Schwerpunktthema | Veröffentlicht in MIZ 4/20 | Geschrieben von Redaktion MIZ und Christoph Antweiler

„Menschen leben nicht in verschiedenen Welten, sondern verschieden in der einen Welt“

Ein Gespräch mit Christoph Antweiler über die Begriffe Kultur 
und Kulturkampf

Kulturkampf ist ein nicht selten genutzter Begriff. Er findet oft dann Anwendung, wenn Meinungsbilder und Einstellungen oder Sozialisation und Lebensweisen im Widerspruch zueinander beschrieben werden sollen. Was meint Kultur? Was will ein „Kampf der Kulturen“ heraufbeschwören oder wie ist ein „Kampf um Kultur(en)“ oder Identität(en) zu verstehen? Dazu sprach die MIZ mit dem Ethnologen Christoph Antweiler.

MIZ: Wenn wir „Kultur“ definieren (nicht mit dem Ziel, ein Identifikations­angebot zu machen, sondern einen für die Analyse von Gesellschaften brauchbaren Begriff zu entwerfen), welche Aspekte müsste eine solche Definition erfassen?

Christoph Antweiler: Kultur ist in ethnologischer Sicht die jeweilige Form der lokalen Gestaltung des Daseins in menschlichen Gruppen. Es ist all das, was Menschen aus dem Vorgefundenen machen, es verändern, Neues erfinden und all das über die Generationen weitergeben. Kultur ist also entgegen dem bürgerlichen Begriff nicht etwa das „Hochkulturelle“. Menschen ohne Kultur kann es nicht geben, genauso wenig, wie Menschengruppen Kultur einfach „verlieren“ können. Kultur umfasst Gedanken, Symbole, Handeln, Institutionen, aber auch materielle Gegenstände. Der im Englischen alltagsprachliche Ausdruck way of life trifft das ziemlich genau – ganz im Unterschied zum eher persönlich oder von Moden geprägten life style. Einzelne Kulturen sind vor allem durch eine den Mitgliedern gemeinsame Sprache und das untereinander geteilte „Wir“-Bewusstsein geprägt. Beispiele sind ethnische Kulturen oder etwa Berufskulturen. Typischerweise geht das auch mit einem mehr oder minder starken Ethnozentrismus einher: Die eigene Gruppe gilt als das positive Zentrum der Welt. Manche Menschen fühlen sich mehreren Kulturen zugehörig. Wenn man Sprachen als Charakteristikum nimmt, weil sie relativ klar voneinander abgrenzbar sind, gibt es auf dem Globus derzeit immerhin rund 7000 Kulturen.

MIZ: Ist die Bezeichnung „Kulturkampf“ für die Auseinandersetzungen zwischen dem preußisch-deutschen Staat und der katholischen Kirche dann eigentlich treffend? Um welche Aspekte von Kultur wurde damals gestritten?

Christoph Antweiler: Da bin ich überfragt, weil ich dazu leider weniger weiß, als im Wikipedia-Artikel steht. Damals ging es um ordnungspolitische und religiöse Fragen, aber, was ich interessant finde, wohl auch um kulturelle Fremdheit zwischen verschiedenen Gruppen und Milieus in verschiedenen Regionen Deutschlands.

MIZ: Worin liegen die Unterschiede zur Vorstellung eines „Kampfes der Kulturen“, wie sie beispielsweise von Samuel Huntington (Clash of Civili­zations) vertreten werden?

Christoph Antweiler: Huntington bewegt sich auf einer ganz anderen Ebene, nämlich der ganzen Welt. Als vergleichender Politikwissenschaftler war er an kulturellen Großblöcken interessiert. Beispiele sind etwa Mittelamerika oder der islamisch geprägte Raum. Davon gibt es nach ihm acht bis neun auf der Welt, wie er in einem viel zitierten Artikel in Foreign Affairs postulierte. Huntington verband ein wissenschaftliches Interesse an Geopolitik mit einer Beraterfunktion für die US-Regierung. Sein Augenmerk galt deshalb besonders Konflikten und ihren Ursachen.

Wenn man ihn genau liest, sind die Blöcke, die er benennt, durch die jeweils dort dominierende Religion geprägt. Seine These ist, dass sich die Konflikte nach dem Kalten Krieg und in Zukunft weniger zwischen militärischen Blöcken als zwischen den Weltreligionen abspielen werden. Er selbst spricht vom „Zusammenprall der Zivilisationen“. In der öffentlichen Debatte ist daraus leider – doppelt falsch – der „Kampf der Kulturen“ geworden, auch in der deutschen Fassung seines Hauptwerks. Huntington vereinfacht manches allzu mutig, aber viele der Kritiker haben nur den kurzen Aufsatz und nicht sein dickes Buch dazu gelesen. Auch wenn man heute viel mehr weiß, so lag er im Tenor meines Erachtens nicht völlig daneben. Huntington machte nämlich die eminente Wirkmacht politisierter Religion deutlich und er sah früh die weltpolitisch große Bedeutung des Islam.

MIZ: Wenn wir wieder einen Blick auf die frühe Phase des zweiten Deutschen Reiches werfen – ließe sich sagen, dass Bismarck bemüht war eine preußisch-protestantische „Leitkultur“ mit feudalistischem Einschlag durchzusetzen und dass der Kulturkampf auch in diesem Rahmen zu sehen ist?

Christoph Antweiler: Dazu weiß ich zu wenig zu Bismarck, aber ich denke, ja. Mit Leitkultur ist ja meistens ein Set von Normen und Werten gemeint, die – über Gesetze hinaus – grundlegend für alle gelten sollen und eine langfristige Orientierung für die gesamte Gesellschaft darstellen, oder wie bei Bismarck, für die Nation.

MIZ: Derzeit steht der Begriff „kulturelle Vielfalt“ hoch im Kurs. Welche Aspekte von Kultur werden bei dieser Perspektive betont, welche vernachlässigt?

Christoph Antweiler: Mit kultureller Vielfalt wird in den Medien meistens die Vielfalt ethnischer Ausrichtungen oder der sog. „Herkunft“ assoziiert. Ich sehe Vielfalt als Ethnologe und auch als Person positiv: Vielfalt ist normal, politisch gut … und für mich auch noch meistens schön, etwa in der Kunst. Aber Vorsicht – es sollte uns zu denken geben, wenn jeder kulturelle Vielfalt gut findet, wie jetzt sogar die extreme Rechte. Was beim einseitigen Starren auf Vielfalt unterbelichtet bleibt, ist erstens die Heterogenität innerhalb von Kulturen, z.B. individuelle Temperamente und Routinen sowie persönliche Haltungen. Wenn ich feststelle (sic!), dass eine geflüchtete Person aus Syrien stammt, ist das menschenrechtlich und völkerrechtlich relevant. Diese Angabe der „Herkunft“ sagt mir aber über die Person, über den Menschen als Menschen, herzlich wenig. Vielleicht ist es eine Christin aus der ländlichen Oberschicht Ostsyriens nahe der Grenze zum Irak und nicht der stereotype junge islamische Mann aus Aleppo.

Zweitens kann die Überbetonung kultureller Vielfalt leicht in einer Reduktion von Kultur auf Differenz münden. Beim Starren auf Besonder­heiten wird nämlich vergessen, dass Menschen in vieler Hinsicht gleich sind, biologisch und auch kulturell. Mein Motto wäre hier: „Lasst uns Kultur runter dimmen und mehr auf Individuen einerseits und die ganze Menschheit andererseits achten.“

MIZ: Ist es eigentlich eher so, dass Kultur generell umkämpft ist (oder zumindest einzelne zentrale Aspekte) oder wird der Kulturbegriff in den politischen Kämpfen eher instrumentalisiert?

Christoph Antweiler: Ja, in modernen Vielfaltsgesellschaften ist sie generell umkämpft. Verstärkt seit den 1990er Jahren wird Kultur vor allem als argumentative Waffe benutzt. Sie wird verwendet in der sog. Identitätspolitik, wobei es aber um ganz handfeste Dinge geht. Keine Identität ohne „Identitäter“. Die eigenen Leute sollen auf Linie gebracht werden, deren (vermeintliche) Interessen sollen durchgesetzt werden. Das geht oft damit einher, dass andere Menschen bekämpft oder unterdrückt werden, eben, weil sie anderen Gruppen angehören oder ihnen einfach zugeordnet werden. Kultur wird auf wenige Marker, wie Symbole, Nahrungsvorschriften oder Religion reduziert. In dieser spaltenden und kulturalisierenden Sicht werden interne Unterschiede in der eigenen Gruppe ausgeblendet und der Kontrast zu anderen Gruppen systematisch verstärkt. Ein leider immer wieder „überzeugendes“ Argument ist einfach, dass die Anderen „anders“ sind. Die tatsächliche Lebensweise, der „Inhalt“ von Kultur, ist dabei oft Nebensache. Die führenden Akteure in diesen Identitätskämpfen sind etwa Angehörige aus Eliten von Migrierten oder ethnischer Gruppen, internationale Fürsprecher für Minderheiten oder auch selbsternannte hiesige Vertreter, etwa Stadtpolitiker. Mein Motto gegen dieses Auseinanderdividieren wäre: „Menschen leben nicht in verschiedenen Welten, sondern verschieden in der einen Welt“.

MIZ: Das Kreuz und die Inschrift auf dem Humboldtforum haben für erhitzte Debatten gesorgt. Nun ist mit der Sammlung und der Sammlungs­geschichte auch die Zunft der Ethno­logen in die Kritik geraten. Wie ist diese Debatte zu bewerten?

Christoph Antweiler: Das ist ganz schwer kurz zu sagen. Die Debatte ist wichtig, weil sie die in mancher Hinsicht problematische Geschichte der Sammlungen zum Thema macht. Die Ethnologie wird zwar viel erwähnt; fachlich spielt sie aber, wie ich es sehe, nur noch eine kleine Rolle im Forum. Was Ethnologinnen und Ethnologen heutzutage in der Forschung konkret machen, interessiert in der Debatte kaum jemanden. Leider wird das Forum aber von vielen benutzt, um überzogene Thesen durchzusetzen, identitätspolitische Kämpfe zu führen oder gefühlte kolonialhistorische Schuld abzuarbeiten … am besten gleich alles drei zusammen. So etwas überlastet ein Museum systematisch.

Eine der überzogenen Behauptungen sagt, dass die Sammlungsbestände per se widerrechtlich angeeignet wurden. Eine zweite historisch falsche These ist die von der durch und durch kolonialistisch geprägten Ethnologie. Drittens wird allseits ein kritisches Bewusstsein hochgehalten, aber die Kritik ist per default gegen den „Westen“ gerichtet. Ob man angesichts der vielen externen Quellen sinnvoll von so etwas wie „westliche Wissenschaft“ sprechen kann, bleibt ungefragt. Museen werden auf Orte der Herrschaft reduziert .. und Wissenschaft als deren Magd. Wird auch gefragt, warum es kaum Museen in nichtwestlichen Kulturen gibt, selbst nicht in mächtigen frühen Staaten? Man könnte fragen, ob und wenn ja, inwieweit es in nichteuropäischen Gesellschaften ein systematisches Interesse für fremde Kulturen gab, das dem westlichen vergleichbar ist. Der Westen wird aus kritischem Impetus jetzt so undifferenziert gezeichnet wie der allseits diagnostizierte westliche Orientalismus den Orient, die Anderen stereotyp darstellte. Fazit: plattester Okzidentalismus.

Dazu passt, dass gern auch mal so nebenbei über „alte weiße Männer“ hergezogen wird – populistisch sehr gut. Platte Essentialisierungen feiern fröhlichen Urstand und manchmal kommt das alles einem Kulturrassismus gefährlich nahe … und das von links! Hier zeigt sich für mich ein allgemeines Muster: wichtige Einsichten und richtige gesellschaftliche Anliegen der Postcolonial Studies, des Feminismus, des Antirassismus und auch der Ethnologie werden so extrem vertreten oder platt umgesetzt, dass jeder intersubjektive Austausch sterben muss. Wenn es nur noch lokale Sichten und jeweilige Perspektiven gibt, kann die Wissenschaft gleich zu Hause bleiben. Wenn nur noch manche über manche sprechen dürfen, brauchen wir keine Begegnung, Ethnologie ohnehin nicht. In Diskussionen zum Humboldt Forum wird viel über transkulturelle Verbindungen gesprochen, aber vorwiegend über Ausbeutung, wenig über gegenseitig Befruchtendes zwischen den Kulturen. Was bei all dem leider gänzlich untergeht, ist, einmal nach Gemeinsamkeiten der Kulturen im Meer der Vielfalt zu fragen. Hierzu könnte man in diesem faszinierenden Forum allein oder zusammen mit einer kundigen Ethnologin so manches finden.