriet ebensowenig in den Blick wie die Verhältnisse im Alten Tibet vor der chinesischen Invasion von 1950. (Um es an dieser Stelle einmal klar zu sagen: der Einmarsch der Volksbefreiungsarmee brachte der tibetischen Bevölkerung keineswegs nur Unterdrückung, sondern auch Entwicklung, zum Beispiel im medizinischen Sektor; unter dem lamaistischen Feudalsystem war Tibet eines der rückständigsten Länder der Erde mit erbärmlichen Lebensumständen für den Großteil der Menschen.) Die Fakten erwiesen sich gegenüber dem Vorurteil bzw. dem Bedürfnis nach Projektion als zu schwach.

So gelang es den an der tibetischen Exil-Regierung orientierten Aktivisten, den Protesten gegen Peking ihren Stempel aufzudrücken – mit verheerenden Folgen für den Diskurs. Denn nun drehte sich die öffentliche Debatte nicht um die repressive Innenpolitik der chinesischen Regierung, von der die gesamte Bevölkerung betroffen ist, sondern es entstand der Eindruck, es handele sich um einen spezifisch chinesisch-tibetischen Konflikt. Zudem wurde die allgemeine Frage nach den Menschenrechten im Zusammenhang mit der Forderung des Dalai Lama nach Religionsfreiheit verhandelt – so als hätte es unter dem Gottkönig im Alten Tibet irgendwelche bürgerlichen Freiheiten gegeben, als hätte der Gelbmützen-Orden anderen Fraktionen des tibetischen Buddhismus stets die freie Religionsausübung ermöglicht. Wenn sich alle bewusst gemacht hätten, dass zur lamaistischen Vorstellung von Religionsfreiheit auch gehört, vierjährige Buben als „Mönche“ ins Kloster zu stecken, wäre das Urteil bei vielen vielleicht anders ausgefallen. So aber erschien ausgerechnet das vermeintliche spirituelle Oberhaupt aller Tibeter vielfach als Garant für die Einhaltung der Menschenrechte.

Für den Dalai Lama war es ein großer Propagandaerfolg, dass einige hochrangige westliche Politiker forderten, Peking möge sich mit ihm zusammensetzen. Der Sache der Menschenrechte in China hat es geschadet, dass sich im Westen viele für die Politik der Exil-Regierung in Dharamsala haben funktionalisieren lassen. Im Mai kommt der Dalai Lama auch nach Deutschland und es steht zu befürchten, dass die Debatten ähnlich vorurteilsbeladen verlaufen werden. Nun ist Information zwar keine hinreichende, aber immerhin eine notwendige Voraussetzung, Vorurteile zu revidieren. Pünktlich zum Besuch des Dalai Lama wird die Webseite www.gottkoenig.de eröffnet, auf der sich kritische Informationen zum Dalai Lama, dem tibetischen Buddhismus, der militanten „Free Tibet“-Bewegung und ihren weltweiten Unterstützern finden werden. Vielleicht gelingt es ja sogar, der „Tibet den Tibetern“-Stimmung etwas entgegenzusetzen und einem anderen Slogan zu Popularität zu verhelfen: „Free Tibet – From the Lamas“.

Anmerkungen

1 vgl. das Kapitel „Gott macht nicht gut“ in Rolf Degen: Das Ende des Bösen. Die Naturwissenschaft entdeckt das Gute im Menschen. München
2007, S. 232-250.
2 vgl. Religion, Werte und religiöse Bildung im Elementarbereich. 10 Thesen des Rates der EKD, Mai 2007, http://www.ekd.de/EKD-Texte/elementarbildung.html [22.4.2008]
3 vgl. www.mutter-teresa.info
4 vgl. Rahner, S. u.a.: „Treu deutsch sind wir – wir sind auch treu katholisch“. Kardinal von Galen und das Dritte Reich. Münster 1987.
5 Streng genommen ist der Dalai Lama nicht der oberste Würdentr.ger des „tibetischen Buddhismus“, er vertritt nur die Gelbmützen-Fraktion; aber bereits diese Einschränkung kommt nur selten zur Sprache.
6 zitiert nach Chinesische Staatszeitung ruft zu „Vernichtung der Dalai-Clique“ auf, in: http://www.spiegel.de/politik/ausland/0,1518,542918,00.html [22.4.2008]
7 vgl. http://www.jungewelt.de/2008/03-27/006.php?sstr=Colin%7CGoldner [22.4.2008]; dort findet sich auch das Originalfoto.