m Missbrauchsfälle in Deutschland aufzuarbeiten, hatte die Deutsche Bischofskonferenz 2014 das Forschungsprojekt „Sexueller Missbrauch an Minderjährigen durch katholische Priester, Diakone und männliche Ordensangehörige im Bereich der Deutschen Bischofskonferenz“ in Auftrag gegeben. Die Ergebnisse sollten im September in Fulda vorgestellt werden, doch kann es sich angesichts des Mauerns eines Teils der Bistümer nur um einen Zwischenbericht handeln.
Indirekt widersprach Rörig auch der These, der Zölibat habe mit dem katholischen Missbrauchsproblem nichts zu tun. „Es sind nicht nur Einzelfälle oder Einzeltäter – es sind immer auch strukturelle Probleme, die sexuelle Gewalt an Kindern und Jugendlichen ermöglichen. Diesen Strukturproblemen muss sich die katholische Kirche auch in Deutschland stellen.“
Rörig nannte die jüngst bekannt gewordenen Missbrauchsfälle in den USA „ein weiteres grausiges Beispiel“ dafür, mit welcher Ohnmacht Kinder der immensen sexuellen Gewalt katholischer Ordensträger ausgesetzt gewesen seien. Es sei daher wichtig, dass in jedem Bistum und in jedem Orden aufgearbeitet werde – „auch proaktiv und nicht erst, wenn Betroffene sich zu Wort melden“.
Die einzige nennenswerte Reaktion der Bischofskonferenz betraf den Vorwurf der Vertuschung. Der zuständige Bischof Ackermann bestritt dies rundweg und behauptete, ihm sei keine Diözese bekannt, die ihre Archive nicht öffne.1 Schon damals allerdings hätte sich der Bischof nur einmal die Diözese Augsburg vornehmen brauchen. Erst im Februar 2018 deckte der Bayerische Rundfunk auf, dass im katholischen Kinderheim Heilig Kreuz in Donauwörth jahrzehntelang Kinder misshandelt und in einigen Fällen auch missbraucht wurden. In der Folge musste das Bistum eingestehen, dass ihm die Verbrechen schon lange bekannt waren und sie gezielt geheimgehalten wurden um der Kirche in der Öffentlichkeit nicht zu schaden.2 Allein schon dieses Beispiel belegt, dass Bischof Ackermann genau nach dem Muster agierte und agiert, das der unabhängige Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung kritisiert: Hauptsache, der Ruf der Kirche leidet nicht unter der Veröffentlichung.
Vom Missbrauchs- zum Vertuschungsskandal
Eine dramatische Wendung kam allerdings durch die Publizierung des offiziellen Missbrauchsberichts. Infolge einer Indiskretion wurde er nicht auf einer Pressekonferenz der Bischöfe am 27. September vorgestellt, sondern schon zwei Wochen vorher durch den Spiegel, die Zeit und diverse Tageszeitungen veröffentlicht. Damit war den Bischöfen die Deutungshoheit entzogen, überdies blieb der Skandal zwei Wochen länger öffentliches Thema. Vor allem blieben nicht mehr die an sich auch schon erschreckenden Zahlen von 1670 klerikalen Tätern und 3677 minderjährigen Opfern im Zentrum der Aufmerksamkeit, sondern die vielen „Schlupflöcher“ bei der Untersuchung. So betonten die Autoren der Studie, dass sie gar keinen Zugang zu den Akten der Bistümer hatten, sondern dass die kirchlichen Verantwortlichen selbst auswählten, welche Akten zur Verfügung gestellt wurden. „In einigen Fällen fanden sich eindeutige Hinweise auf Aktenmanipulation“, stellte die Studie fest.3 Nur ein Drittel der 27 Bistümer rückten Unterlagen aus dem Zeitraum zwischen 1946 und 2000 heraus, zwei hatten sogar schon alle Akten von Pfarrern vernichtet, die nicht mehr im Dienst waren. Nicht untersucht wurden ferner Ordensgeistliche, außer sie waren vertretungsweise in einer Pfarrei tätig. Der Eichstätter Bischof Hanke beklagte sich öffentlich4 über den fehlenden Aufarbeitungswillen seiner kirchlichen Mitarbeiter, die externe Überprüfungen scheuten und möglichst verhindern wollten. Ähnlich äußerte sich der Augsburger Oberhirte, der auch einräumte, dass man in manchen Fällen nur zufällig nach der Anfrage eines Opfers Kenntnis erlangt hatte.5 So blieb Kardinal Marx bei seiner Vorstellung der Studie nichts anderes mehr übrig, als der Feststellung der Reformbewegung Wir sind Kirche zuzustimmen, dass die Zahlen „ungeheuerlich, aber wohl nur die Spitze des Eisbergs“ seien. Die in der Studie genannte Quote von 4,4% Missbrauchstätern unter den Klerikern (bei Gemeindepriestern übrigens sogar 5,1%!) ist daher Makulatur. Realistischer sind schon die sieben Prozent, die ein staatlicher Bericht in Australien für die dortigen Priester ermittelte.
Einer der weltweit führenden katholischen Kirchenrechtler, Peter Landau, wies in der Süddeutschen Zeitung vom 2. Oktober 2018 auf ein bezeichnendes, aber wesentliches Detail in der katholischen Vertuschungstradition hin: Der Codex Iuris Canonici (CIC), das katholische Kirchengesetzbuch, enthielt in der Fassung von 1917 bereits einmal eine Norm, die für sexuellen Missbrauch von Kindern die ausdrückliche und automatisch in Kraft tretende „Tatstrafe“ der Exkommunikation ermöglichte: „Hat sich ein Kleriker mit Minderjährigen unter sechzehn Jahren schwer versündigt, ... dann soll er suspendiert, als infam erklärt, jedes Amtes, jedes Benefiziums, jeder Dignität und überhaupt jeder Anstellung enthoben und in schweren Fällen mit Absetzung bestraft werden.“ Dieser Passus wurde jedoch mit der Reform des CIC 1983 gestrichen! Eine solche Rücknahme einer Kirchenstrafe für ein schweres Verbrechen ist nicht mit Nachlässigkeit zu erklären, denn hier wurde nicht eine notwendige Einfügung vergessen, sondern eine bereits ganz bewusst vorgenommene Klarstellung ebenso bewusst wieder gestrichen. Die Schreibtischtäter wussten also ganz genau, welche immensen Folgen dieser Passus für die Zahl der zugelassenen Priester haben konnte, sobald der Missbrauch nicht mehr unter der Decke gehalten werden konnte. Dies wollten natürlich nicht alle Theologen akzeptieren. Daher hatte Peter Landau bereits 2009 eine erneute entsprechende Einfügung in den CIC vorgeschlagen mit folgender aktualisierter Formulierung: „Wer einen Minderjährigen durch ein Sittlichkeitsverbrechen verletzt, unterliegt der mit der Tat bereits eintretenden Exkommunikation.“ Dies hätte bedeutet, dass Priester bereits mit der nachgewiesenen Tat ihr Amt verlieren würden. Darauf gingen aber weder Ratzinger noch sein Nachfolger ein – wohl auch weil der Pristermagel dann dramatische Ausmaße annähme.
Der konservative Flügel des Klerus sieht die Schuld an solchen Verfehlungen bei der „Liberalisierung der Gesellschaft und der Priesterausbildung“. So predigte etwa der Wallfahrtsdirektor von Maria Vesperbild bei Ulm: „An Universitäten gibt es Professoren, bei denen es nicht so genau zugeht, etwa beim sechsten Gebot [betrifft die Sexualität, Anm. d. Autors]. So kommt es dann zum Missbrauch.“
Und die Reaktion der Bischöfe?
Dieser absurden Logik widersprachen allerdings auch Katholiken recht heftig, und auch die Diözese distanzierte sich eilends. Das musste sie auch, denn eine der schlimmsten Feststellungen der Studie war die Widerlegung der noch nach dem Missbrauchsskandal 2010 von den Bischöfen vertretenen Annahme, „dass es sich beim sexuellen Missbrauch Minderjähriger durch Kleriker der katholischen Kirche um eine in der Vergangenheit abgeschlossene und mittlerweile überwundene Thematik handelt“.6 Unter diesen Umständen konnte es ein „Weiter so“ nicht geben. Kardinal Marx versprach für die Zukunft ein „Maßnahmenpaket“ der Bischofskonferenz, mit dem sie „einige“ der Empfehlungen der Studie umsetzen wolle. Die Einschränkung des Beichtgeheimnisses soll jedoch schon einmal nicht dazu gehören. Im Übrigen stehen die Bischöfe vor einem unlösbaren Dilemma: Wer soll ihnen denn ihre Zusicherungen von 2018 noch glauben, wenn sie gleichzeitig selbst eingestehen müssen, dass sich ihre fast identischen Beteuerungen nach dem Missbrauchsskandal von 2010 (wie etwa die Bereitschaft zur „vollständigen“ Aufklärung) als leere Versprechungen herausgestellt haben? Wer einmal lügt, ...
Kein Wunder, dass sämtliche Stellen enttäuscht auf die Ankündigungen der Bischöfe reagierten. Der Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung nannte sie „schlicht unzureichend“ und zu wenig konkret, die Opferverbände kritisierten, die Kirche zeige keine Bereitschaft, die Täter zu benennen, und forderten die Strafverfolgungsbehörden auf, künftig sofort jedem Anfangsverdacht nach- zugehen.7 Dies präzisierten namhafte Jura-Professoren aus dem wissenschaftlichen Beirat der Giordano-Bruno-Stiftung, die die staatlichen Ermittlungsbehörden in die Pflicht nahmen und darauf hinwiesen, dass das Selbstverwaltungsrecht der Kirchen bei der Verfolgung von Straftaten nicht greift.
ausdurchsuchungen in den bischöflichen Personalabteilungen und Archiven wurden als gebotenes Mittel bezeichnet. Selbst die Redakteurin Gabriele Höfling von katholisch.de, der eigenen Internet-Plattform der Bischofskonferenz, bezeichnete die versprochenen Maßnahmen als „nicht überzeugend“ (27.9.2018); sie seien jedenfalls „kein Befreiungsschlag“. So verwundert es nicht, dass selbst überzeugte Katholiken vermehrt über einen Kirchenaustritt nachdenken, wie dies z.B. in der christlich-konservativen Frankfurter Allgemeinen Zeitung allein am 18.9.2018 vier Leserbriefschreiber direkt oder indirekt ankündigten. Tatsächlich stiegen die Austrittszahlen in Augsburg, einer nach bisherigen Erfahrungen repräsentativen 300.000-Einwohner-Stadt, zwischen Mitte September und Mitte Oktober 2018 um 60 Prozent an.
Anmerkungen
1 Spiegel online, 16.8.2018.
2 vgl. Süddeutsche Zeitung, 22.2.2018; Augsburger Allgemeine, 25.4.2018; BR, 21.8.2018.
3 Die Zeit, 13.9.2018; Augsburger Allgemeine, 13.9.2018.
4 Süddeutsche Zeitung, 13.10.2018.
5 Augsburger Kirchenzeitung, 29.9.2018.
6 Augsburger Allgemeine, 13.9.2018.
7 dpa, 29.9.2018.