Die meisten Menschen, die an die Existenz von Hexerei glauben, schreiten nie zur Anklage. Ganze Gesellschaften sind weitgehend frei von Hexenjagden, obwohl die Mehrheit Hexerei für eine reale Bedrohung hält. Hexerei als Seelenkannibalismus ist vom Seelenglauben monotheistischer Religionen nicht abzutrennen. Das Prinzip ist das Gleiche: es gibt gute und böse Wunder, Seelenwanderung, spirituelle Fernwirkung. Darin liegt der Grund für die Anschlussfähigkeit von sogenannten charismatischen Kirchen (u.a. Pfingstkirchen) an indigene Dämonologien und Hexereivorstellungen.
Bei meinen Forschungen in Ghana interviewte ich über 160 Hexenjagdflüchtlinge aus verschiedenen ethnischen Gruppen. Nur acht davon waren Männer. Die anderen waren in der Regel ältere Frauen, die meist im mittleren Alter angeklagt wurden. In aller Regel läuft eine Hexereianklage wie folgt ab: Wird ein Mensch krank, erleidet einen plötzlichen Tod oder außerordentliches Pech, so wird durch Rituale, Träume und Assoziationen eine Person ermittelt, die daran durch Fernwirkung schuld sein soll. Es kommt zur öffentlichen Anklage, die entweder direkt zu Lynchmobs, Gewalt und Vertreibung führt, oder zum Besuch bei einem Schrein. An einigen Schreinen wurde gefoltert, um ein Geständnis zu erwirken, das zum einen „Komplizen“ ermitteln soll, vor allem aber die Vorstellung selbst legitimieren sollte. An den größeren, bedeutenden Schreinen jedoch soll der Priester durch ein Ordal herausfinden, ob die angeklagte Person schuldig ist. Vor allem Erdpriester gelten als fähig, Hexerei zu entdecken und zu bekämpfen. Erde gilt als Gegengift der Hexenkraft. Die Priester schneiden einem Huhn die Halsschlagadern durch und werfen es von sich. Im Todeskampf wirft es sich herum. Stirbt es auf dem Bauch oder auf dem Rücken, gibt es dadurch das Ja oder Nein der göttlichen Präsenz an dem Ort zu einer Frage des Priesters bekannt.
Für die Angeklagten ist das Ergebnis das gleiche: sie bleiben in der direkten Umgebung der Erdschreine, wo sie sicher vor Gewalt sind, weil ihre Hexenkraft dort als neutralisiert gilt. Es entstanden Ghettos, von denen heute noch insgesamt acht in Nordghana existieren: Gambaga, Gbintiri, Nabule, Gushiegu, Kpatinga, Tindang, Kukuo, Duabone. Die heute noch etwa 700 Menschen an diesen Orten leben mit wenigen Ausnahmen in stärkerer Armut als ihre Umgebung, mit saisonaler Mangelernährung und Wassermangel.
Die Ghettos waren dabei stets nur die sichtbare Seite eines humanitären Problems. In den Dörfern wurden und werden viele Lynchmorde vertuscht. Die Asyle sind das Resultat dieser Drohung: Opfer von Hexenjagden wagen sich nicht zurück, solange sie fürchten müssen, beim Brennholzsammeln oder Feldbau im Buschland ermordet zu werden.
Die Entwicklung der Sozialen Arbeit
Um 1960 herum begann die presbyterianische Kirche mit der Missionsarbeit im Ghetto von Gambaga. Ab 1992 wurde mit dem Sozialarbeiter Simon Ngota das Gambaga Outcast Home Project ins Leben gerufen, das sich mit sozialer Arbeit stark von der bisherigen Missionierung abhob. Da die Zahl der Geflüchteten Mitte der 1990er-Jahre auf über 300 gestiegen war und entsprechend schlechte Bedingungen in den mehrfach überbelegten Hütten herrschten, begann das Projekt mit Rücksiedelungen. Simon Ngota und seine Mitarbeiterin Gladis Lariba boten den Geflüchteten an, Verhandlungen zu organisieren. Stimmten Familienmitglieder, Nachbarn und Chiefs einer Rückkehr zu, konnte eine Frau das Ghetto hinter sich lassen. Weil es zu Beginn in einigen Fällen zu erneuten Anklagen und Gewalt kam, führte das Projekt Folgebesuche ein, um die Sicherheitslage zu überwachen. Für jene, die im Ghetto bleiben wollten oder mussten, verbesserte das Projekt die Lebensbedingungen. Wasserpumpen, Nutztiere, Saatgut und Ackerland leisteten einen entscheidenden Beitrag zur Steigerung der Lebenserwartung.
2008 jedoch versiegten Fördermittel, nachdem ein Pastor einen für das Projekt bestimmten und beschrifteten Jeep für die Missionsarbeit in Beschlag nahm und dann auch noch damit verunfallte. Dass die Presse davon Wind bekam, lastete die presbyterianische Kirche dann Simon Ngota an. Er gründete das Witch-hunt Victims Empowerment Project (WHVEP) in Gushiegu, das dort vor allem vier Asyle erreicht: Nabule, Gushigu, Kpatinga und Gbintiri. Die Spendengelder dafür wurden von der deutschen NGO Hilfe für Hexenjagdflüchtlinge in Kooperation mit der dänischen Organisation Senioren ohne Grenzen (SUG) gesammelt. So konnte das Projekt mit einem Jahresbudget von etwa 15.000 Euro und einem Pickup ausgestattet werden. Später kam die Klaus-Jensen-Stiftung aus Trier als Förderer dazu. Wie im Entwicklungshilfebereich üblich lief nach einigen Förderperioden die Finanzierung aus Dänemark aus. Das Dogma der Entwicklungshilfe beinhaltet den erfolgreichen Abschluss eines Projektes nach zwei Jahren. Langzeitprobleme wie Hexenjagden können so nicht bearbeitet werden. Auch die Klaus-Jensen-Stiftung reduzierte 2019 ihre Zuschüsse. So ist das einzige säkulare und professionelle Projekt mit Hexenjagdflüchtlingen in Ghana und eines der wenigen säkularen Hilfsprojekte überhaupt derzeit in seiner Existenz bedroht. Um aktiv zu bleiben, benötigt es mindestens 12.000 Euro pro Jahr.
Die internationalen NGOs sind in der großen Mehrheit religiös dominiert. In Gushiegu, dem einzigen Ghetto ohne Erdpriester, hat die katholische Kirche Brunnen gebohrt, Solarpaneele gestellt, Toiletten erbaut – und Gottesdienste organisiert. Nonnen kommen für Gebete in die Ghettos, soziale Arbeit wird durch Seelsorge ersetzt. In Gambaga wurde das Presby Go Home Project unter der Leitung von Samson Laar neugegründet. Es ist der presbyterianischen Kirche unterstellt und leidet ebenfalls unter der Knappheit von Fördermitteln. ActionAid, eine internationale Organisation mit starkem christlichen Einschlag, hat für Delegierte der Ghettos regelmäßige Treffen in der Distriktshauptstadt organisiert, jedoch keine dauerhafte Präsenz vor Ort etabliert. Die NGO hat durch ihren Sitz in Tamale jedoch versucht, die Erfolge der kleineren NGOs zu vereinnahmen und sich als Sprachrohr der Hexenjagdflüchtlinge zu profilieren. So konnte ActionAid mit einer vergleichsweise liberalen und engagierten Frauenministerin eine „Roadmap“ vereinbaren, die zur Schließung der Ghettos führen sollte. Dieser Aktionismus war das Resultat von wachsendem Druck durch Medienberichte über die Zustände in den Ghettos. 2014 erklärte dann das Ministerium für Frauen und Kinder (MOWAC) das Ghetto in Banyasi in einem feierlichen Akt für geschlossen. Hier hatten nur noch fünf geflüchtete Frauen unter einer Schreinpriesterin gelebt. Um Eindruck zu schinden, wurden 50 Frauen aus den anderen Asylen nach Banyasi gebracht, um sie nach der Zeremonie wieder zurück zu schicken. Anders als eine Broschüre von ActionAid behauptet, wurde keine dieser Frauen erfolgreich zurückgesiedelt. Und zwei der Frauen, die tatsächlich in Banyasi wohnten, fanden Simon Ngota und ich dann in einem Ghetto in Tindang wieder.
Unter dem Eindruck dieses für alle Opfer entwürdigenden und beängstigenden Aktes sagte mir die Anführerin der Frauen im Asyl von Gambaga 2015:
„Als wir von den Ereignissen in Banyasi hörten, konnten wir wochenlang nicht schlafen. Ich war überhaupt nicht glücklich darüber, als ich einer Konferenz in Accra sprach, die anlässlich der Schließung organisiert worden war.“
In Gambaga fürchten die Frauen eine weitere Verschlechterung ihrer Lebensbedingungen. Die Stiftung der ehemaligen First Lady, Lordina Mahama, hatte vor den Toren der Stadt ein neues Asyl erbauen lassen in der wohlmeinenden Absicht, die Frauen der Herrschaft des Erdpriesters zu entziehen. Leider liegt das Heim zwei Kilometer vor den Toren der Stadt, zu weit für die älteren Frauen, um auf dem Marktplatz etwas einzukaufen. Sie würden vollständig abhängig von einem angeblich durch die NGO gestellten Koch und sie müssen in Gruppenräumen schlafen – eine Verletzung ihrer bisherigen Privatsphäre in kleinen, aber abgeschlossenen Lehmhütten. Auch traut niemand einer von Fördermitteln und Wahlergebnissen abhängigen NGO. Bis heute verweigern die Opfer den Umzug und bleiben im Ghetto in der Stadtmitte. Vor allem die mangelnde Beteiligung der Frauen und die Fehleinschätzung der Rolle der Erdpriester als vermeintliche Hexenjäger sorgten dafür, dass die Geflüchteten seit Jahren Angst vor kontraproduktiven Räumungen der Asyle haben müssen.
Rücksiedlungen sind möglich – aber teuer
Das WHVEP unter Simon Ngota verfolgt hingegen einen kooperativen Ansatz: Man redet mit den Erdpriestern und Chiefs, holt sie auf die eigene Seite, beteiligt sie und kann so in aller Regel das Beste für die Opfer erreichen. Tägliche soziale Arbeit in den Ghettos, vor allem im säkularen Asyl in Gushiegu, dem einzigen ohne Erdpriester, berät die Frauen bei gesundheitlichen Problemen und hilft im Umgang mit Behörden. Der Kauf von etwa eineinhalb Hektar Land ermöglichte Nahrungssicherheit. Für den Kontakt mit Verwandten wurden Mobiltelefone bereit gestellt. Und nach wie vor bietet das Projekt an, mit seinem Auto Rücksiedelungen durchzuführen. Leider sind die Rücksiedelungen der teuerste Teil der Aktivitäten: es bedarf mehrere Verhandlungsbesuche im Dorf, die jeweils Benzin, Zeit, Spesen und kleine Mitbringsel als Respektsbezeugung für Verwandte und lokale Autoritäten kosten. Die Entlassung durch den Erdpriester erfordert zudem einen abschließenden Exorzismus. Dazu wird der Frau ein Trank verabreicht und die Haare geschoren. Die Ritualgebühr in Höhe von etwa 30 Euro wird in Form von verzehrten Opfertieren und Alkohol umverteilt. In aller Regel kehren die entlassenen Frauen nie wieder zurück zu den anderen Geflüchteten, mit denen sie Jahre und manchmal Jahrzehnte zusammen verbracht haben.
Ein weiterer wichtiger Bestandteil der Arbeit des Projektes ist die Aufklärungsarbeit in den Dörfern. Dazu wurde eine Gruppe von Geflüchteten durch einen Theaterfachmann ausgebildet. Sie führen auf Marktplätzen ein Stück auf, in dem sie eine Hexereianklage nachspielen. Das Fazit ist: Man soll nicht lynchen und willkürlich Leute verdächtigen. Redebeiträge unterstreichen die Botschaft. In einem weiteren Schritt werden Chiefs, Älteste und lokal stationierte Polizisten zu Workshops eingeladen, in denen sie sich über Hexereianklagen unterhalten und Strategien erlernen, wütende Ankläger und Dorfjugenden zu beschwichtigen. Diese beiden Maßnahmen haben zu einem Rückgang der Neuankömmlinge in den Asylen um über 80% geführt. Das durch Simon Ngota stets weiter ausgearbeitete Konzept ist auf andere Regionen des subsaharischen Afrikas und anderer von Hexenjagden geprägten Regionen der Welt übertragbar. Es hat seine Wirksamkeit bewiesen und aus über 500 Rücksiedelungen in über zwanzig Jahren und etwa der dreifachen Zahl der vom Projekt memorierten und teilweise dokumentierten Fallgeschichten eine Fülle von Daten produziert. Ein Ende des Projektes hätte auch den Verlust dieses Erfahrungsschatzes zur Folge.
Säkulare Partnerorganisationen gesucht
Wissenschaftliche Ansätze zur Aufklärung gegen Hexereivorstellungen und zur Bekämpfung von Hexenjagden bleiben derweil absolute Ausnahmeereignisse, weil die Ethnologie primär darin schult, religiöse Weltbilder zu vermitteln und Gesellschaften zu verteidigen und nicht Individuen in anderen Gesellschaften gegen Weltbilder der Mehrheitsgesellschaften zu verteidigen. Daher hoffen wir von Hilfe für Hexenjagdflüchtlinge, säkulare Partnerorganisationen für ein langfristiges und wissenschaftlich fundiertes Engagement gegen Hexenjagden gewinnen zu können.
Spendenkonto:
Hilfe für Hexenjagdflüchtlinge
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BIC: HELADE F1 MAR
Sparkasse Marburg