Widerstände gibt es immer noch zu überwinden, aber 30 Jahre später hat sich die Diskussion etwas versachlicht. In einer Religionskommission wurde um den Standort der Partei gerungen. MIZ sprach mit Walter Otte, der Mitglied in der Kommission war.
MIZ: Wie schätzen die Säkularen Grünen das jetzt verabschiedete Wahlprogramm ein? Sind die Interessen der Konfessionslosen gut berücksichtigt oder hätte es mehr sein dürfen?
Walter Otte: Wahlprogramme sind insgesamt stets zu lang – und für bestimmte Themen stets zu kurz. Insgesamt haben wir aber säkulare Punkte gut unterbringen können. Wenn die nächste grüne Fraktion im Bundestag (und hoffentlich auch grüne Ministerinnen und Minister) das alles abarbeiten würde, wären wir in puncto Säkularität in Deutschland ein großes Stück weiter als heute.
Zum Kirchlichen Arbeitsrecht lautet die klare Aussage: Gewährleistung von Koalitions- und Streikfreiheit für die Beschäftigten bei kirchlichen Arbeitgebern, Einschränkung besonderer Loyalitätspflichten auf einen engen „Verkündigungsbereich“, Stärkung der Rechte der Beschäftigten. Forderungen nach Abschaffung der historischen Staatsleistungen, Transparenz der Kir chenfinanzen, Abschaffung des „Blas- phemieparagrafen“ 166 StGB sind im Wahlprogramm enthalten.
Drei wichtige Aussagen des Wahlprogramms möchte ich hervorheben: Erstens, gerade auch mit Blick auf Konfessionsfreie, die mittlerweile die größte „Konfession“ mit über dreißig Prozent der Bevölkerung darstellen: „Die Zahl der Menschen ohne organisierte religiöse Bindung ist gestiegen. Nicht nur ihnen, auch der wachsenden Vielfalt der Bekenntnisse in Deutschland wollen wir gerecht werden, etwa in der Wohlfahrtspflege oder der öffentlichen Gedenk- und Trauerkultur.“
Zweitens: „Der ‘öffentliche Friede’ wird nicht durch kritische Kunst bedroht, sondern durch religiöse und politische Fanatiker*innen, denen es an Kritikfähigkeit oder Respekt vor Anderen fehlt.“
Und drittens: „Alle Menschen müssen die Freiheit haben, ihren Glauben zu leben oder abzulegen, keinen Glauben zu haben oder gemeinsam einen Glauben zu pflegen – seien sie jüdisch oder christlich, muslimisch oder alevitisch, Humanist*innen, Atheist*innen oder frei von religiös-weltanschaulichem Bekenntnis. Die Diskriminierung von Andersgläubigen dulden wir genauso wenig wie die von vermeintlich liberaleren Anhänger*innen der eigenen Religion“. Genauer nachzulesen ist dies alles im grünen Bundestagswahlprogramm 2017.1
Die Aussagen im Wahlprogramm basieren auf den aktuellen Beschlüssen der Partei. Bündnis 90 / Die Grünen hat einen intensiven Prozess der innerparteilichen Debatte über die Thematik „Religionsgemeinschaften, Weltanschauungen und Staat“ (wie der Titel einer vom Bundesvorstand berufenen Kommission lautete) hinter sich. Die Ergebnisse dieser Debatte, wie sie sich im Kommissionsbericht2 und auch im Beschluss der Bundesdelegiertenkonferenz 2016 in Münster3 zeigen, können sich – gerade im Vergleich mit Beschlüssen anderer Parteien – sehen lassen, auch wenn die Säkularen Grünen an dem einen oder anderen Punkt noch Wünsche offen haben.
MIZ: Was müsste von den Säkularen in der Partei aber auch von den säkularen Verbänden] getan werden, dass in Zukunft das Wahlprogramm der Grünen eine stärker säkulare Handschrift trägt?
Walter Otte: Wir haben mit dem Grundsatzbeschluss der Bundesdelegiertenkonferenz in Münster 2016 eine solide Grundlage für unsere säkulare Arbeit. Die BAG Säkulare Grüne ist die einzige relevante säkulare Bundesvereinigung einer der im Bundestag vertretenen Parteien.
Nicht das Programm ist das Problem, sondern der erstaunlich geringe gesellschaftliche Druck, hier zu Reformen zu kommen. Ohne einen solchen Druck bewegt sich wenig bis gar nichts. Programmforderungen einer Partei bleiben ohne starken gesellschaftlichen Rückhalt in den Koalitionsverhandlungen, spätestens aber im Verfahren der Umsetzung stecken. Warum schaffen es fünfunddreißig Prozent Konfessionsfreie nicht, deutlich mehr Druck zu machen für die Abschaffung von Privilegien aus einer Zeit als noch fast aller Bürger*innen auch Mitglieder der beiden christlichen Großkirchen waren?
MIZ: Was sagt es eigentlich über die Gesellschaftsanalyse einer Partei aus, wenn der konfessionslose Bevölkerungsanteil von deutlich über 30% nicht als Wählerpotential wahrgenommen wird?
Walter Otte: Wahrgenommen wird in der Politik, wer sich zu Wort meldet. Da gibt es ein gewaltiges politisches Potential. Als Bundesarbeitsgemeinschaft Säkulare Grüne haben wir es uns zur Aufgabe gemacht, unsere Partei zu motivieren, diesen Bevölkerungsanteil nicht nur zur Kenntnis zu nehmen, sondern zugleich diesen immer größer werdenden konfessionsungebundenen Bevölkerungsanteil auch zu ermutigen, sich stärker in die Politik einzubringen. Die Konfessionsungebundenen zahlen über die Haushalte von Bund, Ländern und Gemeinden für die Kirchen mit, ob sie das wollen oder nicht. Die Steuerrückerstattung an die Kirchensteuerzahler*innen von jährlich über drei Milliarden Euro geht ebenfalls zu Lasten Kirchenfreier. Das kann und darf so nicht bleiben. Nur: (nicht nur) dieser Missstand ist weitgehend unbekannt, viel Aufklärungsarbeit wird noch zu leisten sein, um politischen Druck zu organisieren.
Wir Säkularen Grünen haben es immerhin geschafft, die organisierten Kräfte aus dem Bereich von Atheisten und Humanisten wie auch kleinerer Religionsgemeinschaften (die viele säkulare Forderungen mittragen) in der Partei sichtbar zu machen. Zu erwähnen ist auch das erstmalige Spitzengespräch des grünen Bundesvorstandes mit Vertreter*innen der säkularen Szene.4 Die Grünen reden nicht mehr nur mit EKD und Katholischer Bischofskonferenz, sondern auch mit dem HVD, der gbs und dem IBKA.
MIZ: Wie gestaltet sich nach Deiner Einschätzung die mittelfristige Entwicklungsperspektive in Bezug auf den Islam? Wird die Religion ins deutsche Privilegiensystem integriert werden? Und falls ja: wer wird davon profitieren?
Walter Otte: Was ist schon „der Islam“? Ist es eine Religion oder sind es mehrere? Es zeigt sich beispielsweise, dass etwa die Ahmaddiya-Gemeinschaft oder die Aleviten durchaus in der Lage sind, sich so zu organisieren, dass sie sich, wenn sie denn wollten, in das Privilegiensystem integrieren könnten. Ein völlig falscher Weg wäre jedoch, die konservativ-orthodoxen Islamverbände als „Kirchen“ anzuerkennen oder die Zugangskriterien für den Körperschaftsstatus aufzuweichen.
Wie sich die weitere Entwicklung gestalten wird, ist nicht absehbar. Fährt die deutsche Politik fort, konservativ-orthodoxe Vereinigungen, wie Ditib (die Teil des türkischen Staatsapparates ist) oder solche Vereinigungen, die der politischen Richtung von Riad oder Teheran oder der Muslimbruderschaft angehören, zu Gesprächspartnern des Staates zu erklären, finanzielle Zuwendungen zukommen zu lassen und ihnen über Beiräte in islamisch-theologischen Lehrstühlen die Bestimmungshoheit über „den Islam“ in Deutschland zu gewähren, dann ist klar, wer von der Entwicklung profitiert: die Feinde der freiheitlichen Gesellschaft und der Demokratie.
Anmerkungen
1 https://www.gruene.de/fileadmin/user_
upload/Dokumente/BUENDNIS_90_DIE_GRUENEN_
Bundestagswahlprogramm_2017_barrierefrei.pdf. Die Positionen zu Gesellschaft, Religion und Weltanschauung finden sich auf S. 120-122, speziell zur Reform des Kirchlichen Arbeitsrechts auf S. 218.
2 https://www.gruene.de/fileadmin/user_upload/
Dokumente/160317_
Abschlussbericht_Religionskommission_Gruene.pdf.
3 https://www.gruene.de/fileadmin/user_upload/Dokumente/
BDK_2016_Muenster/RW-01_
Religions-_und_Weltanschauungsfreiheit.pdf.
4 http://saekulare-gruene.de/spitzentreffen-mit-saekularen-verbaenden/ (letzter Zugriff jeweils 12.8.2017).