Als mutiger Denker und kritischer Geist scheute sich Karlheinz Deschner nicht, gängige Überzeugungen in Frage zu stellen. Bekannt wurde er vor allem durch seine umfangreichen religionskritischen Werke, allen voran die monumentale Kriminalgeschichte des Christentums. In diesem mehrbändigen Werk deckte er akribisch die dunklen Seiten der Kirchengeschichte auf und entlarvte die Machenschaften und Verbrechen, die im Namen der Religion begangen wurden. Er verstand es meisterhaft, komplexe historische Zusammenhänge aufzudecken und verständlich darzustellen, ohne dabei Kompromisse bei der Genauigkeit einzugehen. Sein Werk, das zahlreiche Bücher umfasst, wurde zeitlebens von vielen Persönlichkeiten des säkularen Lebens kritisch gewürdigt.1
Karlheinz Deschner ist für die Aufarbeitung der Kirchengeschichte unverzichtbar. Er ist es aber auch für meine eigene Geschichte, die stark religiös geprägt war. Erlauben Sie mir deshalb, Ihnen in wenigen Zeilen einen persönlichen Blick auf Karlheinz Deschner zu eröffnen. Ich möchte Sie, liebe Leser*innen, mitnehmen und Ihnen zeigen, dass Karlheinz Deschner nicht nur ein Meister der Sprache und des Filetierens christlicher Moral war, sondern auch mein persönlicher Wegbegleiter bei der Emanzipation vom Theologiestudenten zum Menschenrechtsfundamentalisten.
Wenn man in so einer katholisch-reaktionären Ecke Deutschlands aufwächst wie ich, ist der Gehorsam gegenüber Gott und der Kirche ein wichtiges Instrument der Manipulation. So ist es nicht verwunderlich, dass ich mich schon früh in meinem Leben für den Beruf des katholischen Theologen entschieden habe. Eigentlich wollte ich katholischer Priester werden, aber während andere „Berufene“ von irgendwelchen Zeichen und Stimmen sprachen, die ich nicht wahrnahm, war mir das Priesterseminar nicht geheuer. Dennoch war die katholische Kirche für mich der wichtigste Bezugspunkt in moralischen Fragen. So paradox es klingen mag, der totale Glaube und die totale Kontrolle (Stichwort: Beichte) waren ein wesentlicher Teil von mir und gaben mir Stabilität.
Mein Theologiestudium begann ich in Münster. Dort lernte ich allerlei merkwürdige Gestalten kennen. Im Nachhinein weiß ich nicht mehr, wer seltsamer war: die Student*innen oder die Professoren. Mein größtes Problem war der Konflikt zwischen meinem inneren Glauben und dem Wissen, das mir die Professoren – es waren ausschließlich Männer – vermittelten. Mein bibeltreues Weltbild geriet mit der Zeit ins Wanken. Als Arbeiterkind, das mit Büchern nichts anfangen konnte, wurde ich auf eine harte Probe gestellt. Kann der Glaube dem Wissen widerstehen? Nein, bei mir nicht. Je mehr ich lernte, desto mehr entfernte ich mich von meinen inneren Überzeugungen. Ich begann Fragen zu stellen. Was, wenn das, was mir heilig war, gar nicht stimmte? Wenn die Kirche fehlbar war? Was, wenn es mehr gab, als ich glaubte? Was, wenn es Gott gar nicht gibt? Langsam begriff ich, dass mein ganzes Leben vergiftet war. Vergiftet von einer Religion.2 Also begann ich das zu tun, was mir bisher so fern war: Ich las. Es mag Ihnen möglicherweise paradox erscheinen, aber für mich war das ein nicht ganz ungefährliches Unterfangen. Galt doch Vielen das Lesen als ein Zeichen, den Teufel anzubeten. Doch je mehr ich die Angst vor dem Lesen der Bücher ablegte, die mir andere Blicke auf die Welt eröffneten, um so größer wurde der Durst nach Veränderungen. Und diesen Wissensdurst versuchte ich zunächst mit theologischen Büchern zu stillen.
Die Begegnung mit (un)kritischen Denker*innen der Kirche hat mich zunächst nachhaltig verändert. Ich las Hans Küng, Eugen Drewermann, Uta Ranke-Heinemann, Mary Daly, Adolf Holl und viele andere. Hatte ich anfangs gehofft, dass sie mir helfen würden, meinen Glauben zu retten, musste ich bald feststellen, dass ihnen die nötige Konsequenz fehlte. Küng, Drewermann und andere blieben in ihrem Glaubensgebäude gefangen, wonach die Kirche manchmal problematisch, der Glaube aber viel wichtiger sei. Man müsse unterscheiden können, hieß es immer wieder. Aus ihnen sprach dieser typische Charakterzug der Verschleierung, des Nicht-Wahr- haben-Wollens. Einer meiner Theologieprofessoren, Jürgen Werbick, brachte diesen Charakterzug auf den Punkt: Wenn man ein Problem mit dem Glauben habe, solle man es im persönlichen Gespräch mit Gott ausmachen, aber nicht öffentlich erklären. Hans Küng schickte mir, nachdem ich ihm mein Dilemma geschildert hatte, ein von ihm geschriebenes Buch mit Widmung, das ich später bei Ebay verkaufen konnte und wollte. Adolf Holl bescheinigte mir zunächst einen „leidenschaftlichen Ton (von dem ich manchmal versucht bin zu glauben, er sei im Aussterben begriffen)“. Doch je mehr ich insistierte, desto mehr distanzierte er sich von mir und empfahl mir eine „Prise buddhistischer Nonchalance“. Zorn war nicht erlaubt, jedenfalls nicht auf die Kirche und nicht auf den Glauben.
Alle Genannten haben oder hatten eine Gemeinsamkeit, die mir schließlich den Schritt aus der Kirche erleichterte: Die Erwähnung des Namens Karlheinz Deschner und seiner Werke löste eine geradezu allergische Reaktion aus. Was, so dachte ich, muss dieser Mann gedacht und geschrieben haben, dass die Theolog*innen wütend – ja, zornig – und zurückweisend wurden?
„Aufklärung ist Ärgernis; wer die Welt erhellt, macht ihren Schmutz klarer.“ Dieser Satz von Karlheinz Deschner bringt das ganze Dilemma der Theologie auf den Punkt. Und je klarer mir der Dreck vor Augen geführt wurde, desto klarer wurde mir, dass ich gehen musste. Aber wohin sollte ich gehen? Die Frage ist weniger banal, als sie klingt. Denn wenn man als gläubiger Katholik das Elternhaus verlässt und als überzeugter Atheist zurückkehrt, ist dort kein Platz mehr. Was folgt, ist eine jahrelange politisch-weltanschauliche Odyssee.
Einer meiner Leuchttürme in dieser Zeit war Karlheinz Deschner. Ich las seine Werke Tag für Tag, und eines Tages schrieb ich ihm, ohne eine Antwort zu erwarten. Aber die Antwort kam, und sie war wichtig. „(...) Wenn der einzige Glaube, den man haben will, der an sich selbst ist, was ich gut finde, wenn auch äußerst riskant, dann bleibt einem eigentlich nur eines übrig: sich entsprechend zu verhalten.“ Deschner hat mir mit diesem bekannten Ausspruch Kants einen wichtigen Rat mit auf den Weg gegeben: Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen. Das habe ich getan und tue es bis heute.
Hat sich Karlheinz Deschner im Laufe seines Wirkens viele Feinde gemacht? Gewiss!3 Wenn der Satz „Viel Feind, viel Ehr“ auf jemanden zutrifft, dann auf ihn. Was der frühneuzeitliche Landsknechtsführer Georg von Frundsberg, auf den das Zitat zurückgeht, damit sagen wollte, war die Möglichkeit, gegen einen zahlenmäßig überlegenen Feind umso mehr Ehre zu erringen. Und das ist Karlheinz Deschner eindrucksvoll gelungen. Allein seine Kriminalgeschichte des Christentums ist ein Opus magnum, ein Kompendium des kritischen Denkens und eine nie verheilte Wunde der christlichen Kirchen. Ich ziehe den Hut vor Karlheinz Deschner und seinem Werk – und dies teilt die Redaktion. In diesem und in seinem Sinne, Geschichte wird gemacht!
Anmerkungen:
1 Gieselbusch, Hermann / Schmidt-Salomon, Michael (Hrsg.): „Aufklärung ist Ärgernis“. Karlheinz Deschner – Leben, Werk, Wirkung. Aschaffenburg 2006.
2 Vgl. Moser, Tilmann: Gottesvergiftung. Frankfurt/Main 1980; Lütkehaus, Ludger: Kindheitsvergiftung. Aschaffenburg 2012.
3 Die katholische Kirche reagierte auf Deschners Christentumskritik mit einer Tagung über die ersten beiden Bände der „Kriminalgeschichte“, die vom 1. bis 3. Oktober 1992 in der Katholischen Akademie Schwerte stattfand. Der Erfolg blieb überschaubar, was die öffentliche Resonanz betraf. Deschner blieb für die (kirchennahe) Geschichtswissenschaft zeitlebens ein „rotes Tuch“.