In vielen Büchern der letzten 25 Jahre (es gibt etwa 10.000 wissenschaftliche Werke über die DDR) wird auf die schöpferische Aneignung der anderen, der kapitalistischen Lebensweise durch Anpassung der ostdeutschen Bevölkerung verwiesen, aber auch darauf, dass erlernte Wertvorstellungen irgendwie nachwirken. Folgenreich ist, dass unmittelbar nach dem „Anschluss“ vier Millionen Menschen ihre Arbeit verloren, das war etwa die Hälfte der werktätigen Bevölkerung, und 2,5 Millionen sind seitdem in die alten Länder „ausgewandert“. In vielen aktuellen Klagen spiegelt sich, oft auf sehr eigentümliche, mitunter höchst verquere Weise dieses „verlorene Anderssein“, dass logischerweise besonders bei denen sich ausdrückt, die in „abgehängten Regionen“ leben, nicht „herausgekommen“ sind, was als „untergegangene Heimat“ gilt, in die es jetzt höchstens mal paar „Ausländer“ hinspült, mit den bekannten beiderseitigen Reaktionen.
Was war denn nun anders? Zu diesem Thema hielt ich im Dezember 1991 an der Evangelischen Akademie Loccum einen damals viel beachteten kulturwissenschaftlichen Vortrag, aus dem im Folgenden einige Auszüge dokumentiert werden:
Es können … einige Andeutungen gemacht werden, die es erst noch kulturhistorisch zu betrachten gilt. Das „Andere“ sind selbstverständlich zugleich Felder, die soeben im Zuge der Einheit „begradigt“ werden, jedenfalls den verkündeten Absichten nach.
- Geld spielte im Alltag eine unwichtigere Rolle als heute. Das hing damit zusammen, dass bestimmte Waren und Dienstleistungen nicht (zumindest nicht für dieses Geld) käuflich waren und anders (durch persönliche Gegenleistungen) „verrechnet“ wurden. Soziale Dienste und höhere Arbeitsleistungen konnten mit Geld nicht erzwungen werden.
Soziale Ränge drückten sich auch weniger in zur Verfügung stehenden Geldmengen aus, als vielmehr in Zugriffsmöglichkeiten auf bestimmte Waren. [Dies gilt, obwohl die Spareinlagen im Jahr 1989 fast 160 Mrd. Mark betrugen, die Zinsgutschriften (von in der Regel Dreieinviertel Prozent) einen erheblichen Teil des alljährlichen Einkommenszuwachses ausmachten und allein 18,5 Prozent der Konteninhaber (bei 21 Millionen Konten) etwa 120 Mrd. Mark verbuchten.]
Das spiegelte sich in moralischen Wertungen. Geld galt nicht als Ausdruck von Leistung. Die Bruttolöhne und -gehälter differierten dementsprechend wenig. Sie lagen (Zahlen von 1988) zwischen Arbeitern (1110.-M/Monat) und Hoch- und Fachschulkadern (1477.-M/Monat). Arbeiterlöhne wurden sogar 10 Prozent geringer besteuert, was weiter in Richtung Angleichung wirkte.
Die Ausgaben pro Haushalt betrugen für Miete 4,1 Prozent und für Gas und Strom 1,2 Prozent, dagegen die Ausgaben für Nahrungs- und Genußmittel zwischen einem Drittel und einem Viertel, je nach Einkommenshöhe („ständige Reproduktion von Knappheit auf allen Gebieten“). - Das Sozialversicherungssystem war vereinheitlicht und zu 85 Prozent von der Gewerkschaft verwaltet (die
restlichen 15 Prozent stellten die Genossenschafter und Privaten, die anders, aber ebenfalls staatlich zwangsversichert waren). Zusammen mit der betrieblichen Anbindung auch anderer sozialer und kultureller Leistungen ergab sich daraus ein für Arbeiter und Angestellte „wegearmes Angebot“. Nahezu alle anfallenden Fürsorgeleistungen (bei Berufstätigen!) wurden durch den zuständigen Betrieb geregelt. Der Krankenschein war die Krankschreibung und nicht ein Papier für die Ersatzkasse. Die Masse der Bürokratie saß im ideologischen Bereich. [Das durch „Entstaatlichung“ der (eigentlich gewerkschaftlichen) einheitlichen Sozialversicherung und
das durch die Abschaffung der Organisationsapparate freigesetzte Personal kam relativ problemlos im vielgliedrigen Versicherungswesen unter. Die Bevölkerung in den neuen Bundesländern erlebt so die Umstellung auf freie Trägerschaften als Zunahme von Bürokratie und als Komplizierung sozialer Dienste.]
Die Absicherung gegen Wechselfälle des Lebens wurde durch Arbeitsplatzgarantie, ergänzende Privatver sicherungen, Kindergarten- und Kinderkrippenplatzversorgung (94 bzw. 80 Prozent), bezahlte Freistellungen von der Arbeit (bei gesellschaftlich, künstlerisch, sportlich, gesundheitlich anerkannten Zeitaufwendungen und bei Erkrankungen des Kindes [bei einem Kind 4, bei 4 Kindern maximal 10 Wochen; 1988: 17,3 Millionen Arbeitstage]) u. a. Maßnahmen ergänzt.
Die Versorgung von der Wiege bis zur Bahre erzeugte eine Haltung, die dem jetzt eingeführten Subsidiaritätsprinzip genau entgegengesetzt war. Alle Leistungen wurden vom Staat abgefordert. Der Preis dafür war vielleicht das durchschaubare Individuum, denn das einheitliche Arbeits- und Sozialversicherungsbuch enthielt alle wichtigen Daten: Nachweise über Zertifikate, Arbeitsstellen, Tätigkeiten, Krankheiten, Kuren, Zahnbehandlungen, Impfungen, Röntgenergebnisse, Fehltage und Sozialversicherungszahlungen. - Gegenüber der BRD mußten Beschäftigte in Industrie, Handwerk und Verwaltung in der DDR täglich 45 Minuten länger arbeiten. Sie hatten vier Feiertage und 10 Urlaubstage weniger. Frauen gingen zwei und Männer drei Jahre später in Rente. Dafür hatten Frauen mit einem eigenen Haushalt monatlich einen Haushaltstag. [90 Prozent der Frauen waren berufstätig und betrachteten dies als eine Grundlage ihrer Selbstbestimmung. Von den berufstätigen Frauen haben etwa 70 Prozent Kinder im Alter bis zu 17 Jahren.]
- Über die Hälfte aller Arbeiter- und Angestelltenhaushalte in der DDR besaß einen „Kleingarten“ (nicht mitgerechnet die „richtigen“ Datschen). Dem Kleingartenverband und seinen Nachfolgeorganisationen gehörten fast anderthalb Millionen Mitglieder an, die auf Lauben und Parzellen zwischen 200 und 400 Quadratmetern Anbaufläche wirtschafteten und sich erholten. Schätzungen sprechen von etwa 1 Million solcher Gärten, etwa 11 000 Anlagen und 350 Siedlungen.
Diese „Schrebergärten“ hatten weitgehend ihren proletarischen Anstrich der zwanziger Jahre verloren, bildeten oft einen Sommerwohnsitz und waren sozial sehr durchmischt (Hilfsarbeiter, Professor, „Postler“, Offizier, Facharbeiter usw.). Ein „kollektives Leben“ fand nur noch selten statt. Oft war der technische Standard in den „Lauben“ (nach DDR-Ansprüchen) hoch.
Teilweise streng gehandhabte Restriktionen, den „Pflichtanbau“ betreffend, fielen (von Ort zu Ort verschieden) in den letzten Jahren weg. „Ackerbau und Viehzucht“ wurden freiwillig betrieben. Überhaupt bestand die Freizeit in der DDR überwiegend aus allerlei Feierabendarbeit. - Fast 65 Prozent der Rechtsfälle („Bagatellen“ wie Ladendiebstähle, Arbeitsstreitigkeiten, Schulpflichtverletzungen, Beleidigungen usw.) wurden 1988 von den 255000 betrieblichen Konfliktkommissionen (etwa 70000 Rechtsfälle) und den 56000 örtlichen Schiedskommissionen (12000 Rechtsfälle) erledigt. Sie und die Justitiare der Arbeitsstellen erteilten kostenlose Rechtsauskunft. So gab es in der DDR zum Zeitpunkt der „Wende“ nur etwa 600 Rechtsanwälte, die meist von Scheidungssachen oder notariellen Beglaubigungen lebten.
- Die Kirchen zählten knapp über 5 Millionen Gläubige in über 7000 Gemeinden, bei zweieinhalb Millionen Kirchensteuerzahlern. Die DDR war glaubensmäßig ein Land mit einer atheistischen Mehrheit, protestantischer Gewichtung (30 Prozent der Einwohner; 1950 noch 80 Prozent) und katholischer Minderheit (6 Prozent). Im Jahr 1988 wurden nur noch 10 Prozent der Neugeborenen getauft.
- In der DDR fanden jährlich 50000 Ehescheidungen bei 250000 Verheiratungen statt. Davon waren zwischen 1977 und 1986 etwa eine halbe Million Kinder betroffen. Hohe Erwartungen an das Familienleben und gewachsenes Selbstbewußtsein von Frauen auf der Basis bescheidener, aber real lebbarer ökonomischer Selbständigkeit, brachten auch 400000 Mutter-Kind-Familien hervor. Das Scheidungsrecht ging von künftiger rechtlicher und wirtschaftlicher Eigenverantwortung der ehemaligen Eheleute und nicht vom Versorgungsprinzip aus.
[Viele aus der Gruppe der Alleinerziehenden steht heute weitgehend im sozialen Aus. Sie konstituieren mit den „ausgesteuerten“ Arbeitslosen, den alleinlebenden Kleinrentnern und den mit niedrigem vorherigem Verdienst in den Vorruhestand geschickten Pensionären die heutigen Verlierer der Einheit und die morgige „neue Armut“.]
Der Text erschien erstmals unter dem Titel Eine andere deutsche Alltagskultur in: Getrennte Vergangenheit – Gemeinsame Geschichte. Zur historischen Orientierung im Einigungsprozeß. Evangelische Akademie Loccum. Tagung vom 13. bis 15. Dezember 1991. Rehburg-Loccum 1992, S. 147-159 (Loccumer Protokolle 65/91). Um die Lesbarkeit zu verbessern, sind die meisten Fußnoten weggelassen oder in eckigen Klammern in den Text eingefügt worden.