Prisma | Veröffentlicht in MIZ 4/21 | Geschrieben von Thomas Waschke

Was kann die Erweiterte Evolutionäre Synthese leisten?

Teil 4: Ein Standard wird kritisiert

Auf der Grundlage weniger, meist unstrittiger Annahmen gelang es den Vertretern der Modernen Synthese, eine extrem mächtige und gleichzeitig einfache Theorie zu formulieren, die sich im Lauf der Zeit als sehr robust gegen viele Einwände erwies. Selbstverständlich wurde sie im Lauf der Zeit immer wieder kritisiert. Wie im vorigen Teil der Serie dargestellt, definiert die Moderne Synthese Evolution als Veränderung von Genfrequenzen in Populationen im Lauf der Zeit. Ein grundlegender Einwand gegen diese Theorie, der nicht nur von Naturwissenschaftlern vorgetragen wurde, bestand daher darin, dass bezweifelt wird, dass mit dieser Definition alle Phänomene der Evolution erfasst werden können.

Bis in die 1970er Jahre herrschte aber, zumindest innerhalb der Evolutionsbiologie, Konsens dass die Theorie diesen Anspruch auch erfüllen kann. Es gab zwar immer eine kleine Minderheit an Evolutionsbiologen, die darauf hinwiesen, dass es sich hier oft um Konsistenzargumente (das bedeutet, dass man Befunde, meist nachträglich, als mit der Theorie vereinbar betrachten kann) und nicht um Erklärungen handelte. Da die Kritiker aber keine alternativen Erklärungen für die Phänomene, die sie anführten, vorweisen konnten, noch weniger eine ausformulierte Alternativtheorie, hatten diese allgemeinen Einwände wenig Gewicht.

Das änderte sich erst, als neue Befunde bekannt wurden, die mit den Mechanismen der Modernen Synthese nicht erklärbar waren. Auf drei derartige, durch Beobachtungen gestützte Einwände und die grundsätzlichen Möglichkeiten, wie aus der Sicht einer Standard-Theorie darauf reagiert werden kann, soll in dieser und der nächsten Folge der Serie eingegangen werden.

Einwand aus der Molekular­biologie – die Neutrale Theorie

Zu Beginn der 1960er Jahre gelang es, den molekularen Aufbau von Proteinen zu analysieren. Bei diesen aufwändigen Untersuchungen stellte sich heraus, dass in einer Population von Organismen viele Proteine in leicht veränderten Varianten, die sich in ihrer biologischen Aktivität nur gering unterschieden, vorkamen.

Forscher fanden, später auch auf der Ebene der DNA, heraus, dass auf der Ebene dieser Makromoleküle ständig Mutationen erfolgten, die aber meist auf der Ebene des Phänotyps, also für die Selektion, keinen Unterschied machten. Aber auch bei diesen Mutationen fand man, dass sich deren relative Häufigkeiten im Genpool veränderten. Welche dieser Mutationen im Lauf der Generationen erhalten blieben, war, im Gegensatz zu den selektionistischen Modellen, nicht durch die Selektion, sondern vom Zufall bestimmt. Das bedeutet, dass es auch nach der Definition der Modernen Synthese Evolutionsprozesse gab, bei denen die Selektion keine Rolle spielte. Da diese Mutationen von der Selektion her gesehen neutral waren, wurde diese Theorie als die Neutrale Theorie der Evolution bezeichnet.

Die aus dieser mathematisch soliden formalisierten Theorie abgeleiteten Vorhersagen konnten experimentell geprüft und wurden in den meisten Fällen auch bestätigt. Daher wurde diese Theorie nach und nach anerkannt, obwohl sie dem Standard widersprach.
Obwohl die Neutrale Theorie im Widerspruch zu zentralen Aussagen der Modernen Synthese stand, konnte sie in diese Theorie integriert werden, ohne dass diese allzu sehr verändert werden musste. Das war dadurch möglich, dass man die Gene als die Ebene der Variation, die Organismen hingegen als die der Selektion betrachten kann. Prozesse, die auf der Ebene der Gene erfolgen, aber von der Selektion nicht erkannt werden, stellen für den Rest des Gedankengebäudes kein Problem dar, weil auf der Ebene des Organismus die Selektion immer noch als wichtigster richtender Faktor wirkt.

Allerdings mussten für diese Integration zwei Prinzipien der Moder­nen Synthese zumindest gelockert werden. Auf der einen Seite war nun die Selektion nicht mehr allein für alle Phänomene der Evolution verant­wort­lich. Das widersprach der Auffassung, dass die Selektion den zentralen Mechanismus der Evolution darstellt. Auf der anderen Seite musste die Theorie hierarchisch werden: mehrere Ebenen müssen unterschieden werden, auf denen die Evolution nach verschiedenen Mechanismen abläuft. Das widersprach dem bisherigen Anspruch, durch Mechanismen auf einer Ebene die gesamte Evolution erklären zu können.
Durch die Diskussion wurde deutlicher als zuvor, dass die Selektion auf der Ebene der Organismen, die Variation hingegen auf der Ebene der Gene erfolgte. Viele Forscher waren bisher davon ausgegangen, dass die Gene sowohl das Ziel der Selektion als auch die Einheit der Evolution waren.

Dieses Beispiel zeigt, wie neue Erkenntnisse, die auf den ersten Blick den Aussagen einer Theorie widersprechen, doch in den Rahmen dieser Theorie integriert werden können.

Einwand aus der Paläon­tologie – die Theorie der Durchbrochenen Gleichgewichte

Anfang der 1970er Jahre wurde ein weiterer Einwand gegen den Standard vorgetragen, der viel grundsätzlichere Probleme aufwarf als die Neutrale Theorie. Dieser Einwand kam aus den Reihen der Paläontologie und stützte sich auf Erkenntnisse aus Untersuchungen des Fossilbefunds.

Bei Organismengruppen, deren Evolution über längere Zeit durch zahlreiche Funde recht gut überliefert ist, wurde gefunden, dass deren Evolution nicht, wie von den Grundannahmen der Modernen Synthese gefordert, graduierlich durch eine kleinschrittige, über lange Zeiträume verteilte, Veränderung von Merkmalen erfolgt. Innerhalb von aus geologischer Sicht kurzen Zeiträumen konnten mehr oder weniger umfangreiche Änderungen stattfinden (‘Punktuationen’, maximal ein Prozent der Lebensdauer der Art, viele Arten findet man über einen Zeitraum von 10 Millionen Jahren), die oft mit der Entstehung neuer Arten verbunden sind, denen dann mehr oder weniger lange Phasen folgen, in denen bis zur nächsten Punktion keine erkennbaren Veränderungen der Lebensformen mehr auftreten (‘Stasis’).

Dieser Wandel zwischen langen Phasen, in denen keine Änderung er­folgt, und kurzen, ereignisreichen Zeiten 
wurde als Theorie der Durch­bro­chenen Gleichgewichte (auch als Punk­tualismus bezeichnet) formuliert. In dieser Theorie wird davon ausgegangen, dass sich eine Art sozusagen im Gleichgewicht befindet und sich nicht mehr ändert, bis sich nach einer Störung innerhalb kurzer Zeit ein neues Gleichgewicht einstellt.

Auf der einen Seite beschrieb der Punktualismus nur ein Muster, das mit Konsistenzargumenten durchaus in den Rahmen der Theorie eingebaut werden konnte. Punktionen sind hier weniger problematisch zu erklären, diese lassen sich als schneller Gradualismus, beispielsweise aufgrund von Umwelteinflüssen, die im geologischen Befund nicht dokumentiert sind, deuten. Stasis hingegen könnte auf stabilisierender Selektion beruhen, die dafür sorgt, dass sich Abweichungen von der Norm nicht in der Population verbreiten. Eine stabilisierende Selektion ist aus Beobachtungen an heutigen Lebewesen durchaus bekannt, es ist aber wenig plausibel, dass diese über lange Zeit wirksam bleibt.

Auf der anderen Seite wurden aber auch Mechanismen diskutiert, welche für dieses Muster verantwortlich sein könnten. Diese traten dann in Konkurrenz zu den genannten Konsis­tenz­argumenten und bewirkten, dass diese als wenig überzeugend betrachtet wurden. Letztlich spricht schon der Umstand, dass diese Befunde nicht nur nicht vorhergesagt werden konnten, sondern den üblichen Annahmen widersprachen und eine Erklärung erst nach deren Entdeckung versucht wurde, dafür, wie wenig überzeugend diese Argumentation ist.

Zur mechanismischen Erklärung der Stasis wurden auch Auffassungen herangezogen, die davon ausgingen, dass interne Faktoren die Evolutions­möglichkeiten von Organismen bestimmen. Auch wenn, im Gegensatz zu den Orthogenesen, die vor der Synthese vertreten wurden, keine Ziel­gerichtetheit dieser Phänomene angenommen wurde, stellten sie doch gewichtige Einwände gegen die Position, die Selektion als zentralen richtenden Faktor zu betrachten, dar, weil in diesem Modell der Wirkung der Selektion durch die den Organismen innewohnenden Zwänge mehr oder weniger enge Grenzen gesetzt sind.

Es wurde immer deutlicher, dass die Modelle der Modernen Synthese, die von einer reinen Transmissions-Genetik ausgingen und sich nur mit der Frage befassten, welche Gene in den Genpool der nächsten Generation gelangten, die eigentlich interessanten Phänomene der Evolution begrifflich gar nicht fassen konnten. Es handelte sich vor allem um die Frage, auf welche Art und Weise die Gene die Bildung und den Aufbau eines Organismus steuern. Der Modernen Synthese fehlte offensichtlich auf der einen Seite ein Organismuskonzept, auf der anderen Seite die Einbeziehung der Ontogenese in evolutionäre Überlegungen. Die letztere Frage steht im Mittelpunkt der Evolutionären Entwicklungsbiologie, die im nächsten Teil dieser Serie intensiver besprochen wird, sie wurde aber auch im Kontext des Punktualismus schon angesprochen.

Im Kontext der Diskussion über den Punktualismus wurde deutlich, dass die Paläontologie noch nicht hinreichend in die Synthese integriert war, denn die Phänomene in erdgeschichtlichen Dimensionen schienen anders zu verlaufen (Wechsel von Stasis und Punktionen) als die von den Autoren der Synthese betrachteten aktuell erfolgenden (kontinuierlicher kleinschrittiger Wandel). Noch weniger integriert waren biologische Disziplinen, die sich mit Organismen befassen; beispielsweise die Embryologie, die untersucht, wie sich ein Lebewesen aus der befruchteten Eizelle zu einem fertigen Organismus entwickelt oder auch ganz allgemein das Funktionieren eines Organismus.

Die Diskussion über die Bedeutung der durch den Punktualismus vorgetragenen Kritik an der Modernen Synthese ist noch nicht abgeschlossen. Es hat sich aber auf jeden Fall gezeigt, dass es nicht möglich ist, die erwähnten Konzepte und biologischen Disziplinen in die Moderne Synthese zu integrieren, ohne deren Fundamente grundlegend zu erweitern, wie das bei der Neutralen Theorie noch möglich gewesen war. Das bedeutet nicht, dass Moderne Synthese dann falsch würde, sondern nur, dass sie, zumindest in der ursprünglichen Form, eben nicht das leisten kann, was sie beansprucht: eine umfassende mechanismische Erklärung der Evolution zu sein.

Ausblick

Ob diese Erweiterung tatsächlich gelingen kann, ist aber von eher akademischem Interesse, weil das Problem durch die dritte Theorie, die im nächsten Teil der Serie besprochen wird, noch verschärft und daher in diesem Zusammenhang diskutiert wird.