Schwerpunktthema | Veröffentlicht in MIZ 4/11 | Geschrieben von Kornelia Sammet

Die Gretchenfrage

Sechs ganz unterschiedliche Überlegungen zum Verhältnis von Frauen und Religion

Warum lassen sich Frauen die Unterdrückung und Erniedrigung durch Religionen gefallen? Sind Frauen religiöser als Männer? Warum begeistern sich so viele Frauen für die Gemeindearbeit in Kirchen, Moscheen und Synagogen, während Frauen bei der aktiven atheistischen Arbeit deutlich in der Minderheit sind?

MIZ: Sind Frauen religiöser als Männer? Wenn ja: warum?

Kornelia Sammet: Tatsächlich gibt es viele Hinweise darauf, dass Frauen religiöser als Männer sind. In Befragungen, die viele verschiedene Länder vergleichend einbeziehen, haben Frauen fast durchgängig jeweils höhere Werte als Männer in den Dimensionen Kirchenzugehörigkeit, Kirchgang, aber auch subjektive Religiosität. Es gibt verschiedene Theorien zur Erklärung dieser Befunde. So wird auf die größere Nähe von Frauen zu Leben und Tod als Gebärende und Pflegende hingewiesen. Oder es wird sozialisationstheoretisch argumentiert und behauptet, dass Mädchen auf eine größere Bindung an Religion hin sozialisiert würden. Meiner Ansicht nach spielen kulturelle Normen eine wichtige Rolle, d.h. Religiosität fügt sich in kulturelle Bilder von Weiblichkeit ein. Die kulturelle Normierung zeigt sich auch daran, dass zwar Frauen in fast allen Ländern religiöser als Männer sind, jedoch auf ganz unterschiedlichem Niveau. Beispielsweise sind westdeutsche Männer weniger religiös als westdeutsche Frauen, jedoch zu einem sehr viel höheren Anteil religiös als ostdeutsche Frauen.

MIZ: Manifestiert sich in der Religion jeweils nur ein bestimmtes kulturhistorisch
vorherrschendes Geschlechterbild oder dient sie aktiv der Verfestigung dieses Geschlechterbilds durch Schaffung einer metaphysischen Begründungsebene?

Kornelia Sammet: Religionen formulieren metaphysisch begründete Geschlechterordnungen und verleihen ihnen damit den Status der Unverfügbarkeit. Gleichzeitig sind diese Geschlechterordnungen aber irdischen Ursprungs, weil sie auf sozialen und ökonomischen Erfordernissen beruhen. In einfachen Ökonomien ist z.B. die Großfamilie bzw. der Haushalt die soziale Grundeinheit, die zugleich wesentlich durch Ungleichheiten strukturiert ist: durch die Ungleichheit der Geschlechter, aber beispielsweise auch der Generationen. Für diese sozialen Einheiten ist die Frage der Generativität zentral, d.h. die Regulierung der Reproduktion. Hier kommen die Religionen ins Spiel, und das ist durchaus auch im Interesse der Frauen, da die Männer durch die Etablierung einer Geschlechterordnung zivilisiert und sozial eingebunden werden. Aktuell wird das am Zulauf zu den Pfingstkirchen in Lateinamerika deutlich. Diese Kirchen sind für Frauen attraktiv, weil sie im Kontrast
zum vorherrschenden Machismo Männer auf ihre Verantwortung für die Familie verpflichten. Die religiös begründeten Geschlechterordnungen sind jedoch historisch veränderbar: Sie müssen eine gewisse Flexibilität aufweisen, damit sie sich an verändernde gesellschaftliche Verhältnisse anpassen können. Das heißt, sie müssen modernisiert und immer neu interpretiert werden können.

MIZ: Kirchengemeinden strotzen vor aktiven Frauen und auch in Esoterikläden ist das Publikum meistens weiblich. Aktive Atheistinnen gibt es dagegen nur wenige. Überhaupt ist der Anteil von Frauen inAtheistenverbänden sehr gering. Wie erklären Sie sich diesen Sachverhalt?

Kornelia Sammet: Als Religionssoziologin kritisiere ich nicht die Menschen für
ihre religiösen Haltungen und Praktiken, sondern frage vielmehr danach, was religiöse oder nicht-religiöse Weltdeutungen für Individuen, Gemeinschaften oder Gesellschaften leisten. Ich habe also einen funktionalen und neutralen Blick auf Religion ebenso wie auf Atheismus.

Die britische Religionssoziologin Linda Woodhead hat gefordert, dass die Säkularisierungstheorie „gegendert“ werden müsse. Das bedeutet, sie muss auf ihre Implikationen für Männer und Frauen hin analysiert werden. Dabei zeigt sich, dass gesellschaftliche Modernisierung für Männer und Frauen unterschiedliche Bedeutung hat. Die Industrialisierung im 19. Jahrhundert brachte eine Trennung von Produktions- und Reproduktionsarbeit und damit zwischen der den Männern zugänglichen öffentlichen Sphäre und der den Frauen zugeschriebenen häuslichen Sphäre mit sich, wobei die Religion immer mehr im privaten Raum verortet wurde. Dem entsprechend wurden die Geschlechtscharaktere konstruiert: Männlichkeit wurde mit Rationalität und Aktivität, Weiblichkeit mit Gefühl und Hingabe assoziiert. Die Sphärentrennung bedeutet nun für Männer, dass sie sich im Zuge der Modernisierung von der Religion abwandten. Für Frauen dagegen wurden im Bereich der Religion durch die Abwanderung der Männer Räume frei, und so haben ihnen religiöse Institutionen Wege in die Öffentlichkeit und zum außerhäuslichen Engagement eröffnet.

Die Erwartung, dass mit einer zunehmenden Integration von Frauen ins Erwerbsleben die Differenz in der Religiosität von Männern und Frauen abnehmen würde, ist nicht eingetreten, allerdings sinkt das allgemeine Niveau von Religiosität und Kirchenbindung in modernisierten Gesellschaften.

MIZ: Frauen in aller Welt tragen religiöse Strukturen sehr stark mit (durch religiöse Kindererziehung etc.), obwohl sie selbst an der Macht innerhalb dieser Strukturen nicht teilhaben, von den meisten Religionen sogar als minderwertig betrachtet und unterdrückt werden. Warum?

Kornelia Sammet: Religion eröffnete Frauen die Möglichkeit zu sozialer Anerkennung, indem sie sich z.B. karitativ engagieren. Ich möchte aber noch auf einen anderen Punkt hinweisen. Es ist zwar so, dass religiös begründete Geschlechterordnungen zumeist Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern betonen. So wird in der Bibel nach dem „Sündenfall“ eine hierarchische Geschlechterordnung etabliert. An Eva gerichtet spricht Gott „Aber er soll Dein Herr sein“. Religiöse Texte sind jedoch vielschichtig, sie müssen ausgelegt werden und sind daher stetig Neu-Interpretationen unterworfen. Und es gibt auch religiöse Texte, die auf Gleichheit abheben. Der Schöpfungsbericht der Bibel besteht z.B. aus zwei zu verschiedenen Zeiten entstandenen Elementen: Einerseits wird Eva aus Adams Rippe geschaffen, wodurch ihre Nachrangigkeit dokumentiert wird. Andererseits heißt es: „Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde (…) und schuf sie als Mann und Weib“, was die Gottesebenbildlichkeit beider Geschlechter betont. Die die Gleichheit betonenden Texte können zur Veränderung von Geschlechterordnungen beitragen. Sie waren schließlich die Basis für die Öffnung des evangelischen Pfarramtes für Frauen. Mittlerweile haben Frauen in den evangelischen Kirchen durchaus Macht. Man denke nur an ihre Wahl in kirchenleitende Ämter: Mehrere Landeskirchen in Deutschland werden aktuell von Bischöfinnen geführt.

Noch ein Wort zu den Ambivalenzen und Ungleichzeitigkeiten des Modernisierungsprozesses. Einerseits bot und bietet Religion für Frauen Räume und Anknüpfungspunkte zur Emanzipation, andererseits werden durch die Säkularisierung nicht zwangsläufig Geschlechterungleichheiten überwunden.

Literatur zum Thema von Kornelia Sammet: Kornelia Sammet: Frauen im Pfarramt. Berufliche Praxis und Geschlechterkonstruktion (Diss.). Würzburg 2005