Weltanschaulicher Kern
Das Weltanschauliche des Humanismus kann nur aus diesem selbst kommen, nicht aus Additionen mittels Antworten auf die Grundfragen der Philosophie oder (speziell) den Haltungen zu Gottesfragen. Denn dies ist die Eigenart des Humanismus, seine Geburts- wie Lebensgeschichte, zwischen (von mir aus über) den Religionen zu stehen. Er kommt vor, auch wenn seine Denker und Anwender den Begriff gar nicht kennen oder seine Prinzipien Konfuzius, Jesus, Maimonides oder Marx zuschreiben (was logischerweise immer wesentliche Unterschiede macht). Es gibt ihn in Diktaturen und Demokratien. Er ist gemeint, wenn von Menschenwürde und Barmherzigkeit die Rede ist, von Bildung, Entrohung, Friedfertigkeit, Mildtätigkeit, Menschenliebe oder Mitleid. Das humanistische Apriori ist, den Menschen als Menschen zu sehen. Das ist seine Sensation, darin liegt seine weltanschauliche Sprengkraft. Daraus entfaltet seine Anhängerschaft Religions- und Weltanschauungskritik.
Nun könnte man einwenden, das sei doch wesentlich Humanität, Humanismus sei mehr. Genau: Humanität muss erst einmal entdeckt werden, eigentlich in jeder Epoche immer wieder. Humanismus ist der geistige und praktische Um- und Aufbau dieses offenen Systems in seinen Grundsätzen, Verästelungen, Entwicklungsstufen, Personalien, Wahrheiten und Bekenntnissen. Seine Quellen und Wege liegen in entsprechenden kulturellen Bewegungen, Bildungsprogrammen, Epochen (z.B. Renaissance), Traditionen (wie das „klassisches Erbe“), Weltanschauungen, Formen von praktischer Philosophie, politische Grundhaltungen bei der Durchsetzung der Menschenrechte und Konzepte von Barmherzigkeit in humanitären Praxen.1
Existenz als Kultur
Der „christliche Humanismus“ war ein großes, kurzlebiges und westeuropäisches Missverständnis in kirchlichen Reaktionen auf den Erfolg des Humanismus in der antifaschistischen „Volksfront“ der 1930er Jahre. Der Theologe Karl Barth verurteilte nach dem Krieg solches Denken als „hölzernes Eisen“.2 Religionen seien keine Ismen. Der „christliche Humanismus“ kam dann in den 1950ern aus der Debatte, außer bei den Freidenkern, die ihre Gegnerschaft dazu tradierten und den „säkularen Humanismus“ erfanden.
Das Christentum, das erkannten die meisten Freidenker bereits in den 1920ern, kann nicht durch antikirchliche Agitation oder ähnlich gelagerte Aktionen und Forderungen nach Trennung von Staat und Kirche zurückgedrängt, gar beseitigt werden, sondern nur mittels weltlicher (wie es noch hieß) kultureller Angebote von der Wiege über die Schule bis zur Bahre. Wir würden das heute praktischen Humanismus nennen. Das ging damals nicht, weil Humanismus in dieser Zeit als bürgerlich-elitäre und weltfremde Antikeverehrung galt und schließlich als „dritter Humanismus“ in ein freundliches Verhältnis zum Faschismus trat.
Die Erfolge der Jugendweihen, Lebenskunde und Bestattungskassen in den 1920ern waren zwar bescheiden, wurden aber bekämpft (auch wegen ihrer Verbindungen zu den Arbeiterbewegungen). Es wurde deren Beseitigung gefordert, weshalb die Kirchen den Nationalsozialismus nahezu unisono begrüßten.
Von den Versuchen der Nazis, diese weltlichen Angebote durch eigene zu ersetzen, war nur die Lebenskunde als Rassenlehre innerhalb des Biologieunterrichts erfolgreich – ein (letztlich) weltliches Angebot. Das war aber ein Vorgang, der im Vorfeld der „großen Wende“ um 1990 half, „weltlich“ als nicht hinreichende Benennung einer Alternative zu erkennen. Parallel dazu begann ein humanistischer Aufbruch, ohne große Rückbesinnung auf die Humanismushistorie.
Humanismus hat eine mehr als 2000-jährige Geschichte – ein Auf und Ab. Seine Protagonisten waren immer in die Religionen ihrer Zeit eingebunden, von Cicero über Erasmus bis zu den Neuhumanisten des 18. Jahrhunderts. Im 19. Jahrhundert kamen die Juden hinzu, mit ihnen entstand die erste große Humanistenorganisation (1892-1936), die Deutsche Gesellschaft für ethische Kultur (DGEK), die weltliche Ethik zu einer Religion machen wollte (Ferdinand Tönnies). Das meinte, humanistische Ethik kulturell zu verankern.3
Erstmals, von den USA ausgehend, kam in den 1930ern ein „säkularer Humanismus“ auf, der, wie Finngeir Hiorth herausfand, den dortigen, vor allem jüdisch geprägten ethischen Humanismus als zu religiös beseitigen half.4 Dieser weltanschaulich „säkular“ fundierte Humanismus wollte eine politische Praxis, stand dem Abmühen mit Sozialarbeit fern.
Nach dem Ende des Ostblocks erlebte diese Humanismusvariante eine Renaissance (befördert besonders von Paul Kurtz), als sich ab 1989/1990 die westdeutschen, bis dahin sozialistisch orientierten Freidenker, nach einem neuen Programm umschauten. Man besetzte den neuen Begriff gegen Bestrebungen besonders aus dem Osten, ihn praktisch zu machen. Ich habe dies in Pro Humanismus dokumentiert.
Konzeptionelle Hemmnisse
Seitdem gibt es die Debatte über „säkularen Humanismus“, auf dessen Seite sich Rainer Rosenzweig schlägt. Dabei werden humanistische Angebote – ziemlich humanismusfremd – nach ihrer Säkularität befragt und „weltanschaulich“ beurteilt. Das äußerste Zugeständnis ist die „Solange“-Formel.
Ein konsequent humanistisches Denken hat sich in den letzten dreißig Jahren auch im HVD nicht durchsetzen können, wie die Aufschreie in Sachen „Seelsorge“ zeigen. Ich sehe dafür folgende Gründe:
1. Der historische Druck der eigenen Freidenkergeschichte (und ihrer konzeptionellen „Heiligtümer“) war in den jeweiligen Verbänden (je nach Herkunft) enorm und steuerte eine entsprechende Geschichtsbetrachtung, die das traditionell Freidenkerische betont, auch deshalb, weil vorher Freidenkerverbände aus sozialistischen Erwägungen heraus weder die Historie des Humanismus rezipierten noch den ethischen Humanismus der DGEK, obwohl gerade hier diverse Vorläufer der eigenen Sozialpraxis ihren Ursprung haben. Das ist umso tragischer, weil dadurch die jüdischen Quellen dieses praktischen Humanismus im Dunkeln bleiben.
2. In vielen Verbänden, auch im HVD, fehlte und fehlt bis heute eine eigene Praxis, die zum Umdenken, zur Kenntnisnahme der Realitäten eines „praktischen Humanismus“ zwingt.
3. Noch immer entfaltet die Diskreditierung der DDR-Kultur- und Alltagsgeschichte ihre wundersamen Blüten und beträchtlichen Furor mit dem Tenor, „die DDR hat es nie gegeben“, Humanismus dort schon gar nicht. Hier wirken weltanschauliche Blockaden, auch und gerade hinsichtlich humanitärer Einrichtungen und Vorstellungen von einem „praktischen Humanismus“.5 Das ist eine andauernde Geschichte der Ignoranz, trotz inzwischen mehr als zehntausend wissenschaftlicher Publikationen. So langweilig wird der Laden also doch nicht gewesen sein, wie der aktuelle Streit über Bücher von Gerd Dietrich, Petra Köpping, Dirk Oschmann und jüngst Katja Hoyer zeigen.
Humanistisches Bekenntnis
Auch in dieser Frage gibt es deutliche Ost-West-Unterschiede. An den Ost-Menschen geht das Heilige in dieser Frage weitgehend vorbei. Ihnen fehlen auch die kirchliche Bindung und die Befreiung davon. Ein Bekenntnis ist in der modernen Gegenwart „säkularisiert“, einfach eine energische Werte-Bekundung, ein Sinn-Ausdruck. „Sinn“ wiederum ist nicht ohne „Sinnlichkeit“ zu haben. Angesichts der Waren- und Medienwelt gibt es sogar eine Inflation der Bekenntnisse, was sie nicht unbedingt klüger macht, wie Corona zeigte und die Influencerkultur vorführt.
Welt-Anschauungen (wie Religionen) bündeln bestimmte Aussagen und stellen sich auch (oft sogar vorwiegend) ästhetisch dar, in Gesängen, Tänzen, Bauwerken, Gesten, Dichtungen und Gemälden, aber auch in Kleidungen, Ritualen, Essgewohnheiten, Benimmformen usw. Bekenntnisse sind stets kulturelle Urteile, nicht einfach schriftlich niedergelegte Buchweisheiten (aktuell gut ablesbar an der breiter werdenden Kultur des Vegetarismus und Veganismus). Gerade Humanismus hat als Kulturbewegung vom antiken Beginn an eine eigene Bilderwelt bis hin zu den Menschenbildern und Bildern von Menschen. Das gut zu finden, war im Bilderstreit der Reformation gefährlich.
Ein „Bekenntnis“ ist in der deutschen Sprache ein wörtliches oder schriftliches Geständnis, eine öffentliche Meinungs- und Überzeugungsäußerung. Durch das Verhaftetsein der Freidenker in der Religions- und Kirchenkritik wurde der Begriff „Bekenntnis“ (obwohl auch in den 1920ern bei den Freidenkern in einem positiven Verständnis üblich) im Zusammenhang mit der Aneignung positivistischer Philosophien und der Ideologiekritik der 1970er Jahre zu einer Art Unwort und sehr aufgeladen.
„Bekenntnis“ wurde, weil Freidenker sich von Religionen absetzten, mit dem religiösen Credo (lat.: „ich glaube“) besonders des Christentums gleichgesetzt. Der Bekenntnis-Begriff galt und gilt in der „Szene“ allgemein als verbrannt, weil identisch mit der anbetenden Lobpreisung der Gottheit und der religiösen Heilszusage. Ein „Bekenntnis“ hat nach dieser Ansicht in einem szientistisch verstandenen Humanismus nichts zu suchen.
Nun gut. Ich für meinen Teil bekenne mich zum modernen Humanismus und seiner komplizierten Geschichte. Ich würde niemand zum Eintritt in eine humanistische Organisation raten, in der nichts bekannt wird (man beachte die mögliche mehrfache Deutung).
Anmerkungen
1 Vgl. Hubert Cancik/Horst Groschopp/Frieder Otto Wolf Hrsg.): Humanismus: Grundbegriffe. Berlin/Boston 2016, S. 1.
2 Karl Barth: „Humanismus“. In: Humanismus. Zürich 1950, S. 21.
3 Umfänglich dargestellt und dokumentiert in: Horst Groschopp/Eckhard Müller: Aus der Ethik eine Religion machen. Der praktische Humanismus einer sozialliberalen Kulturbewegung. Zur Geschichte der „Deutschen Gesellschaft für ethische Kultur“ (Oktober 1892 bis Januar 1937), erscheint im Herbst 2023 bei Alibri.
4 Vgl. Finngeir Hiorth: Humanismus – genau betrachtet. Eine Einführung. Neustadt am Rübenberge 1996, S. 21-25.
5 Vgl. Horst Groschopp: Der ganze Mensch. Die DDR und der Humanismus. Ein Beitrag zur deutschen Kulturgeschichte. Marburg 2013.