MIZ: Wie hat sich die Lage der Meinungsfreiheit für journalistisch Tätige in Deutschland in den letzten Jahrzehnten entwickelt?
Markus C. Schulte von Drach: Meiner Wahrnehmung nach hat sich vordergründig in den Medien selbst gar nicht viel geändert. Begründbare Meinung dürfen innerhalb von Redaktionen oder auf den Kommentarseiten gesagt und geschrieben werden. Mir persönlich sind keine Regeln oder Vorschriften bekannt, denen man folgen muss, mal abgesehen, dass zum Beispiel die SZ offensichtlich rassistische Haltungen nicht druckt. Es gibt aber wohl eine hintergründige, subtile Entwicklung sowohl in vielen Redaktionen wie in anderen Teilen der Bevölkerung. Ein einfaches, prominentes Beispiel: das „Gendern“. Wer das generische Maskulinum nicht für diskriminierend hält und aus sprachlichen Gründen daran festhalten will – und dafür lassen sich ja Argumente finden –, ist schnell dem Verdacht ausgesetzt, ein Problem mit der Gleichberechtigung zu haben. Wer will das schon? Und so spricht man schließlich doch von „Studierenden“ und macht die Pause zwischen Lehrer und Innen. Nicht nur, damit sich keine nonbinären Personen ausgeschlossen fühlen, sondern damit man nicht als reaktionär erscheint. Ähnlich ist es mit Kritik an Minderheiten. Ich schätze, viele Journalisten spüren da eine Schere im Kopf. Werden auch mal Artikelvorschläge abgelehnt, weil der Inhalt einer Ressortleitung politisch suspekt ist? Das lässt sich nicht ausschließen, weil sich immer genug andere Gründe vorschieben lassen, aber das lässt sich natürlich nicht belegen.
Was deutlich zugenommen hat, ist das Feedback auf Texte – vor allem das negative Feedback. Früher gab es eine Handvoll Leserbriefe, heute kommt der Shitstorm in den Sozialen Medien. Und natürlich gibt es den lauten Vorwurf der Lügenpresse, das hatten wir so seit langer Zeit nicht mehr.
MIZ: Welche Faktoren haben sich positiv ausgewirkt und was hat zu Einschränkungen geführt?
Markus C. Schulte von Drach: Dank Internet und der Sozialen Medien nehmen wir heute die Meinungsvielfalt, die es in unserer Gesellschaft gibt, viel deutlicher wahr als früher – einfach, weil sich fast alle Menschen unmittelbar äußern können. Wir müssen uns nicht mehr an der Speakers Corner auf eine Kiste stellen und auf eine Handvoll Passanten einschreien, sondern können uns eine eigene Homepage basteln, einen Youtube-Kanal starten etc. Das ist nicht schlecht, aber so ist alles auch ziemlich unübersichtlich geworden.
Es werden in unserer Gesellschaft außerdem auch immer mehr Meinungen gehört, weil Minderheiten inzwischen mit am Tisch sitzen und ein Stück vom Kuchen abhaben wollen, wie es der Sozialwissenschaftler Aladin El-Mafaalani sagt. Das ist gut. Nicht gut ist, dass die linke Identitätspolitik, die so an Gewicht gewonnen hat, die Gesellschaft weiter fragmentiert. Ausgerechnet für Linke und Liberale ist es schwierig, das zu kritisieren, weil nun Gegenwind aus den eigenen Reihen kommt. Man spiele den Rechten in die Hände, heißt es dann. Inzwischen ist sogar im Wissenschaftsjournalismus und in den Wissenschaften selbst zu beobachten, dass Werte manchmal höher gewichtet werden als Tatsachen. Aus den Sozialwissenschaften greift das inzwischen auf die Naturwissenschaften über. Begriffe wie Rassismus werden umgedeutet, Diversität ist grundsätzlich etwas Gutes und so weiter... Insgesamt ist die ganze Entwicklung also eine sehr zwiespältige Sache.
MIZ: Von wem geht denn heute die größte Bedrohung für die Meinungsfreiheit aus? Spielt staatliche Repression heute noch die zentrale Rolle oder sind es Zivilklagen oder ist es der „virtuelle Mob“?
Markus C. Schulte von Drach: In Deutschland sehe ich keine staatliche Repression und ich befürchte auch keine, solange die demokratischen Parteien die Regierungen bilden. Ich kenne die Verhältnisse in den öffentlich-rechtlichen Medien zu wenig, um sagen zu können, ob und wie dort Politiker Einfluss nehmen – ausschließen lässt sich das sicher nicht. Früher hieß es schon, dass das ZDF eher konservativ sei, die ARD eher sozialdemokratisch. Ich müsste mal Studien oder Artikel suchen, die den politischen Einfluss offenlegen – keine Ahnung, ob es sie gibt. Aber wenn die AfD weiter an Stärke zulegt, sieht es vielleicht eines Tages anders aus, so wie in Russland, Ungarn und in Polen unter der PiS. Die Rolle von Zivilklagen kann ich nicht einschätzen. Der „virtuelle Mob‟ sollte eigentlich keine Rolle spielen – außer Drohungen müssen ernst genommen werden. Aber natürlich wirken sich negative Reaktionen im Netz immer auf die Psyche aus, und so auf die Lust, sich öffentlich zu äußern. Die größte Bedrohung für die Meinungsfreiheit geht bei uns also wohl von dem gefühlten Druck aus, auf der richtigen Seite zu sein, und der Angst vor sozialer Ächtung. Wobei ich überzeugt bin, dass dieser Druck jeweils nicht von der Mehrheit der Bevölkerung ausgeht.
MIZ: Vor einigen Monaten hat der Tagesschau-Moderator Konstantin Schreiber aus einem tätlichen Angriff die Konsequenz gezogen, sich zum Themenbereich „Islam“ nicht mehr zu äußern. Kennen Sie ähnliche Fälle „freiwilligen“ Verstummens?
Markus C. Schulte von Drach: Der Fall ist extrem frustrierend. Ich kann Schreiber gut verstehen. Es geht einem ja sogar schon an die Nieren, wenn man auf Twitter diffamiert wird. Ich kannte bislang nur Fälle, wo Menschen ihre Jobs gewechselt oder aufgegeben haben, weil der Druck zu groß geworden ist – etwa die britische Philosophin Kathleen Stocks, die von Transaktivisten aus ihrer Professur an der Universität von Sussex gemobbt wurde. Die meisten, von denen ich so etwas gehört habe, sind aber nicht völlig verstummt, sondern machen weiter, zum Glück. Es gibt natürlich eine Menge Leute, die sich aus bestimmten Bereichen zurückziehen, zum Beispiel von Twitter. Wie jüngst der Deutschlandfunk. Ein Radiosender beschneidet sich damit selbst in der Reichweite. Wegen Elon Musk und einer Reihe von Rechten und Idioten das Handtuch zu werfen, ist schon schwach.
MIZ: Wir haben den Eindruck, dass wir gerade einen tiefgreifenden Strukturwandel der Öffentlichkeit erleben: Medien, die kontroverse Stimmen gleichberechtigt darstellen,verlieren an Zuspruch; immer mehr Menschen rezipieren vor allem Medien, die ihre Auffassungen bestätigen: Binnenpluralität wird immer weniger in ihrer Bedeutung für politische Debatten anerkannt. Wie schätzen Sie das ein?
Markus C. Schulte von Drach: Auch Zeitungen, die eine gewisse Meinungsvielfalt abdecken und zumindest außerhalb der Kommentarseiten um Objektivität bemüht sind, lassen sich zum Glück derzeit weiterverkaufen. Auch früher war die Leserschaft etwa der SZ oder der FR ja nicht identisch mit der von FAZ oder Welt, das war und ist immer auch eine Frage der politischen Orientierungen. Aber mein Gefühl ist auch, dass die Empörung über Beiträge, die der eigenen Überzeugung nicht entsprechen, zugenommen hat. Ich bin kein Sozialwissenschaftler, aber ich habe den Eindruck, dass unsere Gesellschaft den Menschen derzeit sehr viele Veränderungen in kurzer Zeit zumutet, nicht nur materiell. Man sucht umso mehr nach eigener Bestätigung, gerade auch im Lieblingsmedium. Kommt die nicht, fühlt man sich verraten. Äußerungen in diese Richtung habe ich schon selbst gelegentlich gehört.
MIZ: Haben die Sozialen Medien einen Zuwachs an Meinungsfreiheit mit sich gebracht oder wirken sie sich diesbezüglich eher problematisch aus?
Markus C. Schulte von Drach: Ich glaube, es geht weniger um Meinungsfreiheit als vielmehr um einen Zuwachs an Möglichkeiten, mehr Meinungen zu hören, sich selbst zu äußern und Gesinnungsgenossen zu finden. Algorithmen, die dazu dienen, die Menschen auf bestimmten Seiten zu halten, indem sie entsprechend gefüttert werden, sind natürlich ein riesiges Problem, wenn ich meine Meinung weiter entwickeln möchte. Vielleicht sind diese Bubble-Effekte gar nicht so stark, wie wir befürchten. Aber da es den Anbietern nicht um Meinungsfreiheit an sich geht – da kann mir Elon Musk erzählen, was er will –, sondern um Profit, machen mir diese Entwicklungen große Bauchschmerzen.
MIZ: Wir stellen fest, dass in letzter Zeit zunehmend die Grundrechte auf freie Meinungsäußerung und Religions- und Weltanschauungsfreiheit gegeneinander ausgespielt werden. Wie ist da Ihre Beobachtung?
Markus C. Schulte von Drach: Das ist eine interessante Frage, auch vor dem aktuellen Hintergrund, dass in Deutschland jetzt verboten ist, ein von Juden befreites Palästina „from the river to the sea“ zu fordern, weil es antisemitisch ist. Meiner Meinung nach eine richtige Entscheidung, weil es letztlich um Volksverhetzung geht, das ist nicht nur ein Meinungsbeitrag in einer Diskussion. Aber darüber lässt sich sicher streiten. Ein Paradebeispiel für den von Ihnen angesprochenen Konflikt ist die Islamkritik. Wie bei allen Religionen gibt es da eine Menge zu kritisieren. Aber auch wer fragwürdige Inhalte einer Religion anspricht, ohne dabei alle ihre Anhänger zu diffamieren, vernebelt ja vielleicht nur seine eigentlich islamophobe Einstellung und spielt wieder den Rechten in die Hände – heißt es. Nehmen wir mal diesen Satz aus dem Abschlussbericht des Unabhängigen Expertenkreises Muslimfeindlichkeit 2023, über den ich genauso gestolpert bin wie Ihr Autor Romo Runt: „Auch wenn eine einzelne Person eine bestimmte Kritik an einer islamisch motivierten Praxis vielfach zu Recht übt, ist sie Teil einer Diskursprägung, die in ihrer Gesamtheit einen generalisierenden Charakter trägt und damit rassistische Routinen ausprägen kann.‟ Was soll man mit einer solchen Feststellung anfangen? Selbst wenn Sie berechtigte Kritik üben wollen, sollen Sie es besser bleibenlassen, weil Sie Islamophobie anheizen können? Das ist natürlich inakzeptabel. Dazu kommt die Rücksicht, zu der sich viele ausgerechnet gläubigen Menschen gegenüber verpflichtet fühlen. Der Glaube scheint für viele eine Art Tabuzone zu sein. Eigentlich absurd.
MIZ: Neben Ihren journalistischen Texten haben Sie auch Romane veröffentlicht: Hat Literatur eigentlich größere Freiräume als politischer Journalismus?
Markus C. Schulte von Drach: Romane sind fiktiv. Sie sollen Geschichten gut erzählen, nicht Geschichte wiedergeben – egal, wie nahe sie der Realität kommen. Das erweitert die Freiräume gegenüber dem Journalismus extrem, der ja berichten soll, was ist, war oder tatsächlich sein könnte. Romanautoren orientieren sich natürlich auch häufig an der Realität. Ich habe selbst versucht, alles Fiktive gewissermaßen in die Realität hineinzuweben, ohne Widersprüche. Vielleicht soll ein Roman auch informieren, auf Probleme aufmerksam machen, alles ist möglich, aber nicht nötig. Aber was ist zum Beispiel, wenn alle Schwarzen in einem Roman böse sind, alle Weißen strahlende Helden? Und was, wenn es umgekehrt wäre? Ich glaube, solche Bücher würden in unserer Gesellschaft als rassistisch und peinlich abgelehnt, wenn es denn je einen Verlag fände, der sie veröffentlicht. Unsere Gesellschaft könnte dann an der Reaktion gemessen werden, statt – wie zu erwarten wäre – als strukturell rassistisch diffamiert zu werden, weil so etwas überhaupt auf den Markt kommen darf. Und wenn ein Buch eine antisemitische Botschaft vermittelt? Angesichts unserer Geschichte noch schwieriger. Ich hoffe einfach, es gibt Menschen, die erkennen, wenn die Grenze zur Volksverhetzung übertreten wird. Ich bin kein Jurist, aber ich halte unsere Gesetze dazu – im Gegensatz zum Blasphemieparagrafen, der abgeschafft werden sollte – immer noch für richtig.