Allgemeines | Veröffentlicht in MIZ 3/18 | Geschrieben von Christoph Lammers

Der Kampf um das säkulare Erbe

2018 ist das Jubiläumsjahr diverser Revolutionen. Zäsuren, Umbrüche und Aufbruchstimmung bestimmen die Jahrestage zum vergangenen 20. Jahrhundert, allen voran die Novem­berrevolution von 1918 und die Ent­wicklungen um 1968. Sie sind deshalb von enormer Bedeutung, weil auch und gerade für die säkulare Szene derzeit durchaus lehrreich. Denn um zu erkennen, wie gesellschaftliche und politische Prozesse ablaufen, um auf Herausforderungen in der heutigen Zeit zu reagieren und um die richtigen Entscheidung unter den gegebenen Bedingungen zu fällen, dafür lohnt ein Blick in die Geschichte.

In den letzten Monaten sind zur Novemberrevolution – den Ursachen und Folgen – eine Fülle an Beiträgen und Büchern veröffentlicht worden. Personen, die einen dezidiert religionsfreien und antiklerikalen Hintergrund haben, treten kaum in Erscheinung und ihre Verdienste werden nicht benannt. Ein Grund dafür ist, dass die deutsche Geschichts- und Erinnerungspolitik auch im 21. Jahrhundert eine kirchennahe, reaktionäre Geschichtsschreibung ist.

Da ist zum einen die Konfliktlinie Staat und Kirchen, die auch heute noch von enormer Bedeutung ist. Die Zeit von 1918/19 nimmt Horst Groschopp mit der Person Adolph Hoffmann in den Blick. Die fortschreitende Säkularisierung der Gesellschaft war damals einem konservativen, reaktionären, christlich-klerikalen Gegenwind ausgesetzt. Nur stand im Gegensatz zu heute mit der Arbeiter_innenbewegung und deren politischem Arm, der deutschen Sozialdemokratie, eine einflussreiche, durch ein politisches Milieu geprägte gesellschaftliche Kraft gegenüber, die humanistische Ideale vertrat und die Macht der Kirchen zurückdrängen wollte und die prominente liberale Verbündete (wie Friedrich Naumann) hatte – in der heutigen Zeit kaum mehr vorstellbar.

Im Hinblick auf weltanschauliche 
Fragestellungen fällt bei genauerer Betrachtung auf, dass die Revolutions­jahre gar nicht so revolutionär und zukunftsweisend waren. Insoweit war die Weimarer Reichs­verfassung von 1919 ein hinreichender Kompromiss der in der Koalition vertretenen politischen Strömungen. Zur Lösung zukünftiger weltanschaulicher Frage­stellungen taugte die Verfassung nicht. Folglich ist der sich im kommenden Jahr zum hundertsten Mal jährende Verfassungsbruch – die bis heute nicht umgesetzte Ablösung der Staatsleistungen an die Kirchen – nur ein Teil des Problems. Die Trennung von Staat und Kirchen, wie sie im Parteiprogramm der Sozialdemokratie zu finden war, wurde bis heute nicht eingelöst.

Desgleichen sind Forderungen zur Emanzipation der Frauen zwar mit der Einführung des Frauenwahlrechts vom 12. November 1918 einen entscheidenden Schritt vorangekommen, aber andere schon vor 100 Jahren formulierte Forderungen längst nicht umgesetzt. Dies zeigt nicht zuletzt die aktuelle Debatte um die Abschaffung von § 219a. Dass Frauen wählen können, ist in demokratischen Staaten und für deren Staatsbürger_innen ein selbstverständliches Recht. Dieses Recht musste noch bis in die 2000er Jahre hinein gegen die Kirchen und gegen das konservative Lager hart erkämpft werden.1 Die „Revolutionen“ der Frauenemanzipation sind bis heute vom gesellschaftlichen Wandel abhängig. Denn die Frauen der Revolutionen sind bisweilen oft „vergessene Revo­lutionärinnen“ – ausgegrenzt und marginalisiert. Gisela Notz beleuchtet in ihrem Beitrag dieses Phänomen für die Jahre 1918/19.

Der Faschismus und die sog. Adenauer-Zeit haben die bereits angestoßene gesellschaftliche Entwicklung und den Wandel zu einer modernen, demokratischen und weltanschaulich aufgeschlossenen Gesellschaft nicht nur unterbrochen, sondern um Jahre und Jahrzehnte zurückgeworfen. Die beiden christlichen Kirchen hießen diese Entwicklung und emanzipatorischen Ansinnen nicht nur nicht gut, sie waren auch maßgeblich an der Durchsetzung antidemokratischer und menschenverachtender Politik beteiligt. Der gesellschaftliche Rückschritt, der von den 1930er bis in die 1960er Jahre andauerte, wäre ohne die Verflechtung von Faschismus und Kirchen bzw. Konservativismus und Kirchen nicht möglich gewesen.

Erst die Rebellion der 1968er-Generation und der daraus resultierende gesellschaftliche Wandel hat auf lebensweltlicher Ebene einen Prozess angestoßen, der mit der Revolution von 1918 bereits begann. „Unter den Talaren Muff von tausend Jahren“, so klang es in den Hörsälen. Die Gesellschaft, allen voran die Frauen, begehrte nach und nach gegen die lebens- und leibfeindliche Politik auf. So sehr die Kirchen auch von den Kanzeln zürnten und predigten, die Veränderungen waren nicht mehr aufzuhalten. Damals wurde eine Art säkularer Rahmen geschaffen, in dem Menschen und Interessensgruppen Diskussionen anstießen, die auch in der Politik ihren Widerhall fanden. 1968 hatte somit in gewisser Weise das nachgeholt, was in den 1920ern Jahren nicht erreicht wurde.

Diese Emanzipationsprozesse verliefen in der Geschichte nie konfliktfrei. Das Recht auf Selbstbestimmung über den weiblichen Körper ist ein seit mehr als hundert Jahren anhaltender Kampf. Daniela Wakonigg greift in ihrem Beitrag die aktuelle Debatte auf und zeigt anhand der historischen Entwicklung, wie aktuell das Thema überkommene Frauenbilder und Schwangerschaftsabbrüche nach wie vor ist. Die Frage, ob moralisierende Diskurse einen gesellschaftlichen Rollback auslösen, ist geradezu opportun. Und es drängt sich oft die Frage auf, ob die Vertretung von Partikularinteressen der Forderung nach der Umsetzung der universalistischen Menschenrechte gerecht wird. Gerade im Jubiläumsjahr zur Allgemeinen Erklärung der Menschen­rechte2 sind alle aufgefordert, sich denen in den Weg zu stellen, die das Rad der Zeit zurückdrehen möchten. Denn vergleicht man die 1960er mit den 1990ern, so erkennt man einen gewaltigen Fortschritt, der sich in allen Bereichen des Lebens durchgesetzt hat. Ob in Gesellschaft, Politik, Kultur oder Wissenschaft – überall haben Vernunft und Rationalität an Bedeutung gewonnen. Doch die Erfolge der letzten Jahrzehnte dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass Veränderungen und Wandel immer auch Reaktionen der Abwehr und der Schwärmerei für Vergangenes und den Wunsch nach Kontinuität mit sich bringen. Der wachsende Zuspruch für Faschismus und Nationalstaat, der sich ausbreitende Rassismus, der weit verbreiteten Verschwörungsglaube und die 
Mobilisierung gegen die Geschlechter­vielfalt sind deutliche Zeichen für das Aufbegehren einer Minderheit gegen eine freie, egalitäre und humanistische Gesellschaft. In diesem Sinne, Geschichte wird gemacht!

Anmerkungen

1 Stellvertretend für den Kampf um das Frauenwahlrecht seien Liechtenstein und die Vereinigten Arabischen Emirate genannt. Während Frauen in Liechtenstein seit 1984 wählen dürfen, erlaubten die Emirate den Frauen erst 2006, an Wahlen teilzunehmen.
2 Vgl. dazu die aktuelle Broschüre der Giordano-Bruno-Stiftung: Die Menschen­rechte. Wie sie entstanden sind – und warum wir sie verteidigen müssen. Oberwesel 2018.