Allgemeines | Veröffentlicht in MIZ 2/21 | Geschrieben von Frank Welker

Das Dach eines Neutralitätsgesetzes

Im Herbst gehen 16 Jahre Regie­rungs­zeit von Angela Merkel zu Ende. 16 Jahre, in denen sich dieses Land in vielerlei Hinsicht verändert hat. Als Merkel damals die Macht von Gerhard Schröder übernahm, war das Parteiensystem geprägt durch zwei Volksparteien, die den Kanzler oder die Kanzlerin stellten. Dieses Parteiensystem existiert nicht mehr. Weder die Union und erst recht nicht die SPD haben heute noch den Charakter einer Volkspartei. Stattdessen haben wir es mit einer scheinbar ausdifferenzierten Parteienlandschaft zu tun. Allerdings nur bei oberflächlicher Betrachtung, denn bei einigen Themen finden sich erstaunliche Übereinstimmungen. Ganz besonders ist dies beim Thema Staat und Religion zu sehen. Keine einzige der etablierten Parteien will derzeit ernsthaft an der derzeitigen Privilegierungspraxis von Religionsgemeinschaften rütteln.

Stattdessen will die Mehrzahl der Parteien diese Privilegien noch auf die islamischen Religions­gemeinschaften ausweiten. So wird es wohl künftig nicht nur flächendeckend islamischen Religionsunterricht geben, sondern auch muslimische Kinder-
gärten und eine muslimische Wohl­fahrtspflege. Also das volle Programm, wie es die Jesusanhänger derzeit auch 
anbieten. Dabei hat sich die Welt der 
Religionsgemeinschaften in den letzten 16 Jahren ebenfalls deutlich verändert. Zwar stieg der Anteil der Mus-
lime zuletzt auf rund 7 Prozent. Den­noch ist unübersehbar, dass sich die 
deutsche Gesellschaft in rasanter Ge-
schwindigkeit säkularisiert. Als Merkel 
2005 Bundeskanzlerin wurde, waren 
noch 62% der Bürger Kirchen­mit­glie­der. Heute sind dies nur noch die Hälfte, Tendenz rapide fallend.

Vor dem Hintergrund dieser Ent­wicklung stellt sich nun die zentrale Frage, ob die Privilegierung von Religionsgemeinschaften, insbesondere der Körperschaftsstatus noch zeitgemäß ist. Denn diese Strukturen stammen im Kern noch aus dem 19. Jahrhundert. Also aus einer Zeit, in der nahezu alle Menschen einer der beiden großen Glaubensgemeinschaften angehörten. Heute haben wir es dagegen mit einem Markt der Religionen zu tun, den immer mehr Menschen gar nicht erst besuchen möchten. Eine Neujustierung des Systems wäre eigentlich überfällig! Ganz besonders sollte die Dis­kriminierung von religionsfreien Menschen endgültig beendet werden. Auch Ereignisse wie 2013 in Köln, als eine junge Frau nach einer Vergewaltigung untersucht werden sollte, aber an gleich zwei katholischen Krankenhäusern abgewiesen wurde, müssen jedenfalls für immer der Vergangenheit angehören. Das Gegenteil ist jedoch zu befürchten, insbesondere dann, wenn die konservative muslimische Verbände künftig auch Krankenhäuser betreiben sollten.

An dieser Stelle sind übrigens auch Verbände wie der Humanistische Verband Deutschland (HVD) dazu aufgerufen, die derzeitige Praxis, die Privilegien der Kirchen auf andere Religionsgemeinschaften und ebenso auf willige säkulare Verbände zu übertragen, zu hinterfragen. Ich jedenfalls möchte weder als Sozialwissenschaftler noch als Vater, dass Kinder auf muslimische, katholische, jüdische oder eben auch humanistische Kindergärten aufgeteilt werden. Alle sollten das Zu­sammenleben gemeinsam lernen. Genau dieses Prinzip müsste sich in unserer Rechtsordnung widerspiegeln. Der Staat sollte sich gegenüber Religions- und Weltan­schau­ungs­ge­mein­schaften 
neutral verhalten. Niemand sollte benachteiligt werden, aber auch niemand bevorzugt. Zu dieser Neutralität gehört dann natürlich auch, dass der Staat nach außen hin bereits diese Neutralität ausstrahlt. In einen Gerichtssaal ge-
hört kein Kreuz, kein Halbmond und auch nicht Thors Hammer. Ein Krankenhaus braucht keine Gebets­räume, sondern fähige Mediziner gleich welchen Glaubens oder Un­glaubens. Und erst recht brauchen wir 
keine religiös bedingte Apartheid durch 
den konfessionsgebundenen Re­ligions­unterricht. Die Devise sollte immer „One Law for All“ lauten.

Aus den genannten Gründen plant der Internationale Bund der Kon­fes­sionslosen und Atheisten (IBKA) für die nächste Legislaturperiode eine Initiative für ein bundesweites umfassendes Neutralitätsgesetz, welches in allen Bereichen, in denen hoheitliche Aufgaben durchgeführt werden, ein neutrales Handeln des Staates sicherstellen soll. Denn in einer solchen gesetzlichen Regelung sieht der Verband aktuell die beste Möglichkeit, die Religionsfreiheit, und hier insbesondere die negative, zuverlässig zu gewährleisten. Ein derartiges Neutra­litätsgesetz wäre somit tatsächlich eine wichtige Grundlage für eine moderne Religionspolitik.

Wie weit wir jedoch noch von diesem Ziel entfernt sind, zeigen exemplarisch die Antworten der CDU/CSU auf eine entsprechende Anfrage des IBKA. Beiden Parteien lehnen ein solches Vorhaben strikt ab und setzen stattdessen auf eine umfassende Kooperation zwischen Staat und Glaubensgemeinschaften. Allerdings wird betont, dass ebenso Gruppen aus dem humanistischen Spektrum den Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts erhalten können und diese ja z.B. im Falle des HVD und des bfg Bayern bereits erhalten haben. Läuft es also doch am Ende auf eine humanistische Kirchenalternative hinaus? Sollen wir von der Wiege bis zur Bahre in einer humanistischen Parallelwelt verbleiben, so wie es gläubige Christen und Muslime bereits tun? Nein, das ist sicher der falsche Weg. Eine moderne Gesellschaft braucht ein gemeinsames Dach. Das Dach eines Neutralitätsgesetzes!