Schon auf der Feedback-Konferenz Anfang Oktober überwog die Einschätzung, dass die Antworten zu lahm, die Kritik an den Zuständen zu zurückhaltend und zu wenig grundsätzlich formuliert gewesen seien. Eine klare Positionierung gegen die Dominanz der Kirchen im öffentlichen Leben, die als Zwangschristianisierung empfunden wurde – das wäre die Erwartung gewesen. Oder ein Eintreten für ein neues Verständnis von Religionsfreiheit: Nur die Religionsgemeinschaften, die sich selbst gemäß der Werte des Grundgesetzes verhalten, können auch dessen Schutz beanspruchen. Die Ablehnung von Gleichberechtigung (von Mann und Frau, von Kirchenmitgliedern und Konfessionslosen, von Homo- und Heterosexuellen...), von Meinungs-, Kunst- und Wissenschaftsfreiheit, von Selbstbestimmung beispielsweise am Ende des Lebens = kein Anspruch auf das viel zitierte „Selbstbestimmungsrecht“ der Kirchen. Auch in den Wochen danach waren noch unzufriedene Stimmen zu vernehmen, der Leserbrief in diesem Heft ist ein Ausdruck davon; eine weitere, deutlich längere Stellungnahme wurde bis Redaktionsschluss leider nicht fertig.
Woher kommt diese Unzufriedenheit, die sich nach meinem Eindruck auch als Kluft zwischen „einfachen“ Mitgliedern auf der einen und Funktionsträgern (im weitesten Sinne, sowohl ehrenamtlich aktive als auch angestellte) auf der anderen Seite darstellt? Fehlt den einen die realistische Einschätzung, was politisch möglich ist? Oder sind die anderen in der „Realpolitik“ stumpf und zahm geworden? Verhindert die Maximalforderung, überhaupt Gehör zu finden? Oder führt die Strategie, mit einem Kompromissvorschlag in Verhandlungen zu gehen, dazu, am Ende zwar mit am Tisch zu sitzen, jedoch ohne jede Aussicht irgendetwas durchsetzen zu können?
Ohne tiefer in diese Diskussion einzusteigen, kann zumindest festgestellt werden, dass in den letzten Jahren aus säkularer Perspektive wenig erreicht wurde, wenn die Veränderung von Gesellschaft als Gradmesser herangezogen wird. Zwar steigt die Zahl der Konfessionslosen scheinbar unaufhaltsam, die Zustimmung zu humanistische Positionen oder säkularistischen Forderungen ist in der Bevölkerung hoch und Repräsentanten der organisierten Säkularen werden ab und an bei Hofe empfangen – zu einer veränderten Politik hat das bislang jedoch nicht geführt. Die Annahme, dass die Parteien „die Konfessionslosen“ irgendwann als Wählergruppe entdecken und deren Interessen dann automatisch berücksichtigen werden, hat sich bisher nicht bestätigt.
Stattdessen hat es den Anschein, als seien Einfluss und Macht bei den Kirchen nicht aneinander gekoppelt: während ihr Einfluss rapide sinkt, immer weniger Menschen ihr Leben an kirchlichen Vorstellungen orientieren, bleibt ihre Machtbasis stabil. Drei Artikel in dieser Ausgabe geben Beispiele dafür. Obwohl selbst unter Kirchenmitgliedern das kirchliche Arbeitsrecht nur noch von einer Minderheit gutgeheißen wird und der Europäische Gerichtshof einschlägigen Klagen stattgegeben hat, hält das Bundesverfassungsgericht daran fest, dass kirchliche Träger Konfessionslose diskriminieren dürfen, wie Corinna Gekeler berichtet. Obwohl die Zahl der nicht gläubigen Bürgerinnen und Bürger steigt, unternehmen die Kirchen – wie Gerhard Lein zeigt – in Schleswig-Holstein einen neuen Anlauf, „Gott“ in die Verfassung zu bringen – und scheuen dabei nicht einmal vor einer Zusammenarbeit mit Erdoğans DITIB zurück. Obwohl eine große Mehrheit in Deutschland sich für die reproduktive Selbstbestimmung der Frau ausspricht, schafft gerade wieder ein Krankenhaus die Möglichkeit des Schwangerschaftsabbruches ab, ohne auf den Widerstand staatlicher Behörden zu treffen, wie Helmut Lechner erläutert.
Und so könnte es auch als Rückschlag angesehen werden, wenn die MIZ-Redaktion für das Interview mit einer staatlichen Stelle, das eigentlich als Titelthema vorgesehen war, eine Absage bekommt (während der Bundesbeauftragte für religiös ausgerichtete Medien anscheinend viel Zeit hat). Andererseits zwingen uns solche Situationen nach (vielleicht sogar subversiven) Alternativen zu suchen. Und das könnte ja möglicherweise auch ein Ansatz sein, die Debatte um zukunftsfähige politische Strategien in die nächste Runde zu bringen.
