Unter welchen Umständen wird ein Standard kritisiert?
Es ist leicht einzusehen, dass eine Standard-Theorie nur dann kritisiert wird, wenn sie Probleme bei der Erklärung von Phänomenen hat, die in ihren Gegenstandsbereich fallen. Grundsätzlich sind zwei Arten von Problemen einer Theorie zu unterscheiden. So gibt es offene Fragen, wie sie in jeder erfolgreichen empirischen Wissenschaft vorkommen. Diese Detailfragen sind üblicherweise im Rahmen der Theorie zu erforschen, daher erfordern sie kein Überdenken des gesamten Ansatzes. Sie sind eher als willkommene, weil den Fortschritt fördernde, Anregungen für weitere Forschungen aufzufassen. Problematisch sind aber auf jeden Fall Fragen, beispielsweise aufgrund der Ergebnisse von Experimenten, deren Beantwortung prinzipiell nicht im Rahmen der Standard-Theorie, zumindest in deren aktueller Form, erfolgen kann.
Befunde, die im Rahmen der Theorie nicht erklärt werden können, werden auch als Anomalien bezeichnet. Wenn sich derartige Anomalien häufen, ist das ein wichtiger Hinweis darauf, dass die gesamte Theorie überdacht, erweitert oder gar ersetzt werden muss. Hier treten dann auch Konkurrenten auf den Plan.
Welche Anforderungen muss eine Alternative erfüllen?
Nur in seltenen Fällen werden in den Naturwissenschaften Theorien kritisiert, ohne dass die Kritiker über eine konkrete, meist ausformulierte, Alternative verfügen. Theorien, auf keinen Fall Standard-Theorien, werden nicht aufgeben, weil sie widerlegt wurden, sondern weil ein Konkurrent erklärungsmächtiger ist. Das ist leicht zu erklären. Eine Theorie wird nur dann zum Standard, wenn sie in der Lage war, zumindest eine Reihe von Befunden zu erklären und erfolgreiche Forschungen zu ermöglichen. Daher wird eine problematische Theorie mit bekannten Schwächen einem Zustand ohne eine Leitvorstellung für die Forschung vorgezogen.
Idealerweise muss eine Theorie, welche den Standard ablösen möchte, daher zweierlei leisten: Auf der einen Seite muss sie zeigen, dass es Befunde gibt, die im Rahmen des aktuellen Standards nicht erklärt werden können. Auf der anderen Seite gilt es, neuartige Lösungen für genau diese Probleme vorzuschlagen.
Wie in vorigen Beiträgen schon gezeigt wurde, sind die Autoren der ES in der Lage, eine hinreichende Anzahl an experimentellen Befunden aus verschiedenen Gebieten vorzuweisen, die zumindest nicht unstrittig in den Rahmen der MS eingebaut werden können. Die Versuche, eine einheitliche ES zu formulieren, welche diese Befunde erklärt, sind zwar noch nicht abgeschlossen, aber ein alternatives Theoriegebäude ist zumindest in Ansätzen zu erkennen. Somit erfüllt die ES alle Anforderungen an eine naturwissenschaftliche Theorie, die den aktuellen Standard zumindest verändern, wenn nicht gar ablösen möchte.
Wie reagierten Vertreter der Modernen Synthese auf Konkurrenten?
Inzwischen hat sich die ES soweit etabliert, dass es Positionspapiere aus beiden Lagern gibt und sogar ein Kongress über das Verhältnis der beiden Theorien abgehalten wurde, bei dem Vertreter/innen dieser Theorien direkt miteinander diskutierten. Daher finden sich die verwendeten Argumente in der einschlägigen Literatur.
Wenig Erfolg versprechen Versuche, den Kritiker/innen vorzuwerfen, sie würden nur ein Zerrbild zeichnen, das sie dann kritisierten. Meist erfolgen derartige Vorwürfe etwas subtiler. Die Vertreter/innen der MS versuchen zu zeigen, dass die zentralen Argumente, die aus der Sicht der ES vorgetragen werden, eventuell unter anderen Bezeichner/innen, von der MS schon seit langer Zeit berücksichtigt und in die Theorie eingebaut worden seien. Die Kritik beträfe daher die aktuelle Form der MS gar nicht.
Ein Beispiel soll das verdeutlichen. Die Nischenkonstruktion, die im vorletzten Beitrag schon geschildert wurde, ist nach der Auffassung von Vertreter/innen der ES ein Konzept, das der MS wesensfremd ist. Vertreter/innen der MS weisen in diesem Kontext darauf hin, dass Charles Darwin am Beispiel der Regenwürmer 40 Jahre lang genau dieses Phänomen erforschte, bevor er seine Ergebnisse in seinem letzten Buch publizierte. Daher sei Nischenkonstruktion bei der Formulierung der MS durchaus berücksichtigt.
Eine andere oft verwendete Gegenkritik besteht darin, einzuräumen, dass die angeführten Phänomene zwar unter bestimmten Umständen auch den Lauf der Evolution beeinflussen könnten, dass aber letztlich nur die Mechanismen der MS für die Evolution verantwortlich seien. Die Existenz der angeführten Mechanismen sei zwar mehr oder weniger unstrittig, wohl aber deren Bedeutung als Evolutionsfaktor.
Schließlich kann auch noch hinterfragt werden, ob die neuen Faktoren schon hinreichend erforscht seien. Eine Diskussion über die tatsächliche Bedeutung, speziell hinsichtlich eines Vergleichs der beiden Theorien, mache erst dann Sinn, wenn mehr Befunde vorlägen. An dieser Klärung könnten beide Seiten dann gemeinsam arbeiten.
Nur am Rande sei erwähnt, dass ein wichtiger Grund gegen das Abweichen vom aktuellen Standard von vielen Autor/innen, nicht unbedingt Anhänger/innen der MS, darin gesehen wird, dass Vertreter/innen der Intelligent Design ‘Theorie’ sich sehr intensiv mit Einwänden gegen die naturalistische MS befassten und es daher kontraproduktiv sei, den aktuellen Standard zu kritisieren. Die meisten Autor/innen der ES haben zwar immer bestritten, dass ihre Einwände gegen die MS auf der Basis einer Naturalismus-Kritik oder einem Plädoyer für teleologische Prozesse erfolgten. Es war dann aber eher kontraproduktiv, 8 Millionen Euro von der Templeton-Stiftung anzunehmen, einer Organisation, die alle Bestrebungen fördert, Naturwissenschaft und Religion zu vereinbaren. Die Forschungen, die aus diesen Mitteln finanziert wurden, wurden jedoch im Rahmen der üblichen Naturwissenschaften interpretiert, so dass dieser Verdacht wohl eher zu Unrecht besteht.
Im nächsten Teil der Serie werden diese Repliken auch aus der Sicht der ES näher analysiert, um eine Grundlage für eine Einschätzung des Gewichts einer Forderung nach einer Ablösung der MS als Standard-Theorie der Evolutionsbiologie zu legen.