Schwerpunktthema | Veröffentlicht in MIZ 2/23 | Geschrieben von Gerhard Rampp

Der Mensch – Ebenbild Gottes oder Säugetier mit Hang zum Größenwahn?

Warum die Volkskirchen in aufgeklärten Gesellschaften keine Zukunft haben

Seit Jahrzehnten nimmt die Zahl der Kirchenmitglieder in Deutschland ab, aber erst seit gut drei Jahrzehnten so richtig rasant. Um die Ursachen angemessen erörtern zu können, ist es sinnvoll, zunächst einmal einen Blick auf die statistischen Fakten zu werfen.

1950, bei der ersten Volkszählung nach dem Zweiten Weltkrieg, waren 96,4 Prozent der Westdeutschen evangelisch oder katholisch, und selbst in der DDR waren es gut 91 Prozent, zusammengenommen lag der Wert also bei rund 95 Prozent. In den folgenden Jahrzehnten schrumpfte dieser Anteil im Westen langsamer, im Osten schneller. Immerhin gehörten in der alten BRD 1990 nur noch fünf von sechs Einwohnern der Kirche an, zusammen mit der nun angeschlossenen DDR fünf von sieben.

Danach ging der Exodus aber erst richtig los. Bis 2013 verloren die beiden Kirchen zusammen ziemlich konstant eine halbe Million Mitglieder pro Jahr. In den frühen 90ern fielen vor allem die zahlreichen Kirchenaustritte im Osten auf, wo zuvor keine Kirchensteuer fällig war. Dann nahmen allmählich die Verluste aufgrund des Generationenwandels zu: Jahrzehntelang waren vor allem junge Leute ausgetreten, die dann auch ihre Kinder nicht mehr taufen ließen; gleichzeitig häuften sich in den überalterten Kirchen die Sterbefälle. In den beiden Jahrzehnten nach 1990 ging die Mitgliederzahl der Großkirchen von 58 auf 48 Millionen zurück, und selbst kirchliche Religionssoziologen rechneten in den beiden folgenden Jahrzehnten (also bis 2030) mit einem Rückgang von einem weiteren Viertel, d.h. von 48 auf 36 Millionen. Dann allerdings sorgten 2014 die goldene Doppelbadewanne des Limburger Bischofs Tebartz-van Elst und der Direktabzug der Kirchensteuer auf Kapitalerträge für einen Austrittsboom, der (zusammen mit anderen Faktoren) bei den Mitgliederverlusten jedes Jahr für neue Rekorde sorgte: Über 657.000 (2017), 704.000 (2018), 829.000 (2019) und 885.000 (2020) ging die Kurve 2021 erstmals über die Millionengrenze (1.058.000), wo sie auch 2022 mit 1.283.000 und nach bisherigem Sachstand auch 2023 bleiben wird. Nachdem die Kirchen zwischen 2010 und 2022 knapp 8,5 Millionen Mitglieder verloren haben, halten es Experten nun sogar für möglich, dass sie zwischen 2010 und 2030 sogar ein Drittel ihrer Mitglieder – also 16 Millionen – einbüßen könnten.
2019 hatte eine Freiburger Forschungsgruppe noch prognostiziert, dass sich die Kirchenmitgliederzahl zwischen 2017 und 2060 halbieren werde. Inzwischen gehen die Kirchen davon aus, dass dies bereits vor 2050 Realität sein wird.

Oberflächliche und tiefere Ursachen des Kirchenschwunds

Warum aber nehmen die Kirchen nun so plötzlich ab, wo doch ihre Missstände auch früher allgemein bekannt waren und die Kritik daran in der Schärfe eher nachgelassen hat? Als Schwundursache wird meist auf die Missbrauchsskandale und die Reformunfähigkeit der katholischen Kirche verwiesen. Beides hat den Abwärtstrend unbestreitbar beschleunigt. Aber die evangelische Kirche leidet ja nicht weniger unter zunehmender Auszehrung, obwohl sie – relativ – noch deutlich bessere Imagewerte als die Catholica hat. Auch das Argument, man könne ja auch ein guter Christ sein, ohne einer Kirche anzugehören, mag vor allem bei Älteren inzwischen eine Rolle spielen. Tatsächlich hat der Anteil von Religiösen ohne formale Kirchenbindung zugenommen. Aber zahlenmäßig fällt dies kaum ins Gewicht, denn andererseits ist die Zahl der Nichtglaubenden, die (bisher) gleichwohl in der Kirche bleiben, gewaltig gestiegen. Die EKD hat dazu 2005 und 2019 zwei gleichlautende interne Umfragen durchgeführt und ausgewertet. Demnach gaben 2005 noch 22 Prozent an, nicht an Gott zu glauben. Nur 14 Jahre später war dieser Anteil jedoch auf 33 Prozent angewachsen. Erklärbar ist dieser Trend nur so, dass inzwischen ein Teil der (überdurchschnittlich frommen) Älteren gestorben ist und die jüngste nachwachsende Generation nicht nur zahlenmäßig kleiner, sondern auch deutlich weniger religiös ist. Die katholische Kirche hat 2021 – ebenfalls rein intern – eine ähnliche repräsentative Untersuchung durchgeführt und kam auf 26 Prozent Gottlose in den eigenen Reihen. Dabei ist in beiden Kirchen noch nicht berücksichtigt, dass eine Minderheit zwar angibt an Gott zu glauben, aber „Gott“ nichtchristlich definiert (z.B. „Gott ist die Natur“, „Gott steckt in der Natur“, „Gott ist die Summe von Energie und Materie im Universum“ usw.). Rechnet man derartige Fälle hinzu, in denen mit dem Begriff „Gott“ eigentlich Etikettenschwindel betrieben wird, hat deutlich mehr als ein Drittel der Kirchenmitglieder ein nicht-monotheistisches Weltbild.

Warum trotzdem so wenige Nichtglaubende austreten, hat mit einem Paradox zu tun: Einerseits nehmen die Kirchen zwar Milliardensummen an Kirchensteuern ein, die übrigens selbst in den Krisenjahren 2021 und 2022 noch gestiegen sind. Andererseits zahlt nur ein Viertel der Mitglieder Kirchensteuern, nämlich ausschließlich jene, die Lohn- oder Einkommensteuern zahlen, was wiederum ein zu versteuerndes regelmäßiges Monatseinkommen von mehr als 1200 Euro voraussetzt. Alle anderen haben (noch) keinen unmittelbaren Anlass zum Austritt, aber unter ihnen gibt ein seit Jahren steigender Anteil an, über einen Kirchenaustritt ernsthaft nachzudenken. Und die Kirchen selbst gaben in der Vergangenheit mehrfach an, dass 70 Prozent derer, die „eigentlich“ oder „irgendwann“ austreten wollen, dies auch tatsächlich tun – wenn auch mit oft jahrelanger Verzögerung.
Daher wird der Kirchenschwund anhalten. Wie aber kommt es, dass wir mit einem regelrechten Zusammenbruch der Volkskirche zu rechnen haben? Dafür verantwortlich ist die völlig veränderte Sichtweise der jüngeren Generation auf Kirche und Religion. Glaubten früher die allermeisten Getauften geradezu blindlings alles, was die Geistlichkeit feierlich predigte, so sehen heute junge Leuten die religiösen Verkündigungen als nicht überprüfbare Meinungen einer Interessengruppe, manchmal sogar als Verschwörungserzählungen. Man fühlt sich hier an Andersens Märchen Des Kaisers neue Kleider erinnert, wo ein Kind plötzlich ruft „Der Kaiser ist doch nackt!“, und prompt fallen auch anderen die Schuppen von den Augen.
Neben diesem massenpsychologischen Phänomen kommt der – binnen 30 Jahren deutlich erweiterten – Kenntnis der Evolutionsgeschichte und der Astronomie eine zentrale Bedeutung zu. Sie zeigen, wie unbedeutend der Mensch sowohl zeitlich als auch räumlich im Vergleich zu Erdgeschichte und Universum ist.
Das Alter der Sonne und der Erde lässt sich heute auf die Million Jahre genau bestimmen. Unsere Sonne ist 4,566 Milliarden Jahre alt, die Erde nur 37 Millionen Jahre jünger. Die Hominiden oder Primaten existieren nach heutigem Kenntnisstand seit 9 Millionen Jahren, sind also erst in den letzten zwei Promille der Erdgeschichte entstanden. Der sich daraus entwickelnde Homo Sapiens Sapiens, nach biblischer Lehre das Ebenbild Gottes, ist erst zu Beginn des letzten Prozents der Hominiden entstanden, also vor 80.000 bis 100.000 Jahren. Ein Ebenbild Gottes, das erst im letzten Fünfzigtausendstel der Erdgeschichte auftaucht und überdies so temperaturempfindlich ist, dass es bei der geringsten Erwärmung oder Abkühlung als eine der ersten Spezies verschwinden wird?
Auch räumlich spielen wir eine unfassbar winzige Rolle im Universum. Unsere Sonne ist nur eine von zwei bis drei Milliarden Sonnen unserer Milchstraße. Aber wie viele Milch­straßen gibt es im Universum? Die Ant-
wort der Astronomen: Deren Zahl ist so gigantisch, dass sie nicht einmal schätzbar ist. Unsere Sonne samt Um­laufbahnen der Planeten ist also in Relation zum Universum kleiner als ein einziges Sandkorn im Vergleich zur Wüste Sahara, selbst wenn diese den gesamten Kontinent Afrika bedecken würde. Und davon wiederum ist die Erde ein winziger Teil mit Menschen und Tieren als Mikroben auf der Oberfläche.
Unter solchen Umständen bleibt einer naturwissenschaftlich und evolutionsgeschichtlich informierten Ge­neration rational nur eine Folgerung übrig: Selbst wenn man die Hypothese eines höchsten Wesens ernst nähme, das das Universum geschaffen hätte, so würde die Vorstellung, dass ein solcher „Gott“ sich um das Wohlergehen der objektiv unwichtigen Spezies Homo Sapiens Sapiens kümmert, schnell als Wunschdenken entlarvt. Die Grundfrage lautet also nicht mehr „Existiert Gott?“, sondern „Würde Gott, selbst wenn er existierte, den Menschen so wichtig nehmen, dass ihn sein Wohlergehen irgendwie berührte?“
Diese letzte Frage wird von einem großen Teil der jungen Generation entweder verneint oder als wirklichkeitsfremde Spekulation betrachtet. Solange dies so bleibt, haben die Kirchen keine Zukunft.