MIZ: Wie ist die Situation der Proteste im Iran zu beschreiben?
Anna Ritter: Die Demonstrationen im Iran fingen im Jahr 1999 mit der Studentenbewegung an; es ging weiter im Jahr 2008 nach dem massiven Wahlbetrug. Aber es war nur eine kleine Gruppe der iranischen Bevölkerung daran beteiligt. Anfang 2018 startete der iranische Aufstand dann landesweit. Grund war die wirtschaftliche Lage auf allen möglichen Ebenen. Die Proteste basierten nicht auf dem Interesse bestimmter Gruppen, sondern Bäuer/innen, Arbeiter/innen, Lehrer/innen, Wertpapierbesitzer/innen, Geschäftsleute aus verschiedenen Klassen, Studenten/innen, Angestellte haben daran teilgenommen. Ihre Parolen: Weg mit der Scharia! Wir wollen Brot auf dem Tisch haben! Religion ist eurer Problem nicht unseres!
Frauen waren bei diesem Aufstand deutlich sichtbar, das Streben nach Gleichberechtigung kam mehrmals sehr klar zum Ausdruck. Sie forderten, dass sie sich im Iran besser engagieren und anders einbringen können. Sie wollen die wirtschaftliche Lage aktiv verändern.
MIZ: Was sind die Gründe für die Proteste?
Anna Ritter: Die Korruption ist ein wichtiger Grund. Damit wird den Iraner/innen sehr viel weggenommen. Gewinne aus den Erdölvorkommen werden für private Zwecke genutzt, für die eigene Familie ins Ausland transferiert.
Ein weiterer Grund, warum Menschen hungern müssen, ist der Terrorismus. Finanzielle Ressourcen werden in verschiedene terroristische Milizen investiert, um den politischen Islam zu unterstützen. Die Grundbedürfnisse der Bevölkerung können wegen der Inflation nicht befriedigt werden. Angst, Sorge, eine schlechte Außenpolitik schwächen die iranische Währung. Jeden Tag sehen die Iraner/innen neue Preisschilder auf Lebensmitteln und anderen lebensnotwendigen Produkten.
Außerdem ist die stark eingeschränkte Meinungs- und Pressefreiheit eine weitere Ursache. Die Medien werden vom Regime direkt überwacht. Meldungen und Informationen Wort für Wort diktiert. Die Bevölkerung hört nur eine manipulierte Stimme. Die westliche Presse wird auch indirekt manipuliert. Das Regime erlaubt den Journalisten/innen nicht, bestimmte Plätze oder Orte zu besuchen, um entsprechend Bericht erstatten zu können. Es droht immer das Reiseverbot durch das totalitäre Regime Teherans. Journalisten/innen sitzen in Haft, die Rechtsanwälte/innen dürfen ihre Mandanten/innen nicht richtig verteidigen, weil sie sich strafbar machen können und Gefahr laufen, auch inhaftiert zu werden.
Auch der Umgang mit der lebensnotwendigen Ressource Wasser ist kritikwürdig. Das Wasser wird in arabischen Ländern aufbereitet. Obwohl der Wassermangel durch die Hilfe der Israelis schon längst hätte bekämpft werden können.
Das Atomabkommen war ein politischer Deal, der nur Zeit und Geld gekostet hat. Mit den Kosten könnte für viele Iraner/inner ein besseres Leben geschaffen werden. Mit Solaranlagen als Alternative könnten saubere und friedliche Stromquellen ausbaut werden. Die „Islamische Republik“ ist nie durch eine demokratische Wahl an die Macht gekommen. Diesem Regime fehlt die sogenannte nationale Souveränität beziehungsweise die demokratische Legitimierung der Bevölkerung. Das Ziel der atomaren Aufrüstung waren militärisch-strategische und militärische Zwecke.
MIZ: Welche Rolle spielt die Religion?
Anna Ritter: Das Grundgesetz wertet die Schiiten als Bürger erster Klasse. Durch diese strukturelle Diskriminierung sind Menschen mit sunnitischem Glauben oder anderen Weltanschauungen als Bürger zweite Klasse definiert. Somit wurden seit Gründung der „Islamischen Republik“ immer wieder massive Aufstände gegen das Regime ausgelöst.
Viele kluge Köpfe und Menschen mit Potenzial zum Aufbau des Landes sind bewusst durch die Regierung in den letzten vier Jahrzehnten entweder ermordet oder aus dem Land vertrieben worden – im Namen der Religion unter dem Deckmantel der Scharia.
MIZ: Wie sehen die Iraner_innen heute die „Islamische Republik“?
Anna Ritter: Wir wissen, dass vor 40 Jahren nicht alles perfekt war, aber vieles war damals besser als heute. Die Pahlavi-Dynastie hat das Land zu einem industriellen Land gewandelt. Die Bevölkerung konnte sich ein relativ gutes Leben leisten. Deshalb ruft die Mehrheit der Bevölkerung heute auf den Straßen nur einen Namen, Reza Pahlavi II, der Sohn des ehemaligen Schahs (1919-1980). Er war vom 17. September 1941 bis zum 16. Januar 1979 konstitutioneller Monarch.
Es gab damals viele Arten von Freiheit. Beispielsweise: wie kleide ich mich als Frau, wie mache ich Sport. Allerdings gab es keine Meinungsfreiheit oder kein Mitbestimmungsrecht, um diese politische Freiheit kämpften die Intellektuellen und die gebildete Schicht, die unter der Herrschaft der Mullahs inhaftiert oder ermordet wurden oder die wenigen, die ins Exil in die UdSSR flüchten konnten. Die Protestrufe richten sich dabei auch gegen die zwei Gesichter des Mullah-Regime, das nach innen Demut und religiöse Ergebenheit fordert, während deren Kinder im westlichen Ausland die Millionen der Iraner/innen für Designerklamotten, Autos, Häuser und Partys ausgeben.
MIZ: Wie genau sehen die Forderungen der Protestbewegung aus?
Anna Ritter: Die westlichen Länder sollen sich auf die Seite der Iraner/innen stellen. Das Land gehört der Mehrheit der Bevölkerung und nicht einer kleinen Gruppe, die zu einem bestimmten Zeitpunkt mit der ihre Macht erhaltenden Waffe – nämlich der Religion – die Mehrheit errungen hat. Sie nehmen zwar die Sitze in den wichtigsten internationalen Institutionen, u.a. der UNO in New York, ein, aber sie sind definitiv nicht die Vertreter/innen der Iraner/innen.
Die Mehrheit der Iraner/innen wünscht sich eine säkulare und demokratische Regierung, in der es verschiedene Parteien gibt, die frei sprechen und ohne Repressionen verschiedene Meinungen vertreten können und das Land auf menschliche und säkulare Art und Weise regieren.