Allgemeines | Veröffentlicht in MIZ 4/23 | Geschrieben von Gunnar Schedel

Meinung – frei bilden, äußern, ändern

„Freiheit ist immer Freiheit der anders Denkenden“, lautet das wahrscheinlich bekannteste Zitat der sozialistischen Denkerin Rosa Luxemburg. Und sie erläutert auch gleich, warum sie das als wichtig ansieht: Nicht aus grundsätzlichen Gerechtigkeitsvorstellungen, sondern „weil all das Belehrende, Heil­same und Reinigende der politischen Freiheit“ daran hänge, also ein gesellschaftlicher Nutzen in der Konkurrenz der Denkansätze liege, weil auf diese Weise bessere Lösungen für anstehende Probleme gefunden werden können. Luxemburg bezieht ihre Ausführungen auf die revolutionäre Situation in Europa während des zuende gehenden Ersten Weltkrieges und kritisiert in ihrer Fragment gebliebenen Schrift Die Russische Revolution die autoritären Züge der bolschewistischen Partei­herrschaft.

Dieses Kontextes entkleidet kann ihre Parole auf die Frage nach der Meinungsfreiheit übertragen werden: Meinungsfreiheit herrscht, wenn auch die jeweils anders Denkenden ihre Meinung frei äußern können. Aus der Vielzahl der Vorschläge kann dann in einem herrschaftsfreien Diskurs, wie ihn sich Jürgen Habermas vorstellte, das beste Argument gefunden werden, aus dem sich wiederum die Antwort für die zu lösenden Aufgabe ableiten lässt. Im herrschaftsfreien Diskurs gibt es „keine Hierarchie zwischen den Diskursteilnehmern, alle haben die gleiche Möglichkeit, ihren Standpunkt zu Gehör zu bringen und zu begründen, niemand wird zum Schweigen gebracht, niemand beansprucht für sich die Diskurshoheit. Die Teilnehmer an einem Diskurs begegnen sich auf Augenhöhe, sie hören einander zu, schneiden sich nicht das Wort ab und beenden die Kommunikation nicht willkürlich.“1
Soweit das Ideal.

Wer über Meinungsfreiheit nachdenkt, sieht sich aber weiteren Fragen gegenüber. Was ist eigentlich eine „Meinung“? Ist das jede Äußerung, die an die subjektive Perspektive einer Person geknüpft ist? Haben wir es mit einer Meinung zu tun, wenn jemand sagt: „Die Werauchimmers sind Untermenschen“? Ist es eine Meinung, wenn jemand sagt: „Die Werauchimmers sind Untermenschen, und ich fände es gut, wenn sie aussterben würden“? Liegt eine Meinung vor, wenn jemand sagt: „Die Werauch­immers sind Untermenschen, und es wäre besser für die Welt, wenn jemand käme und sie beseitigen würde“?

Die meisten dürften den Satz kennen: „Faschismus ist keine Meinung, Faschismus ist ein Verbrechen“. Mit Blick auf die Geschichte spricht einiges für die Richtigkeit dieser Aussage – aber was heißt das dann in Bezug auf die Meinungsfreiheit? Die Antworten der bürgerlich-demokratischen Staaten sind hier durchaus nicht einheitlich. In Deutschland und vielen anderen europäischen Staaten wird beispielsweise die Leugnung des Holocausts strafrechtlich verfolgt; in den USA, aber auch in Großbritannien und skandinavischen Ländern ist dies kein Straftatbestand.

Aber auch jenseits der Kriminali­sierung von Meinungen ließe sich fragen: Ergibt sich aus der Geschichte in bestimmten Fällen die Pflicht, Men­schen vor Meinungen zu schützen? Unter der Bezeichnung „Cancel Cul­ture“ schwappt derzeit eine Welle von Verbots­ansinnen vor allem durch akademische Einrichtungen. Begründet werden diese mit dem Schutz bestimmter, meist margnalisierter Bevölke­rungs­gruppen. Tatsächlich stellt sich die Frage, ob einem Juden, dessen Großeltern in der Gaskammer ermor­det wurden, Spekulationen zuzumu­ten sind, ob es den Holocaust so über­haupt gegeben hat. Oder ob ein Ver­gewaltigungsopfer sich anhören muss, dass Frauen mit „zu knapper“ Kleidung es ja eigentlich drauf anlegen. Doch an­dererseits: Die Einschränkung der Mei­nungsfreiheit mit dem Schutz vermeintlich Schutzbedürftiger zu rechtfertigen, ist nicht neu. So manches Kunstwerk, das heute im Museum die Moderne repräsentiert, sah sich zu den Zeiten seiner Entstehung mit der Forderung konfrontiert, es aufgrund des Jugendschutzes nicht öffentlich auszustellen. In Debatten über Sexualität wird diese Einschränkung bis heute eingesetzt. Vor allem wäre dann zu klären, welche gesellschaftliche Instanz festlegen darf, wann ein solcher Schutz-Fall vorliegt. Die real existierende Cancel Culture trägt eher Züge der Willkür und nur selten werden differenzierte Begründungen, abgegeben, wenn die Meinungsfreiheit mit Hinweis auf eine schutzbedürftige Gruppe eingeschränkt wird.

Andererseits ist auch der Begriff „Frei­heit“ nicht so klar definiert, wie es im ersten Moment scheinen mag. Eine strafrechtliche Verfolgung ist ganz eindeutig eine Einschränkung der Meinungsfreiheit, doch gerade in Kreisen der Alternative für Deutschland (AfD) werden andere Maßstäbe angelegt: „Eine Sperre auf Facebook, die Benachteiligung im Job – oder sogar das öffentliche Abwatschen bis hin zur Hausdurchsuchung, weil man mal etwas Unbequemes gesagt hat: Wer heutzutage die falschen Ansichten äußert, muss mit Konsequenzen rechnen.“2 Ist öffentlich „abgewatscht“ zu werden – also Widerspruch zu erfahren – bereits ein Zeichen für fehlende Freiheit? Kann Meinungsfreiheit nur durch staatliche Repressionen beschädigt werden oder auch durch sozialen Druck? Wie viel Zivilcourage ist dem „mündigen Bürger“ resp. der mündigen Bürgerin zuzumuten, um öffentlich umstrittene Thesen (also Aussagen, über die Streit zu erwarten ist) zu vertreten? Heißt Meinungsfreiheit, dass jede geäußerte Meinung unwidersprochen stehenbleiben muss?

Ein dritter Aspekt, der nicht im Be­griff Meinungsfreiheit enthalten ist, aber in der zitierten Definition von herr­schaftsfreiem Diskurs: Eine Meinung muss nicht nur geäußert, sondern auch wahrgenommen werden, um Wir­kung zu entfalten. Die Freiheit, eine Meinung zu äußern, erfordert also auch eine Möglichkeit, sich Gehör zu verschaffen.

Noch vor 50 Jahren waren die „Gatekeeper“ in den Medien von zentraler Bedeutung: Sie bestimmten, welche Nachricht, welche Meinung, welche Perspektive den Weg in Zeitungen, Magazine und Rundfunk fand. Wer in ihren Augen nichts zu sagen hatte, war in den Massenmedien nicht vorhanden und musste sich andere Wege suchen, die Menschen zu erreichen. Mit dem Aufkommen des Internets hat sich das grundlegend verändert: Mancher post „geht viral“, gerade weil die Aussage in den herkömmlichen Medien keine Beachtung gefunden hat.

Aber dass im Internet alle mit geringem technischen Aufwand zu Wort kommen können, bedeutet nicht, dass die Kommunikation dort nach den Regeln des herrschaftsfreien Diskurses abläuft. Algorithmen übernehmen die Funktion, die einst die Chefredaktion innehatte: Sie bestimmen, was ich zu sehen bekomme und was nicht. Wenn Meinungsfreiheit auch den Aspekt umfasst, seine Meinung aufgrund neuer Informationen ändern zu können, muss die Erzeugung von Filterblasen als problematisch angesehen werden. Denn durch die selektive Sichtbarkeit wird der Zugang zu abweichenden Meinungen erschwert. Aber auch hier stellt sich die Frage: Wie viel Eigeninitiative ist dem „mündigen Bürger“ resp. der mündigen Bürgerin zuzumuten, um sich umfassend zu informieren?

Soweit die eher theoretischen Über­legungen.

Der Tag, an dem ich das Editorial niederschreibe, ist der 7. Januar 2024, also der neunte Jahrestag des Mordanschlags auf die Charlie Hebdo-Redaktion. An diesem Tag wurde die Bedrohung der Meinungsfreiheit konkret.

Erschreckend war nicht allein die Tat – die war ohnehin nur in der Quantität einzigartig: Jeden Tag bezahlen Journalistinnen, Künstler, Polit­aktive ihre Meinung mit ihrem Leben. Erschreckend war auch, mit welchem Verständnis, teilweise sogar Begeisterung das Verbrechen kommentiert wurde.3 Nicht in Riad oder Teheran, sondern in Berlin, Paris und New York; nicht von Marginalisierten und Nieerhörten, sondern von gebildeten, wirtschaftlich arrivierten Leuten. Die Bedrohung der Meinungsfreiheit geht nicht nur von den Gewalttätern aus, sondern auch von der Zustimmung, die sie ermutigt.

Dass die Täter religiöse Fanatiker waren, sollte nicht als Zufall gesehen werden. Zwar werden unliebsame Meinungen von den verschieden­sten Ideologien verteufelt, von unter­schiedlichen Regimen verfolgt, aber Religionen haben sich in der Ver­gangenheit als besonders unduldsam gegenüber Abweichung und Ablehnung erwiesen. Insbesondere Ungläubige können ein Lied davon singen, und die Älteren unter unserer Leserschaft haben es möglicherweise sogar noch selbst erlebt, wie es ist, die eigene Meinung nicht frei aussprechen zu können, weil ansonsten der „soziale Tod“ gedroht hätte. Und es ist gerade einmal 30 Jahre her, dass ein CDU-Abgeordneter im hessischen Landtag einen Bezug des Atheistenkongresses in Fulda zum Terrorismus herzustellen sich bemühte.

Diese Situation hat sich grundlegend geändert: In Deutschland und vielen anderen europäischen Ländern ist der nichtreligiöse Anteil der Be­völkerung stark angestiegen. Die Präsenz kirchenkritischer Themen in den Massen­medien hat deutlich zugenommen und oft genug kommen auch die Verbände zu Wort. Es ist nicht mehr so, dass eine christliche Mehrheit, Nicht- und Andersgläubige nicht zu Wort kommen lassen möchte, und es ist auch nicht mehr so, dass mächtige Organisationen, die Kirchen, den Einfluss haben, ihnen unangenehme Berichterstattung oder Kunst zu unterbinden. Sicher, manchmal gelingt es noch, aber der Regelfall ist das nicht mehr.

Die Widerkehr der religiösen Un­duldsamkeit verläuft unter völlig anderen Vorzeichen: Eine Minderheit innerhalb einer religiösen Minderheit beansprucht, dass die Mehrheit – nicht nur innerhalb ihrer Religion, sondern der gesamten Gesellschaft – ihren Vorstellungen, was gesagt werden darf und was nicht, zu folgen habe. Und begründet ihren Anspruch, die Meinungsfreiheit einzuschränken, mit 
ihrem Minderheitenstatus.

Hier treffen sich dann Cancel Culture und reli­giöser Fanatismus, hier findet sich die Erklärung für den Applaus für die Mörder vom 7. Januar. Hier entlarvt sich aber auch die Vorstellung von Meinungsfreiheit der AfD, die diese laut­stark für ihre eigenen Positionen einfordert, gleichzeitig aber Predigten in Moscheen, die nicht in deutscher Sprache gehalten werden, verbieten möchte.

In unserem Schwerpunkt wollen wir zumindest einige dieser Aspekte anreißen. Im Zentrum steht die Befürchtung, dass das Attentat auf die Charlie Hebdo-Redaktion nicht dazu geführt hat, dass die Meinungsfreiheit heute von der überwiegenden Mehrheit der Gesellschaft entschlossen verteidigt wird – wenn es nicht um die eigene Meinung geht.

Anmerkungen

1 Julian Nida-Rümelin: Projekt der Aufklärung: Demokratie. Vom öffentlichen Vernunftgebrauch und einer vitalen Zivilkultur, in: Politik & Kultur 9/2023.
2 Umfrage zeigt dramatischen Zustand der Meinungsfreiheit: Weg mit den Maulkörben! – AfD Kompakt. Mitglieder Magazin (Zugriff 7.1.2024).
3 Viele, teils erschreckende Beispiele finden sich in Richard Malka: Das Recht, Gott lächerlich zu machen. Aschaffenburg 2023, Kapitel „Die in die Glut geblasen haben”.

Feedback-Videokonferenz mit der MIZ-Redaktion

am 20.2.2024, 19.3o Uhr

Zum mittlerweile 6. Mal lädt die MIZ-Redaktion zu einer Videokonferenz ein, auf der über das aktuelle Heft diskutiert werden kann. Wer daran teilnehmen möchte, soll sich bitte bei der IBKA-Geschäftsstelle oder der MIZ-Redaktion bis 19.2. anmelden, damit der Zugangslink geschickt werden kann. Die im IBKA üblichen Datenschutzregelungen werden beachtet.

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