Schwerpunktthema | Veröffentlicht in MIZ 1/13 | Geschrieben von Heiner Jestrabek

Blasphemie in China? Kein Thema

Blasphemie (blasphêmía βλασφημία, griech. „Rufschädigung“, im engeren Kontext „Gotteslästerung“) bedeutet, dass ein in seiner Existenz zwar nicht bewiesener „Gott“ oder bestimmte Glaubensinhalte einer Religion verneint, verhöhnt, verflucht oder belacht werden. Und dieses „Verbrechen“ müsse eine irdische Gesellschaft angeblich ahnden. Eine kuriose Annahme, denn ein angenommener Allmächtiger müsste eigentlich selbst in der Lage sein, sich zu wehren. Die übertriebene Gereiztheit der Religiösen macht wohl nur Sinn, wenn sie meinen, stellvertretend handeln zu müssen. Aber das müssen wir Nichtreligiösen ja nicht verstehen. Wenn allerdings „Blasphemie“ vom Staat geahndet wird, macht die Frage nach dieser Anmaßung schon Sinn.

Die europäische Geschichte (und mit ihr die Kontinente, die den „Segnungen“ von Kolonialismus und Missionierung unterworfen waren) kennt viele Beispiele für staatliche Gewalt als Instrument der öffentlich geförderten Religionen. Eine offene Kumpanei von Staat und Kirche aus der Zeit des fürstlichen Gottesgnadentums und der Summespikopate1 wird hier bis in unsere heutige Demokratie hinübergerettet, wie nicht nur der lächerliche § 166 StGB2 zeigt. Eine Strafandrohung für diejenigen, die den offiziösen religiösen Kultlegenden nicht glauben und sich des Lachens nicht enthalten können, ist wiederum religiöse Unterdrückung der Nichtgläubigen.

In ganz Ostasien gibt es politische Verfassungen, die ohne Gottesbezug und Privilegierung offiziell geförderter Religionskulte auskommen.

Westliche Politiker versäumen es fast nie, bei Staatsbesuchen in China auf die Menschenrechtsituation hinzuweisen. Aber würde es uns Europäer nicht verwundern, wenn ein chinesischer Politiker bei einem Staatsbesuch die oben genannten religiösen Menschenrechtsverletzungen anprangern würde?

Die chinesische Staatstradition jedenfalls kümmert sich nicht um „Blasphemien“. Seit den kaiserlichen Dynastien über die Zeit der Republik bis hin zur Volksrepublik ist der chinesische Staat vorwiegend politisch laizistisch organisiert und in der Regel ohne dominierenden klerikalen Einfluss gewesen. Die weltlichen Herrscher waren stark genug, ihre Autokratie auch ohne eine klerikale Kaste auszuüben (lamaistische Priesterherrschaften zur Staatsraison duldeten die Dynastien hauptsächlich nur in den rückständigen Randgebieten wie Mongolei und Tibet).

Ausdruck einer – zumindest auf dem Papier stehenden – laizistischen Staatsordnung ist der Text der Verfassung der VR China von 1982. Der Artikel 36 lautet:

„Die Bürger der Volksrepublik China genießen die Glaubensfreiheit. Kein Staatsorgan, keine gesellschaftliche Organisation und keine Einzelperson darf Bürger dazu zwingen, sich zu einer Religion zu bekennen oder nicht zu bekennen, noch dürfen sie jene Bürger benachteiligen, die sich zu einer Religion bekennen oder nicht bekennen. Der Staat schützt die normalen religiösen Tätigkeiten. Niemand darf eine Religion dazu benutzen, Aktivitäten durchzuführen, welche die öffentliche Ordnung stören, die körperliche Gesundheit von Bürgern schädigen oder das Erziehungssystem beeinträchtigen. Die religiösen Organisationen und Angelegenheiten dürfen von keiner ausländischen Kraft beherrscht werden.“ (Letzteres gilt z.B. für den katholischen Papst in Rom. Die chinesische katholische Kirche hat als offizielles Oberhaupt einen chinesischen Bischof). Eine ähnlich verhängnisvolle und dominierende Rolle, wie die der Päpste in der europäischen Geschichte, wäre in der chinesischen Geschichte undenkbar gewesen.

Traditionell selten dogmatisch

Auch die chinesische intellektuelle Elite war selten dogmatisch. Chinesische Geisteswissenschaften (von Philosophie wird erst seit rund hundert Jahren gesprochen) waren immer sehr praxisorientiert. Im Gegensatz zur traditionellen indischen oder zur mittelalterlichen europäischen Philosophie waren hier metaphysische Spekulationen eher die Ausnahme als die Regel. Auch sah man eine Erkenntnis um der Erkenntnis willen als nicht nützlich an. Viel wichtiger war dagegen das Streben nach Harmonie, nach dem „Goldenen Mittelweg“ oder nach „Maß und Mitte“. Damit zusammen hing auch die Gegnerschaft zur Einseitigkeit und zum Extrem. In einer häufigen Tendenz zum Synkretismus wurde sogar versucht, daoistisches oder buddhistisches Gedankengut mit der laizistischen kongfuzianistischen Staatsdoktrin zu vermengen. Als tugendhaft galt unter chinesischen Weisen sogar eine ausgesprochene weltanschauliche und religiöse Toleranz. Es wird zwar von vielen geistigen Auseinandersetzungen berichtet, aber gewaltsame Bekehrungs- und Unterdrückungsversuche hat es von wenigen Ausnahmen abgesehen nicht gegeben. (Ganz zu schweigen von Inquisition, Ketzergerichten, „Hexen“verfolgungen, Philosophie als „Magd der Theologie“, oder dem christlichen Postulat: Credo quia absurdum est (lat. „ich glaube, weil es unvernünftig ist“).

Der seit über 2.000 Jahren dominierende Kongfuzianismus befasste sich überwiegend mit weltlicher Ethik und war in Religionsfragen agnostisch. Kong Fuzi (um 551-479 v.u.Z.) wird der Ausspruch zugeschrieben: „Wo soll man so viel Zeit hernehmen, sich auch noch um Götter und Dämonen zu kümmern?“ des letzten Jahrhunderts formulierte der moderne Kongfuzianer Gu Hongming (1857-1928): „Manche sagen, der Kongfuzianismus sei keine Religion, und er ist es auch nicht im europäischen Sinn des Wortes; aber darin, sage ich, liegt gerade seine Größe, dass er keine Religion ist und doch die Stelle der Religion einnehmen kann, dass er die Menschen ohne Religion auszukommen lehrt.“

Es gab aber auch in der chinesischen Geschichte Versuche der Klerikalen, Dominanz in der Politik auszuüben. Zu Beginn unserer Zeitrechnung begann sich der Buddhismus von Indien her kommend in China zu verbreiten. Es dauerte einige Jahrhunderte, bis er mehr und mehr assimiliert wurde und sich an die herrschenden feudalen Sitten und Regeln ebenso wie an die bestehenden religiösen Systeme angepasst hatte. In vielen bäuerlichen Gemeinden überholte er an Popularität die Daoisten. Während der Liang-Dynastie (5./6. Jh. u.Z.) wurde der Buddhismus sogar einige Zeit zur Staatsreligion erklärt. Zehntausende Klöster, die als große Feudalherrschaften fungierten, und hunderttausende von Mönchen lasteten schwer auf der Wirtschaft und führten dadurch zu einer politischen Krise.

Antibuddhistische Aufklärung

Der kongfuzianistische Gelehrte Fan Zhen (um 450-515) pflegte einen scharfsinnigen Schreibstil, voller sarkastischer Betrachtungsweisen des zeitgenössischen Geschehens. Er griff den Aberglauben seiner Zeit und gezielt die geistige Grundlage der buddhistischen Lehre, die Unsterblichkeit des Geistes, an.

Mit seiner Streitschrift Über die Sterblichkeit des Geistes Shén miè lùn brachte er die gesamte etablierte Intelligenz seiner Zeit, einschließlich Kaiser Wu Di, gegen sich auf. In dieser Schrift widerlegte er mit logischen Argumenten die Metempsychose (Seelenwanderung) und das Karma (Vergeltungslehre) der Buddhisten. Er legte dar, dass der Geist eine Erscheinungsform des Körperlichen ist und als solche gleichzeitig mit dem Körper zugrunde geht. Der Kaiser persönlich beauftragte 64 Gelehrte, Fan Zhen zu widerlegen und zahlreiche Schriften zu verfassen. Damit wollte er die buddhistische These von der „unabhängigen Existenz der Seele“ von allen Seiten beleuchten und untermauern. Viele dieser Widerlegungsversuche der Höflinge und Mönche sind erhalten geblieben. Fan konnte sie seinerseits schlüssig widerlegen und ließ sich weder durch Drohungen noch Bestechungsversuche irreführen oder beeindrucken. Dabei war sein Grundmotiv für seine Darlegungen lediglich, Schaden vom Staat fernzuhalten und den finanziellen Ruin zu verhindern. Die zahlreichen Schenkungen an die Tempel und die Förderung der – in Fans Augen – parasitären Mönche und Nonnen sollten beendet werden und die Regierenden sollten sich dem rationellen „rechten Weg“ des Kongfuzianismus wieder zuwenden. Er schrieb: „Die buddhistischen Mönche richten den Staat zugrunde und verderben die Sitten. Ihr Unwesen ist wie ein Unwetter ausgebrochen und führt zu nimmer endender Verschwendung. Ich bedauere diese Missstände und suche die Menschen aus dem Pfuhl der Verdammung emporzuheben. Denn warum vergeuden die Leute ihr Geld und Gut und richten sich zugrunde, nur um den Mönchen zu dienen und Buddha zu verehren, statt für ihre Verwandten zu sorgen und den Armen zu helfen? Sicherlich doch nur deshalb, weil ihnen ihr persönliches Seelenheil mehr am Herzen liegt, als ihnen die leiblichen Bedürfnisse ihrer Mitmenschen bedeuten.“

In Zeiten der Tang-Dynastie (618-907), einer Zeit der kulturellen Blüte, stand das Reich unter multikulturellen Einflüssen, mit einer weitgehenden friedlichen religiösen Koexistenz. Ab ca. 835 drangen Nestorianismus, Manichäismus, Mazdaismus über Persien und der Islam von Arabien ins Reich und alle unterhielten ihre Tempel in der Hauptstadt Chang’an (das heutige Xi’an). Lediglich von 842 bis 845 wurden alle fremden Religionen (auch der Buddhismus) kurzfristig verboten.

Im Jahr 817 allerdings fand der Buddhismus in Kaiser Xian Zong (reg. 806-820) einen fanatischen Förderer seines Kultes. Dieser ließ eine Reliquie, einen angeblichen Fingerknochen Buddhas, in einem pompösen Aufzug in den kaiserlichen Palast überführen. Das Spektakel erregte in der Hauptstadt großes Aufsehen. Wohlhabende Gläubige spendeten Geld, arme Gläubige ließen sich zur Ehre Buddhas einen Finger oder die Kopfhaut verbrennen. Ein schluchzender Kaiser hieß öffentlich die Reliquie willkommen, ein Soldat schlug sich in Ekstase seinen linken Arm ab und er verbeugte sich vor der Reliquie bei jedem Schritt. Einige rutschten auf ihren Ellbogen und Knien und bissen sich ihre Finger ab, andere schnitten sich nur die Haare ab. Angesichts dieser abergläubischen Massenhysterie empörte sich der Gelehrte Han Yu (768-824), Lehrmeister an der höchsten kaiserlicher Schule und bekannter Dichter, und schrieb eine Eingabe an den Hof, in der er sich gegen diese kostspielige Überführung einer angeblichen Buddha-Reliquie wandte:

Denkschrift des Protestes gegen die Anbetung der Knochen Buddhas

„In Bescheidenheit unterbreite ich, dass der Buddhismus eine barbarische Lehre ist (...) Buddha wurde als Barbar geboren, weder kannte er die Pflichten eines Ministers seinem Fürsten gegenüber, noch das Verhältnis des Sohnes zum Vater. Angenommen, Eure Majestät, er lebte noch heute und käme zum Hofe: Ihr würdet ihm eine kurze Audienz gewähren, vielleicht ein Staatsbankett geben, ihm ein Gewand zum Geschenk machen und ihn dann so schnell wie möglich unter Bewachung zur Grenze zurückbringen lassen, bevor er im Volk Unruhe stiften könnte. Deshalb kann nicht eingesehen werden, dass einem verwesten, verrotteten Knochen, der zu einer seit langem verstorbenen Person gehört, Respekt gezollt werden soll (...) Ich bitte, diesen Knochen den maßgebenden Stellen zu übergeben, damit man ihn ins Wasser oder Feuer werfe, ferner, dass der buddhistische Aberglaube verboten werde, so dass die Unsicherheit Eurer Untertanen für allemal ein Ende hat und ihre Nachfahren vor Verwirrung geschützt sind (...) Sollte der Buddha die Macht besitzen, uns zu schaden, schiebt alles auf mich. Ich werde mich nicht beklagen!“

Der Kaiser war empört und befahl darauf Han Yus Hinrichtung. Aber die Fürsprache des Kanzlers führte nur zur Degradierung und Verbannung in die Provinz, wo der Gelehrte mit 56 Jahren vereinsamt starb.

Europäische Aufklärung lernt den Spott …

Die theoretische Begründung für die Notwendigkeit von Zweifeln und Spott gegenüber religiöser Indoktrination setzte schon sehr früh in der engli
schen Aufklärung ein. Anthony Ashley Cooper, Earl of Shaftesbury (1671-1713) verwarf die Vorstellung von einem willkürlich handelnden, blind mit Lohn und Strafe regierenden Gott. Diese Vorstellung ziehe notwendig schädliche Affekte, Bigotterie und Aberglauben nach sich. Die Folgen dieses Aberglaubens und die Möglichkeiten, ihn zu bekämpfen, untersucht er ausführlich in seinem Brief über den Enthusiasmus.3 Religiöse Eiferer sah er hier auf dem Weg zu Selbsttäuschungen und religiösem Fana
tismus. Als ein wirksames Mittel gegen diese Torheit und Ausschweifung empfahl er den Spott. Wenn Menschen die Vernunft selbst durchgeht, dann kann nur die Vernunft sie eines Besseren belehren in Form von Spott. Die von den Fanatikern praktizierte feierliche Gewichtigkeit ihrer öffentlich dargestellten Religionsformen gehöre gerade zum Wesen des Betrugs. Eine wirklich ernsthafte Sache müsse daher die Probe des Lächerlichen („test by ridicule“) bestehen können, um ernstgenommen zu werden. Der Spott sei die beste Probe für die Wahrheit: „Die Phantome können uns täuschen, wenn wir sie nicht auf alle Seiten herumdrehen und ihre Gestalten und Gesichter in jedem Lichte betrachten. Denn was nur in einem gewissen Lichte gezeigt werden kann, ist zweifelhaft. Die Wahrheit, wie jeder eingesteht, kann sich aus jedem Gesichtspunkte betrachten lassen, und einer von den Hauptgesichtspunkten (...) ist die Spötterei selbst.“4

… und das Interesse an China

Die europäische Aufklärung wandte sich im 18. Jahrhundert vermehrt gesellschaftlichen Gegenentwürfen zu. Das vermehrte Interesse für China wurde geweckt durch die Berichte der jesuitischen Missionare. Darin beschrieben diese China als ein Land weiser und philosophischer Herrscher und Völker, als eine Gesellschaft, deren Denken und Tun, deren Moral und Religion ganz von den natürlichen Lebensgesetzen bestimmt seien. Viele Aufklärer sahen in China die Verkörperung ihrer sittlichen Ideale. Der Kongfuzianismus stellte sich ihnen als ein auf die Gesetze des Verstandes gegründeter Glaube dar, den sie bei ihrer Kritik am Klerikalismus den europäischen Kirchen als Ideal entgegenstellten. Einige glaubten durchaus ernsthaft an das Modell der „aufgeklärten Monarchie“ (was natürlich größtenteils eine Wunschprojektion war). Vor allem Voltaire (1694-1778) war ein eifriger Propagandist eines aufklärerisch-idealistischen China­bildes, in seinen Philosophischen Briefen, im Philosophischen Wörterbuch oder in den Stück Das chinesische Waisenkind. Er stellte den europäischen Zuständen die Staatsverfassung und Gesellschaftsstruktur Chinas als Muster entgegen. Den Aufklärern galten die Gespräche des Konfuzius geradezu als willkommener Beleg für die Möglichkeit einer Moral und einer Regierungsform allein aus „natürlicher Vernunft“, ohne Religion und bevormundender kirchlicher Lehrautorität.

Denis Diderot (1713-1784) stellte in dem zentralen Werk der europäischen Aufklärung, der Enzyklopädie, in dem Artikel Gesetzgeber (Politik) den Laizismus der Chinesen als vorbildlich dar: „Macht der Gesetzgeber aus der Religion eine Haupttriebfeder des Staates, so gibt er notwendigerweise den Priestern ein allzu großes Ansehen, und dadurch werden sie bald ehrgeizig. In den Ländern, in denen der Gesetzgeber sozusagen die Religion mit der Regierung verschmolzen hatte, hat man gesehen, wie die Priester, nachdem sie Einfluss gewonnen hatten, den Despotismus förderten, um ihre eigene Autorität zu vermehren, und wie sie, sobald diese Autorität fest begründet war, den Despotismus bedrohten und ihm die Knechtung der Völker streitig machten (…) Vortrefflich erscheint mir in dieser Hinsicht das Verhalten der Chinesen. Philosophen sind Minister des Fürsten, und doch sind die Provinzen mit Pagoden und Götterbildern bedeckt; man verfährt nie streng mit denjenigen, die sie anbeten; aber sobald ein Gott nicht die frommen Wünsche der Völker erhört hat und diese mit ihm so unzufrieden sind, dass sie sich einige Zweifel an seinem göttlichen Wesen erlauben, nutzen die Mandarine diesen Moment, um einen Aberglauben zu beseitigen, zerbrechen das Götterbild und stürzen den Tempel um.“ (Band IX von 1765)

Der im Sinn der Aufklärung wirkende irische Schriftsteller und Journalist Oliver Goldsmith (1728-1774) veröffentlichte zwischen 1760 und 1762 eine Reihe von Essays in Briefform (gesammelt veröffentlicht als Buch Der Weltbürger5). Seine scharfen gesellschaftskritischen Satiren legte Goldsmith einem fiktiv in London weilenden chinesischen Philosophen in den Mund, der an seine Freunde im fernen Osten über die europäischen Zustände schrieb. Mit einer naiven Unvoreingenommenheit seines fiktiven Briefautors Lien Chi Altangi gelang es ihm so, englische Institutionen, Sitten und Bräuche kritisch-satirisch zu beleuchten:

„Hier [in China] gibt es keine religiösen Verfolgungen, keine Feindschaft aus Gründen unterschiedlicher Ansichten unter den Menschen. Die Anhänger des Lao Kium [Daoisten], die götzendienerischen Sektierer Fohis [Buddhisten] sowie die philosophischen Kinder des Konfuzius sind einzig bestrebt, die Wahrheit ihrer Lehren durch ihre Taten zu beweisen. Kehren wir nun von diesem glücklichen, friedlichen Land nach Europa, dem Schauplatz von Intrige, Geiz und Ehrgeiz, zurück. (…) Da sehen wir die Römer, die ihre Macht über die barbarischen Völker ausdehnen und ihrerseits selbst eine Beute derer werden, die sie einst unterworfen haben. Wir sehen diese Barbaren, zu Christen geworden, in beständigen Kriegen mit den Anhängern Mohammeds, oder noch schlimmer, sehen sie sich selbst zerfleischen. Wir sehen Konzilien, die in früheren Zeiten jede Feindseligkeit autorisierten; Kreuzzüge, die Zerstö­rung über das zurückgelassene wie über das zu erobernde Land bringen; Exkommunizierungen, die die Untertanen aus ihrer naturgegebe­nen Lehnstreue lösen und zum Aufruhr veranlassen; wir sehen Blut auf Schlachtfeldern und Hochgerüsten fließen; Folterung als Mittel, um den Andersdenkenden zum Religionseid zu bekehren; und wir sehen, um das Schreckensbild vollkommen zu machen, diesen Erdteil von Kriegen, Aufruhr, Verrat, Verschwörung, Politik und Gift überschattet! (…) Diese Herrscher verdienen, da sie ihren Ehrgeiz der Gerechtigkeit vorgezogen haben, den Namen eines Feindes des Menschengeschlechts. Und ihre Priester haben, weil sie die Moral aus Dünkel vernachlässigen, die Interessen der Gesellschaft verraten.“

Wir sehen also, eine laizistische Staatsverfassung und eine Alltagskultur der Toleranz bedurfte im Osten wie im Westen eines langen Kampfes gegen religiöse Fundamentalisten. Ein wichtiger Meilenstein hierbei ist die Abschaffung einer religiös motivierten Bestrafung für Nicht-Gläubige und Zweifler. Wir Europäer können uns hierbei die bereits weiter entwickelte chinesische Kultur des Laizismus durchaus zum Vorbild nehmen.

Weiterführende Literatur

Heiner Jestrabek & Ji Yali: Die Wahrheit in den Tatsachen suchen. Aufklärung, Rationalismus und freies Denken in der chinesischen Philosophie. Reutlingen 2011.

Anmerkungen

1 Staatskirchenrechtliches System, in dem der Landesherr als summus episcopus („Oberster Bischof“) bestimmte Rechte in der ihm untergeordneten Landeskirche innehatte. Der Summepiskopat bestand in den deutschen evangelischen Landeskirchen bis 1918.
2 Wer in unserem Land religiöse Bekenntnisse und Gesellschaften „beschimpft“ und dies „geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren bestraft“ (§ 166 des Strafgesetzbuches).
3 Anthony Ashley Cooper Shaftesbury: A Letter Concerning Enthusiasm, London 1708.
4 Versuchs über die Freiheit des Witzes und der Laune. zit. nach: Anthony Earl of Shaftesbury: Der gesellige Enthusiast. Philosophische Essays. Leipzig / Weimar 1990, S. 391.
5 Oliver Goldsmith: The citizen of the world, or, Letters from a Chinese philosopher residing in London to his friends in the East. London 1762.