Allgemeines | Veröffentlicht in MIZ 2/25 | Geschrieben von Gunnar Schedel

Was ist eine moderne Religionspolitik?

Es ist in den letzten Jahren oft (nicht zuletzt hier in der MIZ) analysiert und auch beklagt worden: Obwohl die Zahl der Konfessionslosen die Zahl der orga­nisierten Gläubigen mittlerweile übersteigt, obwohl die religiöse Diversi­fizierung immer weiter zunimmt, hat sich am Religions­recht seit Jahrzehnten nichts und an der Religions­politik der jeweiligen Regierungen nur wenig geändert. Seit knapp vier Jahren gibt es nun mit dem Zentralrat der Konfessionsfreien eine Organisation, die sich explizit als Lobbyvertretung ver­steht, und beim Humanistischen Verband Deutschland ist zumindest eine entsprechende Stelle für die Kommunikation mit der Politik eingerichtet.

Dass es den säkularen Kräften trotz 
einiger propagandistischen und orga­nisatorischen Erfolge letztlich nicht gelungen ist, gesellschaftliche Verände­rungen herbeizuführen, führen manche darauf zurück, dass es keine ein­heit­liche Strategie gibt, wie die For­derungen nach Gleich­berechtigung um-
gesetzt werden soll. Tatsächlich existieren seit längerem zwei Vorgehens­weisen nebeneinander.
Der eine Flügel der Säkularen versucht mit Kirchen- und Religionskritik zu erreichen, dass die Privilegien der Kirchen abgebaut werden. Doch obwohl es in einigen Fällen (wie durch die Kampagne Gegen religiöse Diskriminierung am Arbeitsplatz) gelungen ist, große öffentliche Auf­merksamkeit zu erreichen, die Kirchen unter Druck zu setzen und Themen sogar in den Bundestag zu bringen, hat sich nichts verändert: Das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) enthält immer noch jene Passagen, die es den Kirchen erlauben, in „ihren“ Einrichtungen zu diskriminieren.
Der andere Flügel setzt auf Huma­nismus als Weltanschauung und be­müht sich, dadurch vom Staat gleich­behandelt zu werden, indem er eine ähnliche Förderung wie die Religions­gesellschaften anstrebt. Dieses Konzept kann Erfolge verzeichnen, doch von Gleichberechtigung kann keine Rede sein. In vielen Fällen musste der Humanistische Verband, der diesen Weg gewählt hat, vor Gericht ziehen, um seine Ansprüche durchzusetzen. Und nicht in allen Fällen war das erfolgreich, wie das Beispiel Bertha von Suttner-Studienwerk zeigt (vgl. MIZ 4/24). Und als der Berliner Senat Ende letzten Jahres umfangreiche Kürzungen in allen Bereichen ankündigte, zeigten sich die Gefahren dieses Modells, denn auch der HVD war betroffen.
Gibt es also einen Königsweg zu einer Gesellschaft, in der konfessionslose bzw. säkulare Interessen gleichberechtigt berücksichtigt werden? Die MIZ-Redaktion hat versucht, diese Frage grundsätzlich anzugehen, und ein Dutzend Verbände angeschrieben und um eine Stellungnahme gebeten, wie eine moderne Religionspolitik denn aussehen könnte. Vier davon, der Humanistische Verband Deutschland (HVD), der Internationale Bund der Konfessionslosen und Atheisten (IBKA), Projekt 48 und der Zentralrat der Kon­fessionsfreien haben geantwortet. Die Papiere dokumentieren wir in diesem Heft in voller Länge.

Um es vorwegzunehmen: Eine völlig neue, revolutionäre Strategie entwickelt keine der Stellungnahmen. Sie bewegen sich im Rahmen der beiden bislang verfolgten Vorgehensweisen (wobei der HVD die Karte „Weltanschauung“ zieht, während die anderen drei Orga­nisationen den eher gesellschaftsverändernden Ansatz vertreten). In den Details zeigt sich dann aber an einigen Stellen, dass vor allem das taktische Vorgehen an die sich verändernden ge­sellschaftlichen und politischen Rah­men­bedingungen angepasst wurde.

Gemeinsam ist allen vier Einsen­dun­gen der Ausgangspunkt: Das Reli­gionsrecht entspreche nicht mehr den gesellschaftlichen Realitäten; es berücksichtige weder die drastisch gesunkene Zahl der Kirchenmitglieder noch die starke Zustimmung zu humanistischen Auffassungen in der Bevölkerung und es benachteilige konfessionslose bzw. nicht-religiöse Menschen. Insofern herrscht Einigkeit, dass Veränderungen dringend angezeigt sind.

Festhalten an gut begründeten Forderungen

Ganz traditionell ist die Position, die der IBKA-Vorsitzende Rainer Ponitka in seinem Beitrag einnimmt. Solange der konfessionslose Bevölkerungsanteil nicht eine seiner zahlenmäßigen Größe entsprechende Berücksichtigung durch die Politik finde, sei Deutschland weltanschaulich noch nicht in der Moderne angekommen. Um dorthin zu gelangen, bedürfe es keiner grundsätzlich neuen Ausrichtung – „es sind und bleiben nach wie vor die gleichen Themen“, die bearbeitet werden müssten, schreibt Ponitka. Beispielhaft führt er den staat­lichen Kirchensteuereinzug an, den Religionsunterricht, die Feier­tags­gesetzgebung und das Kirch­liche Arbeitsrecht. Als Vision beschreibt der IBKA-Vorsitzende die „Abkehr von einem ‘kollektiven Selbst­bestim­mungsrecht’ – in welchem kulturelle und religiöse Normen allen Gruppen­mitgliedern verbindlich aufgezwungen werden – hin zu einer individuellen Selbstbestimmung“.

Damit bewegt sich die Stellung­nahme nah am Politischen Leitfaden des IBKA, neue Impulse bietet sie nicht. Auch wenn es absolut in Ordnung ist, gut begründete Forderungen unbeirrt zu erheben, bis sie durchgesetzt werden können, bleibt angesichts der geringen Erfolge dieses Vorgehens in der Vergangenheit eine Frage: „Gibt es eine Strategie, mit der diese Forderungen erfolgreich umgesetzt werden können?“ Darauf gibt der Text keine Antwort.

Weltanschauungspolitik als Demokratiepolitik

Während der IBKA also die Kritik an kirchlichen Privilegien in den Vor­dergrund stellt und deren Abschaf­fung fordert, setzt der HVD auf „die konsequente Anwendung weltanschaulicher Gleichbehandlung“. Bruno Osuch und Katrin Raczynski fordern nicht nur allgemein eine „rechtliche und institutionelle Gleichstellung“, sondern dass „Weltanschauungspolitik aktiv Räume schaffen [muss] für gleichberechtigte Teilhabe“. Zudem bedeute eine humanistische Positionierung nicht nur „Nicht Kirche“ oder „Anti-Religion“. Beim Eintreten „für Menschenrechte, Demokratie und Nachhaltigkeit“ sollten Bündnispartner unabhängig von deren weltanschaulicher Orientierung ausgesucht werden. Dies läuft darauf hinaus, dass „Weltanschauungspolitik als Demokratiepolitik“ verstanden wird, die aus einem „menschenrechtlich ori­entierten, pluralitätsfreundlichen Blick­winkel“ erfolgt.

Insofern entwickelt der HVD sein „positives“ Politikverständnis weiter: Nicht mehr die Kritik an Kirchen und Religionen steht im Zentrum der politischen Aktivität, sondern eigenständig aus einer humanistischen Welt­anschauung heraus entwickelte Inhalte. Damit verknüpft ist der Anspruch, „das kirchenförmig gewachsene Reli­gionsverfassungsrecht in Richtung echter Parität weiterzuentwickeln“.
Doch wenn es konkret wird, werfen sich Fragen auf: Wie könnte denn eine „konsequente Anwendung weltanschaulicher Gleichbehandlung ... beim Arbeitsrecht“ aussehen? Heißt das, dass der HVD wie die Kirchen die Son­derklauseln des AGG (§ 9) für sich in Anspruch nehmen möchte? Was wäre dadurch für die Weltanschau­ungs­freiheit gewonnen? Oder unterstützt der HVD die Forderung, die diskriminierenden Regelungen abzuschaffen?
Und wenn Osuch und Raczynski für einen „weltanschauungsfreundlichen“ Staat eintreten – „und zwar für alle“ – birgt der weitgehende Verzicht auf Religions- und Weltanschauungskritik sogar Gefahren: Denn nicht alle der mittlerweile mehreren hundert Religionen und Weltanschauungen genügen demokratischen Mindeststandards. Sollen all diese auf gleiche Weise behandelt (und das heißt ja auch: gefördert und repräsentiert) werden? Und falls „nein“ – wie entscheidet der weltanschaulich neutrale Staat dies, ohne gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz zu verstoßen? Eine allein auf Vielfalt ausgerichtete Religionspolitik duckt sich vor dieser Realität weg.

Ein Türöffner für den Zugang zu Regierungskreisen

Der Zentralrat der Konfessionsfreien ist als säkulare Lobbyorganisation installiert worden. Dementsprechend erhebt er viele Forderungen, die sich auch beim IBKA und anderen säkularen Verbänden finden: von der Einrichtung bekenntnisfreier Schule, in denen es dann keinen Religionsunterricht geben muss, über die Abschaffung des „religiösen Sonderarbeitsrechts“ bis zur die Absetzbarkeit der Kirchensteuer betreffenden Änderung des Steuerrechts.

Auf strategischer Ebene hingegen begegnen wir einem neuen Ansatz, um die Anliegen umzusetzen. Waren bisher die Parteien die ersten Ansprechpartner, war das Bemühen darauf gerichtet, die säkularen Forderungen in Wahl- oder Grundsatzprogrammen unterzubringen, spricht der Zentralrat die Politik auf der Regierungsebene an.
Ziel der „religionspolitischen Zei­tenwende“ ist ein neues Verhältnis von Staat und Religions- bzw. Welt­anschau­ungsgemeinschaften zu etablieren, das mit dem Slogan „mit Grundrechten, aber ohne Sonderrechte“ beschrieben wird. Um die Türen zur schwarz-roten Koalition zu öffnen, hat der Zentralrat ein Thema aufgenommen, bei dem andere Verbände zurückhaltender sind: die Rolle des Politischen Islams in Deutschland. In der (wahrscheinlich richtigen) Annahme, dass hiermit am ehesten Gehör bei der Union zu finden sein dürfte, schlägt das Papier des Zentralrates ein „dauerhaftes, ressortübergreifendes Gremium im Bundesinnenministerium, das Präven­tion, Bildung, digitalen Raum und internationale Dimensionen verbindet“, vor.
Aus der Perspektive des politikwis­senschaftlichen Proseminars ist das sicherlich ein richtiger Schritt, da eine Mitte-Links-Regierung auf Bun­des­ebene für absehbare Zeit nicht mehr zu erwarten ist. In der Realität stellt sich allerdings die Frage, woher der Zentralrat den Optimismus nimmt, den real existierenden Innenminister davon zu überzeugen, den Kirchen den Rücken zuzukehren. Die Äußerungen seines Parteichefs Markus Söder zur strategischen Beziehung von Kirchen und CSU sind unmissverständlich, so dass eher die Gefahr droht, für eine Religionspolitik funktionalisiert zu werden, die „den Islam“ (ganz oder teilweise) von den bestehenden Privilegien ausschließt, ohne dass sich der Status quo ändert.

Positive Religionsfreiheit als individuelle definieren

Projekt 48 ist die jüngste der Vereini­gungen und im Gegensatz zu IBKA und HVD keine Mitglieds­organi­sation im engeren Sinne. Zwar hat der Verein Mitglieder, tritt aber nicht offensiv mit den anderen Verbänden in einen Wettstreit um diese. Er baut auf eine kleine Gruppe an Aktiven und zielt auf Bündnisse und möglichst viele „Fördermitglieder“ ab, die regelmäßig Informationen erhalten und bei Interesse dann konkrete Projekte unterstützen können.

Eine moderne Religionspolitik ist für Projekt 48 mit drei Anforderungen verbunden: Sie muss vom Gleichheits­grundsatz ausgehen, universalistisch ausgerichtet sein und „die individuelle Religionsfreiheit ins Zentrum ihres Handelns“ stellen. Zu letzterem Punkt bringt Projekt 48 eine neue Per­spektive, indem vorgeschlagen wird, „das Verständnis von ‘positiver Reli­gionsfreiheit’ stärker als bisher am Individuum“ auszurichten, was auch den Schutz vor Diskriminierung durch „religiöse Gemeinschaften oder deren Vertreter“ beinhalten soll. Konkret wird angeregt, ein „Monitoring von religiöser Unduldsamkeit und religiös motivierten Übergriffen“ sowie ein Neutralitätsgesetz einzuführen.
Auch Projekt 48 spricht an mehreren Stellen Konflikte mit autoritären und ausgrenzenden islamischen Religions- und Gesellschaftsvorstellungen konkret an, wählt aber den Blickwinkel der Betroffenen. Damit wird das Problem des Zentralrates, die Vereinnahm­barkeit, weitgehend gelöst, es ergibt sich aber eine andere Schwierigkeit. Wenn es darum geht, einen „Paradig­men­wechsel bei der Rolle des Staates“ herbeizuführen, muss dieses neue Denken erstmal Einzug in den politischen Diskurs halten. Ob diese Hürde ausgerechnet von einem der kleinsten säkularen Akteure genommen werden kann, muss sich zeigen.

Denn hier liegt, unabhängig von den konkreten Anforderungen, ein grundsätzliches Problem: Religionspolitik ist im Moment für die Bevölkerung keines der Top Ten-Themen, und wenn es diskutiert wird, dann häufig unter identitären Vorzeichen (wie beispielsweise das Neutralitätsgesetz in Berlin). Um neue Perspektiven in die Debatte einzubringen, dürfte ein guter Zugang zu den Medien nicht ausreichen. Es bräuchte eine soziale Basis, die für Präsenz der neuen Ideen an den verschiedensten Schauplätzen sorgt. Um den identitären Mainstream aus den Köpfen zu kriegen, müssten viele Menschen mit guten Argumenten dagegen auftreten und Alternativen vorschlagen (z.B. zur wenig durchdachten Idee der Erziehungsgewerkschaft GEW, den Islam­unterricht an öffentlichen Schulen flächendeckend einzuführen). Doch ausgerechnet hier scheint mir das säkulare Spektrum in den letzten Jahren eher an Boden verloren zu haben. Die Zahl der aktiven Mitglieder war schon mal höher, die Vernetzung in Gewerkschaften, Verbände und Uni­versität hinein war schon mal besser.

Um nach so viel Kritik und Zweifel noch eine konstruktive Perspektive aufzumachen, knüpfe ich an den Schluss­absatz der Stellungnahme von Projekt 48 an. Darin wird, eher beiläufig, angeregt, dass die Interessenvertretungen der Konfessionslosen sich zusammensetzen sollten, um über mögliche Schlussfolgerungen aus der Debatte zu beraten. — Das wäre vielleicht generell eine gute Idee, die Lücke, die der KoRSO hinterlassen hat, wieder zu füllen. Denn dass die säkularen Verbände unterschiedliche, sich teils sogar gegenseitig ausschließende Strategien verfolgen, spricht nicht dagegen, sich genau darüber auszutauschen und die Vorgehensweisen zu koordinieren. Die grundlegende Analyse und das angestrebte Ziel – das ging, wie eingangs dargestellt, aus den Positionspapieren unverkennbar hervor – sind nämlich weitestgehend dieselben.