Schwerpunktthema | Veröffentlicht in MIZ 4/24 | Geschrieben von Gunnar Schedel

Lasst alle Hoffnung fahren…

Ein Blick in die Programme zur Bundestagswahl

Vor vier Jahren war der MIZ-Artikel über die Wahlprogramme der im Bundestag vertretenen Parteien recht optimistisch mit „Veränderungen erscheinen möglich“ überschrieben. Warum es trotz einer „passenden“ Parlamentsmehrheit und dazugehöriger Regierung anders gekommen ist, müssen die säkularen Verbände analysieren. Die Zeit dazu haben sie, denn eine Durchsicht der aktuellen Bundestagswahlprogramme1 ergibt wenig Hoffnung, dass irgendein Punkt der säkularen Agenda abgearbeitet werden wird – und zwar völlig unabhängig davon, welche Mehrheiten sich nach dem 23. Februar ergeben.

2021 wollten jeweils mehrere Parteien die Staatsleistungen endlich ablösen und das Kirchliche Arbeitsrecht reformieren. Insgesamt konnte der Eindruck gewonnen werden, dass zumindest im tendenziell eher progressiven politischen Lager die Notwendigkeit gesehen wurde, auf die Veränderungen der letzten Jahrzehnte zu reagieren (immerhin organisieren die beiden großen christliche Kirchen mittlerweile weniger als die Hälfte der Bevölkerung in Deutschland). Davon ist wenig übriggeblieben: Die Ablösung der Staatsleistungen fordern diesmal lediglich die FDP und die Linke, die Abschaffung des diskriminierenden kirchlichen Arbeitsrechts findet sich nur noch bei der Linken.

Dass die Anliegen der Interessen­vertretungen der Konfessionslosen kaum Berücksichtigung finden, dürfte zumindest teilweise auf den vorgezogenen Wahltermin zurückzuführen sein. Denn die Programme sind fast alle deutlich kürzer als bei vergangenen Wahl, so dass ganz allgemein viele konkrete Aussagen der Konzentration auf das Wesentliche zum Opfer gefallen sind. Es hat ohnehin den Anschein, als wären ganze Passagen kaum verändert aus den 2021 beschlossenen Fassungen übernommen worden. Das Ergebnis nennenswerter innerparteilicher Debatten sind die Texte jedenfalls nicht. Angesichts des Zeitdrucks (die FDP beispielsweise beschließt ihr Wahlprogramm formell erst am 9. Februar, wenn der Wahlkampf längst läuft) bestand für grundlegendere Änderungsanträge von Ortsverbänden oder Arbeitsgruppen keine realistische Möglichkeit.
Obwohl der Urnengang zur „Rich­tungswahl“ stilisiert wird und folglich ökonomische und soziale Themen sowie die Zuwanderungsdebatte dominieren, gibt es doch auch bei den für die organisierten Säkularen besonders interessanten Fragen einige erwähnenswerte Unterschiede. Andererseits werden Angelegenheiten, die in allen Parteien kontrovers diskutiert werden, gar nicht angesprochen, so etwa die Zukunft der Suizidhilfe.

CDU/CSU

Die Union hat noch nie sonderlich viel Wert auf konfessionslose Wählerinnen und Wähler gelegt, und das ist auch diesmal nicht anders. Erwähnung findet diese Bevölkerungsgruppe nur in einem Satz: „Der umfängliche Schutz der Religionsfreiheit und der Schutz religiöser und weltanschaulicher Min-
­derheiten ist uns ein besonderes An­liegen“ (S. 57). Ansonsten bekennen sich die Christdemokraten zum C in ihrem Namen. Sie betonen, dass Deutsch­land „geschichtlich, kulturell und wertemäßig tief vom christlichen Glauben geprägt“ sei und wollen die „geregelte Kooperation zwischen Staat und Kirche“ fortsetzen. Konkret heißt das, dass der Religionsunterricht aufgewertet werden soll und eine Aufhebung des Tanzverbots mit der Union nicht zu machen ist. Diskriminierung ist für die Union kein zentrales Thema; dass das kirchliche Arbeitsrecht keine Erwähnung findet, erscheint nicht sonderlich verwunderlich, wenn selbst der Begriff „Rassismus“ im gesamten Text nicht vorkommt.

Zum Thema „Islam“ vertritt die Union eine differenzierte Position. Einerseits wendet sie sich deutlich gegen die „Abwertung von Muslimen“ und stellt die Unterstützung von Moscheegemeinden, die „fest auf dem Boden unserer freiheitlichen Grund­ordnung“ stehen, ebenso in Aussicht wie die Finanzierung der Ausbildung von Imamen (S. 57). Andererseits stellt sie ein „Stoppschild für Islamismus“ auf und kündigt an: „Wir schließen Moscheen, in denen Hass und Antisemitismus gepredigt wird.“ Außerdem soll der „Expertenkreis ‘Politischer Islam’“, den der damalige Innenminister Seehofer 2021 für ein Jahr eingesetzt hatte, reaktiviert werden. Hier kann eine Tendenz hin zu einer staatlichen Förderung zumindest von Moscheegemeinden gesehen werden, ohne islamische Verbände in das Privilegiensystem der Kirchen einzubeziehen.
Zum § 218 StGB fordert die CDU/CSU dessen explizite Beibehaltung. Auf christliche Lebensschutzrhetorik wird verzichtet, stattdessen wird die geltende gesetzliche Regelung als „mühsam gefundener gesellschaftlicher Kompromiss“ bezeichnet, „der das Selbstbestimmungsrecht der Frau und den Schutz des ungeborenen Kindes“ berücksichtige.

AfD

Das Wahlprogramm der Alternative für Deutschland (AfD) ist ein beeindruckendes Beispiel dafür, wie positiv besetzte Wörter verwendet werden können, die bei genauerem Hinsehen keinerlei sachliche Entsprechung im Text finden. So ist die AfD die einzige Partei, die sich auf die „positiven Werte der Aufklärung und des Humanismus“ beruft; auch von „Freiheit“ und „Selbstbestimmung“ ist immer wieder die Rede. Schon im Wahlprogramm 2021 war aufgefallen, dass die AfD sich gegen die Unterdrückung muslimischer Frauen aussprach und „in allen Bereichen die Gleichberechtigung von Mann und Frau“ forderte – die Passage ist inhaltlich unverändert übernommen worden. Nur findet sich im AfD-Wahlprogramm damals wie heute kein Abschnitt, nicht einmal ein einziger Satz, der sich für Geschlechtergleichheit oder Frauenemanzipation ausspricht. Im Gegenteil, in konkreten Fragen wie equal pay herrscht bestenfalls Schweigen, Quotenregelungen werden abgelehnt und der Schwangerschaftsabbruch soll auf der Ebene der Konfliktberatung verschärft werden (geplant ist, im Falle einer Regierungsbeteiligung die von Evangelikalen befürwortete Praxis einzuführen, den Frauen im Zuge der Beratung Ultraschall­aufnahmen des Embryos zu zeigen).

Die Haltung zum Schwanger­schafts­abbruch ist aber nicht die einzige Stelle, an der sich die Frage stellt, welches Verständnis von Selbstbestimmung die Höcke-Partei vertritt. Auch das Selbstbestimmungsgesetz soll zurückgenommen werden, wobei unklar bleibt, ob Trans-Menschen in dieser Frage überhaupt Selbstbestimmung zugestanden wird. Eine andere in diesem Zusammenhang wichtige Frage, die Suizidhilfe als Ausdruck der Selbst­bestimmung am Ende des Lebens, wird überhaupt nicht angesprochen. Dafür ist immer wieder die Rede vom „Selbstbestimmungsrecht Deutsch­lands“ – ein deutliches Signal, dass Selbstbestimmung nicht als Menschen­recht, sondern eher im völkischen Kontext verstanden wird.
Auch das Einfordern von Wissen­schaftsfreiheit erweist sich als wohlklingende Phrase. Denn immer dann, wenn die Ergebnisse der Wissenschaft der AfD nicht ins Konzept passen, wird ins Feld geführt, dass der „angebliche wissenschaftliche Konsens (...) politisch konstruiert“ sei („unwissenschaftliche Klima-Hysterie“) oder dass aus wissenschaftlicher Forschung ab-
geleitete Forderungen gegen das Selbstbestimmungsrecht oder die Berufs­freiheit verstoßen. Da ist der Weg zur Verschwörungstheorie kurz, wenn behauptet wird, dass „Staaten und nichtstaatliche Organisationen“ darauf hinwirken, „auf Grundlage von einseitig bevorzugten naturwissenschaftlichen Theorien die Bürger- und Freiheitsrechte systematisch einzuschränken“. Wer hinzunimmt, dass Spitzenkandidatin Alice Weidel auf dem Nominierungsparteitag am 11. Januar recht unverblümt angekündigt hat, ganze Fachbereiche an Universitäten zu schließen (nämlich die Gender Studies) und die Professoren „rauszuschmeißen“,2 erkennt das tatsächliche AfD-Verständnis von Wissenschaftsfreiheit.
Zum „Islam“ hat die Partei schon seit längerem ein monomanisches Verhältnis: Sie setzt sich für die Freiheit der Religionskritik ein, für die Abschaffung theologischer Lehrstühle, für bekenntnisneutrale Religions­wis­senschaft, gegen die Verleihung des Körperschaftsstatus, gegen Zwangs­heirat und Kinderehen, gegen Reli­gions­unterricht an öffentlichen Schulen – aber nur, wenn es um Kritik am Islam, islamische Theologie usw. geht. Darin zeigt sich keine moderne Religions­politik, sondern ein riesiger Schritt zurück hinter die Aufklärung, in eine Welt, in der die Bevölkerung eines Ter­ritoriums noch religiös homogen war (cuius regio, eius religio). Aber dass das Selbstbestimmungsrecht nicht auf der individuellen Ebene gesehen wird, ist ja bereits gesagt worden.

BSW

Das Bündnis Sarah Wagenknecht (BSW) existiert gerademal ein gutes Jahr, und das ist dem Bundestagswahlprogramm auch anzumerken. Die Partei hat offenbar noch nicht viel Zeit in programmatische Diskussionen investieren können und so legt sie mit knapp 40 Seiten den kürzesten Text vor. Auch hier sind die Positionen auf eine „Richtungsentscheidung“ ausgerichtet: Wirtschafts- und sozialpolitische Standpunkte umfassen mehr als die Hälfte der Seiten, gesellschaftspolitische Fragen werden kaum angesprochen.

Und so fehlt auch der Bereich „Reli­gion und Gesellschaft“ vollständig. Es gibt keine Aussage zu einer zukünf­tigen Religionspolitik, nicht zu Schwan­gerschaftsabbruch und Suizidhilfe, „islamistische Gewalt“ wird nur an einer Stelle in einer Aufzählung erwähnt (ausgerechnet im Abschnitt Sichere Grenzen: Unkontrollierte Migration stoppen), konkrete Handlungs­mög­lichkeiten wie die Ablösung der Staats­leistungen oder die Abschaffung des kirchlichen Arbeits­recht werden nicht angesprochen.
Da sich bereits im Europawahl­programm3 der Partei keine einschlägigen Aussagen fanden und auch auf der Webseite keine Stellung bezogen wird, lässt sich am Ende nur sagen, dass das BSW in Fragen, die für die säkularen Verbände von besonderem Interesse sind, noch kein Profil aufweisen kann.

SPD

Dieses Desinteresse am Bereich Reli­gionspolitik ist auch bei der Sozial­demokratie erkennbar. In einem Absatz über Demokratie und Zivilgesellschaft heißt es ziemlich allgemein: „Kirchen und Religionsgemeinschaften leisten einen wertvollen Beitrag für unser Zusammenleben. Wir fördern den interreligiösen Dialog und schützen die Religionsfreiheit, um die Vielfalt unserer Gesellschaft als Chance für ein weltoffenes Miteinander zu stärken.“ Daran schließen sich keinerlei konkrete politische Positionen an; nicht einmal die bislang immer vorhandene Forderung nach einer Reform des kirchlichen Arbeitsrechts ist enthalten.

Auch mit Blick auf die islamischen Verbände bezieht die SPD nicht Stellung. „Islam“ taucht nur mit Bezug zum Islamismus im Programm auf. Einerseits soll eine Task Force Islamismusprävention eingerichtet werden. Andererseits sollen bestehende islamistische Netzwerke von den Sicherheitsbehörden konsequent zerschlagen werden. Gesellschaftspoli­tische Handlungs­möglich­keiten werden nur sehr unkonkret angesprochen: Es sei geplant, „zivilgesellschaftliche Initiativen“ zu stärken, ohne dass allerdings ausgeführt würde, was genau damit gemeint ist.
In einer wichtigen Frage von Selbst­bestimmung gibt es hingegen eine klare Ansage: „Wir werden Schwanger­schaftsabbrüche entkri­minalisieren und außerhalb des Straf­rechts regeln – außer wenn sie gegen oder ohne den Willen der Schwan­geren erfolgen. Wir wollen Schwan­gerschaftsabbrüche zu einem Teil der medizinischen Grund­versorgung machen.“ Allerdings stellt sich hier die Frage, warum die Kanzlerpartei diese Möglichkeit in den vergangenen drei Jahren ungenutzt ließ.

Bündnis 90 / Die Grünen

Auch bei den Grünen gibt es keinen Abschnitt, der sich mit Religionspolitik befassen würde. Das ist deshalb besonders interessant, weil die Partei in der vergangenen 30 Jahren immer wieder klare Forderungen nach einer verbesserten Trennung von Staat und Kirche erhoben hatte, zuletzt sehr detailliert im Bundestagswahlprogramm 2021. Davon ist nichts geblieben, außer der Position, „dass selbstbestimmte Schwangerschaftsabbrüche grundsätzlich außerhalb des Straf­rechts geregelt werden“. Keine Ab­schaffung des § 166 StGB, keine Ab­lösung der Staatsleistungen, keine Än­derungen beim kirchlichen Arbeits­recht, keine Reform der universitären Religionswissenschaft, keine Aussage zur Suizidhilfe (obwohl „Selbst­bestim­mung“ ein häufig verwendeter Begriff in dem Papier ist).

Andererseits finden sich auch keine Aussagen mehr über Islamverbände, Staatsverträge oder sonstige Privile­gien (nur die Imamausbildung wird erwähnt). Der Diskurs zum gesamten Themenbereich hat sich vollständig verschoben: Statt gesellschaftliche Veränderungen herbeizuführen, möchten die Grünen „eine vielfältige Gesellschaft ohne Diskriminierung“ durch Beauftragte, Aktionspläne und andere Maßnahmen erreichen, die in erster Linie Stellen in Sozialarbeit und Verwaltung schaffen: „Mit einem Aktionsplan gegen Islamfeindlichkeit gehen wir gegen die Diskriminierung von muslimischen Menschen vor.“ Dass der Begriff „Islamfeindlichkeit“ in einem gut 60-seitigen Wahlprogramm nicht definiert wird, mag noch angehen, aber warum aus der Ablehnung einer Ideologie (Islam) nahtlos die Dis­kriminierung von Menschen (Muslime) hervorgehen soll, wäre denn doch erklärungsbedürftig.
Indem Position und Person nicht mehr getrennt gesehen werden, manifestiert sich, dass auch die Grünen sich hinter die Aufklärung zurückbewegen. Diskriminierung erscheint ihnen offenbar nur noch aufgrund von „Identität“ möglich und dementsprechend verstehen sie „Vielfalt“: „Mit der Schaffung der Beauftragten für Antidiskriminierung, Queeres Leben, Antirassismus und Antiziganismus haben wir die politische Stärkung von Vielfalt noch stärker verankert.“ Dass Konfessionslose unter dieser Perspektive keine Rolle spielen, ist nun nachvollziehbar, denn hier geht es nicht um Identität, sondern um eine weltanschauliche, oft auch politische Entscheidung. Und damit wäre dann wohl auch erklärt, warum im Grünen-Wahlprogramm der Begriff Emanzipation nicht vorkommt.
Das Bekenntnis zur Wissenschaft ist unmissverständlich: „Wissenschaftliche Erkenntnisse sind die Grundlage verantwortungsbewusster Politik und es ist zugleich Aufgabe der Politik, die Freiheit der Wissenschaft zu verteidigen.“ Die Behauptung, „an der Seite der feministischen Protestbewegung im Iran“ zu stehen, erscheint mit Blick auf das Treffen mit der iranischen Frauenrechtsaktivistin Masih Alinejad im November 20234 hingegen zumindest fragwürdig.

Redaktionelle Anmerkung: Auf ihrem Bundesparteitag Ende Januar haben die Grünen den Programmentwurf auf mehr als das Doppelte des ursprünglichen Umfangs erweitert. Durch Änderungsanträge der Säkularen Grünen fanden nicht nur mehrere Forderungen der Interessenvertretungen der Konfessionslosen Eingang in den Text, auch die Grundtendenz änderte sich. Das bestehende Religionsverfassungsrecht solle so weiterentwickelt werden, „dass es unserer gewachsenen religiös-weltanschaulichen Pluralität gerecht“ wird. Dabei werden explizit auch „Konfessionsfreie“ und die Berücksichtigung ihrer Belange erwähnt. Das kirchliche Arbeitsrecht soll „reformiert und die gewerkschaftliche Mitbestimmung gefördert“ sowie „die Ausnahmeklauseln für die Kirchen im Betriebsverfassungsgesetz und im Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz aufgehoben werden“. Ein Abschnitt geht auf die Selbstbestimmung am Lebensende ein und fordert die praktische Umsetzung des Bundesverfassungsgerichtsurteils.

FDP

Die Freien Demokraten sind die einzige Partei, die sich konzeptionell zum Thema Religion und Gesellschaft äußert, in einem knapp halbseitigen Abschnitt „Religionspolitik in der liberalen Bürgergesellschaft“. Als zentraler Satz kann die Aussage, einen wirklichen gesellschaftlichen Wandel herbeiführen zu wollen, gesehen werden: „Das bisherige Staatskirchenrecht wollen wir zu einem Religionsverfassungsrecht weiterentwickeln – als gleiche rechtliche Basis für alle Religionsgemeinschaften, die das Gleichheitsgebot und die Glaubensvielfalt, die Grundrechte sowie die Selbstbestimmung ihrer Mit­glieder anerkennen.“ Konkret nennt das Programm allerdings nur die Ablösung der Staatsleistungen; diesem Verfassungsauftrag müssten Bund und Länder nachkommen. Das diskriminierende kirchliche Arbeitsrecht oder die restriktiven Feiertagsregelungen finden hingegen keine Erwähnung.

Zum „Islam“ äußert sich die FDP in erster Linie unter der Perspektive, dass Islamismus „konsequent bekämpft“ und der legalistische Islamismus „besser durchleuchtet“ werden müsse. Auch die Islamverbände sollten einer kritischen Prüfung unterzogen werden. Konkret wird eine Reform der Islamkonferenz (DIK) angeregt, „bei der unsere Werte­partner unter den Verbänden deutlich mehr Raum erhalten“. Zugleich solle die Ausbildung von Imamen und islamischen Religionslehrern ausgebaut werden, auch damit der islamische Religionsunterricht „frei von Einflüssen islamistischer oder aus dem Ausland gesteuerter Organisationen“ bleibt.
Zum Thema Schwangerschafts­abbruch macht die FDP einen für ein Wahlprogramm ungewöhnlichen Vor­schlag: „Eine Reform der Regelungen zum Schwangerschaftsabbruch (§§218, 218a StGB) soll im Wege von sog. fraktionsübergreifenden Gruppenanträgen mit Gewissensfreiheit für jede Ab­geordnete und jeden Abgeordneten im nächsten Bundestag beraten werden.“ Am ausführlichsten benennt die Partei praktische Aspekte des Themas wie die unzureichende Versorgungslage, die oft schlecht zugänglichen medikamentösen Abbruchmethoden, die Frage der Kostenübernahme oder das Problem, dass der Schwangerschaftsabbruch noch immer nicht standardmäßig in die Ausbildung der Gynäkologinnen und Gynäkologen integriert ist.

Die Linke

Auch die Linke befasst sich unter der Überschrift „Religionsfreiheit“ ausführlich mit Religionspolitik. Ein Konzept wird daraus aber nicht, da in der Partei zwei widerstreitende Positionen sich derzeit offenbar die Waage halten. Die Widersprüchlichkeit findet sich sogar in einem der zentralen Sätze: „Wir treten für die institutionelle Trennung von Staat und Religion sowie die Gleichbehandlung aller Religionen und Weltanschauungen mit den christlichen Kirchen ein.“ Diese Aussage ergibt keinen Sinn, da eine Trennung von Staat und Kirche weitreichende Veränderungen mit sich bringen würde, während eine Gleichbehandlung aller mit den christlichen Kirchen den derzeit bestehenden Zustand zementieren würde.

Auch in den konkreten Forderungen spiegelt sich das Ringen der beiden Lager um Deutungshoheit. De „Abschaffung des Sonderarbeitsrechts“, das Ende des staatlichen Kirchensteuereinzugs, die Ablösung der Staatsleistungen oder ein integrativer Religionsunterricht wür-
den eine neue Religionspolitik ein­läuten. Die „gleichberechtigte Betreu­ung durch alle Religions- und Weltan­schauungsgemeinschaften“ in der Bun­deswehr zu garantieren oder den Körperschaftsstatus auf weitere Organisationen auszuweiten, bewegt sich hingegen strikt in den Bahnen des derzeitigen Systems. Interessant ist die Forderung, das muslimische Zuckerfest und den jüdischen Yom Kippur zu gesetzlichen Feiertagen zu machen (als säkularer Tag käme der 8. Mai als Tag der Befreiung vom Faschismus hinzu).
Beim Thema „Islam“ ist die Haltung der Linken von Realitätsverweigerung geprägt: Auf über 60 Seiten findet sich kein kritisches Wort zur islamischen Rechten. Entsprechend werden deren Kleidungsvorschriften als Standard akzeptiert: „Die Linke verteidigt das Selbstbestimmungsrecht von muslimischen Frauen, spricht sich gegen ein Verbot religiös motivierter Bekleidung aus und lehnt eine Einschränkung von Beschäftigtenrechten auf dieser Grundlage ab.“ Da darf der „Kampf gegen antimuslimischen Rassismus“ natürlich auch nicht fehlen. Ähnlich wie die Grünen versteht die Linke Antidiskriminierungspolitik nicht als Gesellschaftsveränderung, sondern als sozialarbeiterische Betreuungsaufgabe (ein/e Beauftragte/r „für muslimisches Leben“ ist ein Beispiel dafür).
Unmissverständlich spricht sich die Linke für die Streichung des § 218 StGB aus und verwendet als einzige Partei explizit das Wort „ersatzlos“. Auch hier wird die unzureichende Versorgungslage angesprochen.

Fazit

Noch nie, seit die MIZ die Wahl­pro­gramme der Parteien mit Chancen auf einen Einzug in der Bundestag durchsieht, gab es so wenige Forderungen im Sinne der Interessenverbände der Konfessionslosen. Aufbruchstimmung in Sachen Religionspolitik ist kaum zu verspüren (was als Kehrseite der Medaille immerhin heißt, dass die Ausstattung der großen konservativen Islamverbände mit Kör­per­schafts­rechten wahrscheinlich auch nicht auf der Tagesordnung steht).

Dafür ist sicherlich zumindest teilweise der kurzfristige Wahltermin verantwortlich, der von säkularer Seite initiierte Änderungsanträge de facto fast unmöglich machte. Bei Grünen und Linken kommt jedoch ein grundlegendes Problem hinzu: Indem Religionspolitik mittlerweile weitgehend unter dem Aspekt der (Anti)Diskriminierung erörtert wird, geht das Bewusstsein verloren, dass es sich bei Religionen um Ideologien handelt. Religionskritik wird dann nicht mehr als Ideologiekritik verstanden und Religionspolitik nicht mehr als Möglichkeit egalitärer Ge­sellschaftsveränderung. Die Unter­werfung unter religiöse Bestimmungen erscheint dann gleichwertig wie die Emanzipation von religiösen Vorgaben, und anstatt des guten Lebens für alle wird die Verwaltung von Minderheiten das Ziel dann allerdings nur noch vermeintlich progressiver Politik. Und aufgemerkt: Der Anteil der Katholiken in Deutschland liegt bei ungefähr 24%, die Protestanten kommen sogar nur noch auf 22%. Ein Schelm, wer nun daran denkt, dass in zukünftigen Wahlprogrammen vielleicht ganz neue Begründungen für die Gewährung von Privilegien für die Kirchen angeführt werden...

Anmerkungen

1 Nicht alle Parteien hatten zum Zeitpunkt der Analyse bereits die Entwürfe ihrer Wahlprogramme von einem Parteitag bestätigen lassen. Es wurden die Fassungen Stand 12.1.2025 verwendet.
2 Phoenix, https://www.ardmediathek.de/video/phoenix-vor-ort/afd-parteitag-rede-von-alice-weidel- kanzlerkandidatin/phoenix/Y3JpZDovL3Bob2Vua XguZGUvNDc0MDQ2Mg, Minute 16:00 [Zugriff am 12.1.2025]
3 https://bsw-vg.de/wp-content/uploads/ 2024/02/BSW_Europawahlprogramm_2024.pdf [Zugriff am 12.1.2025]
4 Romo Runt: Feministische Außenpolitik?, in: MIZ 4/23, S. 35-37.