Schwerpunktthema | Veröffentlicht in MIZ 4/21 | Geschrieben von Viola Schubert-Lehnhardt und Nicole Thies

„Wo bleiben Autonomie, Freiwilligkeit und Authentizität des Menschen bei einem solchen Menschenbild?“

Gespräch mit Viola Schubert-Lehnhardt über Human Enhancement

Nicht nur die Menschen, die mit Science Fiction aufgewachsen sind, und die Welt der Borgs, Datas und Co. mochten, haben sich Gedanken über Optimierung menschlicher Fähigkeiten durch Technik gemacht. Täglich erfahren Menschen ihre Grenzen. Der Drang nach Optimierung fängt schon beim Immunsystem an. Was genau meint „Human Enhancement“? Wohin steuert die Medizin? Nicole Thies sprach für die die MIZ mit der Medizinethikerin Viola Schubert-Lehnhardt über die Definition, die Debatte und ihre Einschätzung der Problematiken.

MIZ: Was ist Human Enhancement?

Viola Schubert-Lehnhardt: „Human Enhancement“ wird verstanden als Veränderung bzw. genauer „Verbes­serung“ (ich setze dies in Anführungs­zeichen, weil noch darauf einzugehen sein wird, was eigentlich „Verbes­serung“ bedeutet) des eigenen menschlichen Körpers (auch hier wird noch auf die Anwendung dieses Begriffes bezüglich der Verbesserung des Körpers anderer einzugehen sein). Häufig wird der Begriff übersetzt mit „Selbst­optimierung“.

Während zu Beginn des vorigen Jahrhunderts „Selbstverwirklichung“ das Schlagwort war, ist es jetzt „Selbstoptimierung“ – hinsichtlich der eigenen Gesundheit, Intelligenz, des Gedächtnisses, der Selbstdisziplin und Empathie. Die angewandten Methoden sind sehr weitreichend – von der Anwendung traditioneller Techniken wie Überwindung von Gewohnheiten, Verändern der Lebensführung, Medi­ta­tion, Fitnesstraining etc., bis hin zur Anwendung neuer technischer Möglich­keiten. Dieser Trend (hinsichtlich der erstgenannten Methoden) hat zu einer Fülle von Lebenshilfe- und Ratgeberliteratur, Coaching-Angeboten, Blogs, Vorträgen etc. geführt – d.h. ein riesiger neuer Markt ist entstanden, der immer wieder neu befeuert wird, durch entsprechend vermittelte Leitbilder (fast möchte ich lieber Leidbilder sagen).

Die nachgefragten technischen Mög
lichkeiten reihen sich ein in den großen Bereich der sog. „wunscherfüllenden Medizin“, d.h. es geht hier um Verbesserung eines Zustandes ohne Krankheitswert. Im Einzelfall kann es dabei durchaus schwer sein, die normative Grenze abzustecken: Eine chirurgische Gewichtsreduzierung kann sowohl eine medizinisch notwendige Intervention sein, als auch eine bloße Abhilfe für eine vom Betreffenden als unangenehm empfundene Befind­lichkeit.

MIZ: Warum wollen sich Menschen selbst optimieren?

Viola Schubert-Lehnhardt: Zum ersten einfach deshalb, weil es die Möglich­keiten dazu gibt. Zweitens gibt es inzwischen bereits einen gesellschaftlichen Druck in unserer Leistungsgesellschaft zum möglichst effizienten „Funk­tio­nieren“ und drittens ist dies für einige auch eine Maßnahme gegen em­pfun­dene (oder real vorhandene) Orien­tierungslosigkeit, Ohnmacht und Kon­troll­verlust. Erreichte Ergebnisse/Ziele von Selbstoptimierung schaffen natürlich auch, viertens, Glücksgefühle, Stolz und Zufriedenheit. Diese können dann auf andere Bereiche wirken: „wenn ich das jetzt geschafft habe, schaffe ich das andere auch“.

MIZ: Welche Einsatzformen gibt es bereits in der Medizin?

Viola Schubert-Lehnhardt: Auf eine Möglichkeit habe ich gerade verwiesen. Die Palette ist sehr breit, generell können fünf Bereiche unterschieden werden:

  1. die Veränderung (ich sage bewusst Veränderung, obwohl Anbieter stets von „Verbesserung“ sprechen, aber dazu später mehr) der äußeren Erscheinungsform, d.h. Körpermodifikationen. Traditionell gehört hierzu ästhetische Chirurgie und Zahnmedizin, inzwischen auch die Intimchirurgie bzw. Wachs­tums- 
Hormon-Substitution bei Minderjäh­rigen zur „Optimierung“ der Körper­länge.
  2. Optimierungen bezogen auf die Leistungsfähigkeit – sowohl körperlich wie geistig. Traditionell also Doping, im Bereich des Gehirns, also Neuroenhancement. Gerade dies ist auf Grund der derzeit häufig noch nicht absehbaren Nebenwirkungen (u.a. Persönlichkeitsveränderungen) heftig umstritten.
  3. Veränderungen im emotionalen Bereich – stimmungsaufhellende Methoden, oder jene, die Emotionen auf Wunsch ganz ausschalten. Eine
  4. Kategorie versucht die menschliche Existenz insgesamt zu verändern, d.h. in jeder Lebensphase. Am bekanntesten ist hier Anti-Aging. Hier geht es um spezifische Präferenzen einzelner, so z.B. in der Reproduktionsphase – social freezing (Einfrieren der eigenen weiblichen Eizellen, um den Kinderwunsch in einer späteren, „sozial günstigeren“ Phase, realisieren zu können).

Diese „wunscherfüllende Dienstleis­tungsmedizin“ hat zunehmend breiteren Raum eingenommen, da viele Kliniken und Praxen meinen, dadurch ökonomische Engpässe überwinden zu können, und sie als existenzsichernd betrachten. Befeuert durch die Pharma­industrie, eine hohe Gewinn­marge und entsprechend aufgebaute Menschenbilder ist jedoch auch ein eigener Markt entstanden (d.h. medizinische Anbieter, die gar keine kurative Medizin mehr erbringen), der sehr kritisch zu betrachten ist. Nicht nur weil sie der traditionellen, heilenden oder präventiv wirkenden Medizin Anbieter und Ressourcen entzieht, sondern auch wegen langfristiger gesellschaftlicher Auswirkungen auf unser Menschenbild, unsere Lebensformen und Wertvorstellungen.

MIZ: Welche Zukunftsvisionen und Debatten werden derzeit aus bioethischer Perspektive diskutiert?

Viola Schubert-Lehnhardt: Zum einen gibt es die zentrale Debatte nach der Rolle der Medizin als sozialer Praxis. Hier bleibt es fragwürdig, ob das Ziel der Optimierung eindeutig ausgeschlossen werden kann. Das Fehlen eines Krankheitswertes ist nicht eindeutig, da der Krankheitsbegriff selbst sich im Laufe der Menschheitsgeschichte verändert hat – denken wir nur an die Einstufung von Homosexualität und die damit verbundenen jahrhundertlangen, teilweise heute noch anhaltenden, quälenden Prozeduren zur Anpassung dieser Menschen. Eben habe ich auch schon auf das Beispiel Übergewicht verwiesen.

Weiterhin gibt es eine Debatte zur „Natürlichkeit“. Ist das „Naturgegebene“ ein Wert an sich, den es zu erhalten gilt? Oder darf, kann, soll er stetig verbessert werden? Wer setzt hier Maßstäbe?

  1. Und natürlich die Debatte dazu, was überhaupt „Verbesserung“ heißt – bzw. was gut für Menschen ist. Für die BefürworterInnen von Enhancement ist jede Leistungssteigerung per se eine begrüßenswerte Optimierung. „Doch solche Verbesserungen von Fähigkeiten sind nur so lange tatsächliche Verbes­serungen des Menschen an sich, wie man das Gute für den Menschen definiert, als reibungsloses Funktionieren in einer Leistungsgesellschaft. Es ist hier der soziale Rahmen der Leis­tungs­gesellschaft, der das Gute diktiert“, schreibt Giovanni Maio.1 Damit steht die zentrale Frage im Raum: In welcher Gesellschaft wollen wir leben?

MIZ: Welche Grenzen des Optimierens müssen wir gesellschaftspolitisch diskutieren? Worin bestehen Gefahren?

Viola Schubert-Lehnhardt: Eben habe ich schon die Debatte zum Erhalt der Natur(lichkeit) angesprochen. Das ist ein Strang. Ein anderer ist ganz eng mit Fragen der Gerechtigkeit verbunden – denn es steht natürlich die Frage im Raum: Wer kann sich solche Maßnahmen finanziell leisten; und mit ihrer Beantwortung steht das Problem der weiteren Spaltung der Gesellschaft im Raum – hier dann in „optimierte“ und damit leistungsfähigere Menschen, die sich (und eventuell auch ihre Kinder) dann natürlich auf Grund der besseren Verdienstmöglichkeiten weiter optimieren können, während die ohnehin schon Ärmeren immer weiter zurückbleiben. Und es könnte letztendlich eine Spirale beginnen, in der der Mensch zum Sklaven der eigenen Technik wird…

Ein dritter Strang reiht sich in die Glücksdebatten ein: dieses Effizienzstreben läuft darauf hinaus, Lebens­ziele möglichst ohne oder nur mit geringen Anstrengungen zu erreichen. Besteht Glück aber zum Teil nicht auch in der erfolgreichen Überwindung von Hindernissen und Problemen? Schon 
seit Aristoteles geht die Glücksfor­schung (auch wenn sie damals noch nicht so hieß) davon aus, dass Glück­seligkeit (so sein Begriff) nicht einfach eine Seelenlage ist. Das heißt: „Glückspillen“ ermöglichen kein wirkliches Glück. Giovanni Maio hat dafür das treffende Beispiel gebracht, dass die meisten Menschen den Ersatz eines Kaffee- durch einen Pillenautomaten für abwegig halten würden, da eben das Ziel des Kaffeetrinkens nicht in der bloßen Leistungssteigerung besteht.2
Neben mehr oder weniger kurzfristigen Glücksgefühlen müssen auch gegenteilige Auswirkungen beachtet werden: Stress, Frustration (durch Nichterreichen von Optimierungszielen oder gesellschaftlichen Idealen), Versagensängste und nicht zuletzt gesundheitliche Risiken und eventuelle Spätfolgen.

Viertens, damit bin ich wieder bei der Frage „in welcher Gesellschaft wollen wir leben“, schwächt eine solche Orientierung auf die lediglich eigene Optimierung das Engagement für die Gesellschaft insgesamt, also den Einsatz für Entwicklung von Gemeinwohl und gesellschaftlichem Zusammenhalt. Und letztendlich ist auch zu fragen: Wo bleiben Autonomie, Freiwilligkeit und Authentizität des Menschen bei einem solchen Menschenbild?

Bisher werden Enhancement-Prak­tiken nur im Sinne privater Initiativen bzw. privater Dienst­leis­tungen angeboten und diskutiert. Es gibt allerdings vereinzelt bei TranshumanistInnen auch utopische Überlegungen für eine sozialethisch fundierte Pflicht zum Enhancement. Neben der schon erwähnten Problematik der Verfüg­barkeit dieser Maßnahmen wird von den GegnerInnen dieser Utopien, auch nach der dahinter stehenden Haltung zur Welt und des menschlichen Lebens­zyklus gefragt. Schon vor Jahren wurde den VertreterInnen dieser transhumanistischen Zukunftsvorstellungen entgegengehalten, ihnen ginge es um „eine Haltung der Beherrschung und der Macht, die nicht fähig sei, den Charakter menschlicher Fähigkeiten und Erfolge als Gabe zu schätzen, und dabei den Teil der Freiheit übersieht, der in einer dauerhaften Auseinandersetzung mit dem Gegebenen besteht“.3 Sowohl UtopistInnen wie DystopistInnen halten jedoch die zukünftige Entwicklung von derzeit noch Unmöglichem für möglich – sie unterscheiden sich lediglich in der Bewertung dieser Entwicklungen.

MIZ: Aus feministischer Perspektive wird Kritik geübt an der genetischen Manipulation bei Prämplantations-Diagnosik (PID) zur Verbesserung des Genpools. Welche Möglichkeiten gibt es? Welche kritischen Fragen wirft dies auf?

Viola Schubert-Lehnhardt: Dies ist 
genau genommen ein anderer Diskus­sions­strang, denn „Human Enhance­ment“ meint Selbstopti­mierung (durchaus auch mit Hilfe Dritter). Genau genommen gehört also das eben angeführte Beispiel der Gabe von Wachs­tumshormonen an Minderjährige im Auftrag der Eltern, schon zumindest in eine Grauzone, wird jedoch von den meisten AutorInnen zum Human Enhancement dazu gerechnet.

In jedem Fall eine andere Debatte sind die angestrebten „Verbesserungen“ des Genpools potentieller Kinder durch ihre Eltern. Zum einen geht es hier eindeutig nicht um „Selbstoptimierung“, sondern um die „Optimierung“ Dritter, oder Selektion bestimmter „optimal“ befruchteter Eizellen. Dazu wird nicht nur aus feministischer Perspektive seit Jahrzehnten heftig gestritten, so dass dies ein eigenes Interview wäre – dann aber zum Thema „Genetic Enhancement“.

Zum anderen geht es hier um Veränderungen, die zum Teil vererbbar sind. Auch dies ist bei den genannten Maßnahmen zur Selbstoptimierung nicht der Fall.

Abschließend möchte ich noch anmerken, dass dieses Thema um mit Theodor Fontane zu sprechen „ein sehr weites Feld ist“. Vieles konnte ich hier nicht anführen und diskutieren (z.B. Cyborgs, uploads etc.). Es ist jedoch auch ein sehr spannendes Thema, das die MIZ weiterverfolgen sollte. Aus Sicht der Ethikerin stehen hier für mich wieder die vier berühmten Kantschen Fragen (auch als Grundfragen der Philosophie bezeichnet) zur Debatte:

  1. Was kann ich wissen?
  2. Was soll ich tun?
  3. Was darf ich hoffen?
  4. Was ist der Mensch?

Anmerkungen

1 Giovanni Maio: Mittelpunkt Mensch. Ethik in der Medizin. Ein Lehrbuch. Stuttgart 2012, S. 326.
2 Ebenda, S. 332.
3 Michael Sandel: Plädoyer gegen die Perfektion. Ethik im Zeitalter der genetischen Technik. Berlin 2008, S. 103.