Prisma | Veröffentlicht in MIZ 1/18 | Geschrieben von Werner Hager

Die säkulare Szene braucht 
die Rackettheorie

Warum sich mit der Rackettheorie beschäftigen? Weil seit einigen Jahren die Debatte aussteht, was eigentlich die unter den Schlagwörtern „Islamismus“, „Dschihadismus“, „Salafismus“, „Fundamentalismus“ oder „politischer Islam“ bezeichneten Phänomene bedeuten. Und ob oder wie diese in den Kategorien von „Faschismus“, „Extremismus“, „gewaltbereit“ oder „Radikalisierung“ zu fassen sind, die die – umstrittenen – Deutungsmuster für die Geschichte des 20. Jahrhunderts darstellen. Oder ob hierfür nicht andere Begriffe entwickelt werden müssen.

Innerhalb der genannten Deutungs­muster wird aber jeweils viel vorausgesetzt, insbesondere eine sehr westeuropäische Konzeption von „Staat“, eine Gesellschaft und noch grundlegender eine Trennung von Religion bzw. Moral und Politik. Bereits aus dem 20. Jahrhundert wissen wir zudem, dass ein assoziatives Herangehen nicht zu belastbaren Begriffen für grundsätz­lich doch gemeinsam abgelehnte Phänome­ne führte.

Nach Versuchen, die Phänomene des italienischen Faschismus teils als Wiederkehr ins Mittelalter zu deuten, teils aus dem Monopolkapitalismus einfach abzuleiten, war die Debatte über diese antimodernen Erscheinungen in der Moderne aber schon einmal weiter. Gerade die damals entwickelten Erklärungmuster wie die Rackettheorie können auf die heutige Situation angewandt und weiterentwickelt werden. Dies ist allemal besser, als wieder mit den sicherheitspolitischen konservativen Kategorien von „Extremismus“ und „Radikalisierung“ einer gesellschaftspolitischen Debatte auszuweichen. Oder zwischen unterschiedlichen Begriffen zu oszillieren.

Die Rackettheorie beschäftigt sich mit „Rackets“, dem Bandenwesen. Sie beschränkt sich hierbei aber nicht nur kriminalistisch auf die Beschäftigung mit organisiertem Verbrechen, mit der Mafia, sondern sieht Rackets als die Organisationsform der nachliberalen Phase des Kapitalismus.

Sie war ein Erklärungsmuster für das Anfang des 20. Jahrhunderts entstehende neue Phänomen des italienischen Faschismus und diesem ähnlicher Systeme. Die Rackettheorie hatte erhebliche Vorteile gegenüber der damals (und teils auch noch heute) verbreiteten Theorie des staatsmonopolistischen Kapitalismus. Zusammenschlüsse in Banden kämpfen um die Macht in den Herrschaftsgebieten, die großen Ka­pitalgesellschaften versuchen den Staaten ihre Interessen als Handlungs­imperative aufzudrücken – ein erheblicher Unterschied zu den vorherigen bürgerlichen Assoziationen und der rationalen Entwicklung des Rechtssystems. Auf diesen Banden bauen dann faschistische Parteien auf, ihre Führer orchestrieren sie und errichten so faschistische Herrschaftssysteme.

Franz Neumann – der Justiziar der Weimarer Gewerkschaften und späteres frühes Mitglied der Frankfurter Schule – erarbeitete diese Theorie, basierend auf einer Unterscheidung zweier Typen von Herrschaftssystemen beim britischen Philosophen Thomas Hobbes. Dieser hatte in seiner Leviathan-Theorie eine Staatstheorie aufgestellt, bei der eine einzelne Macht, die durch alle Einwohner*innen des Landes gebildet wurde, eine Stabilität schaffte, die den zu seiner Zeit herrschenden religiösen Bürgerkrieg beenden konnte (eine der zentralen säkularen Staatstheorien, da keine göttliche Legitimation in ihr eine Rolle spielt). Doch für Hobbes bestand auch eine Alternative zum Leviathan, die er als „Behemoth“ beschrieb und die auf das sogenannte Lange Parlament verwies, in dessen Zeit Leib und Leben der Einzelnen in England in erheblicher Gefahr waren.

Die Behemoth-Theorie Franz Neu
manns war und ist äußerst einfluss­reich. Neumanns gleichnamiges Werk 
stellte die erste Analyse des National­sozialismus dar. Sie hat Schwächen, wenn es um den Antisemitismus geht, da der Zusammenschluss zu Banden für den Einzelnen doch einen rationalen, auf Überleben gerichteten Akt darstellt. Spätestens der Vernichtungsantisemitismus streift diese Rationalität jedoch ab, erweist sich als Wahnsystem, dem die Vernichtung wichtiger als das eigene Überleben ist.

Für die Säkulare Welt scheint mir aber die Betonung des Bandenwesens in der Behemoth-Theorie, dessen faschistische Lenkung nur eine Möglichkeit darstellt, zentral. Die Aus­einandersetzungen, wieweit islamistische Herrschaftssysteme Faschismen sind, löst sich so. Beide fallen in diese Klasse.

Säkulare Menschen werden absehbar in großen Teilen der Welt erst einmal minoritär bleiben und befinden sich außerhalb von Leviathan-Systemen in Lebensgefahr. Sie bilden für nichtsäkulare Gemeinschaften Außenseiter, ohne Leviathan fehlt ihnen eine Schutzmacht.
Die Rackettheorie bietet aber auch einen Kompass für Bündnisse. Nur Herrschaftssysteme, in denen eine einheitliche Macht auf einem Gebiet herrscht, kommen als Bündnispartner in Frage. Diese können staatlich oder auch nichtstaatlich sein. Das nordsyrische Rojava und das nordirakische Gebiet bieten einen Schutzraum auch für Säkulare.

Kommunitarismen bilden hierzu das Gegenmodell: Staatliche Aufgaben werden an Gemeinschaften abgegeben. Als dies in Großbritannien versucht wurde, zeigte sich beispielsweise, dass die konservativen Clan- und Familienstrukturen die jüngeren Gene­rationen nicht mehr integrieren konnten. Die Loslösungsprozesse äußerten sich 2011 bei den Krawallen in London gewaltförmig.

Den Kommunitarismen stellen wir Säkulare bereits die Konzeption des „One Law for All“ entgegen. Wir verteidigen die Rechte der Individuen gegenüber der Anmaßung von Gemein­schaften, in die die Individuen hineingeboren sein sollen. Dem Druck, uns Gemeinschaften anzuschließen, müssen wir uns immer wieder verweigern. Wir sollten dabei aber gleichzeitig immer bereit sein, an der Gesellschaft teilzunehmen.

Eine Gesellschaft ist nicht deckungsgleich mit dem Staat. Allerdings sind staatliche Institutionen wesentliche Elemente einer Gesellschaft. Was unter Staat verstanden wird, befindet sich im laufenden Wandel. Aus unserer westeuropäischen Tradition denken wir in den Formen der französischen Republik und des vorherigen Absolutismus. Aus den Auseinandersetzungen mit diesen stammt auch die Idee der Trennung von Kirche und Staat: die Machtbasis der katholischen Kirche im französischen Bildungssystem und Militär führte zu einem faktischen stillen Bürgerkrieg bis 1905. Erst die Trennung von Kirche und Staat, die Schaffung des Laizismus, beendete diesen Kampf. Bereits in Deutschland liegt eine ganz andere Geschichte vor: Die gescheiterte Entwicklung zur Republik Anfang des 19. Jahrhunderts und das Bündnis von Thron und Altar beschäftigen uns bis heute.

Es lohnt aber, uns weltweit die jeweiligen entstehenden und vergehenden Herrschaftssysteme anzuschauen, denn zukünftig wird die Westfälische Staatenordnung nicht mehr den Maßstab für die ganze Welt darstellen. Dennoch gibt es Systeme, in denen wir Säkulare leben können und solche, die gegen uns vorgehen. Leider von letzterem immer mehr.

Als Säkulare müssen wir lernen, Herrschaftssysteme zu beurteilen. Franz Neumann kann uns dabei helfen. Zumal über diesen gerade einige spannende Publikationen erscheinen.

Literatur
Thomas Hobbes: Behemoth oder Das Lange Parlament, Hamburg 2015.
Franz Neumann: Behemoth. Struktur und Praxis des Nationalsozialismus 1933-1944, Frankfurt am Main 1984.
Thorsten Fuchshuber: Zur Racket-Theorie von Max Horkheimer. Rekonstruktion und Relevanz einer Herrschaftstheorie, Brüssel/Hannover 2015.