Allgemeines | Veröffentlicht in MIZ 3/23 | Geschrieben von Gunnar Schedel

Für alle

Im Dezember vor 75 Jahren wurde die Allgemeine Erklärung der Men­schenrechte verabschiedet. 48 Staaten stimmten zu, acht enthielten sich (darunter die Sowjetunion, Südafrika und Saudi-Arabien), Gegenstimmen gab es damals keine. Das ist bis heute so geblieben. Kein Staat – mit Ausnahme des Vatikans – hat es bislang abgelehnt, die Menschenrechtserklärung anzuerkennen. Dies mag auch dadurch begünstigt sein, dass Verstöße gegen die darin aufgelisteten Menschenrechte keine Folgen nach sich ziehen. Denn die Menschenrechtsdeklaration ist völkerrechtlich nicht bindend, eher eine unverbindliche Absichtserklärung.

Begnügten sich die Staaten anfangs damit, sich einfach nicht an diesen oder jenen Artikel zu halten, entwickelte sich bald grundlegendere Kritik: Das Konzept der Menschenrechte sei „euro­päisch“ bzw. „westlich“ geprägt, berücksichtige die Vorstellungen anderer Traditionen, Kulturen, Religionen nicht. So beschlossen beispielsweise 1990 die Mitgliedsstaaten der Organisation der Islamischen Konferenz die Kairoer Erklärung der Menschenrechte im Islam, die alle Menschenrechte unter einen Scharia-Vorbehalt stellt.
Derartige Absetzbewegungen von der Idee der Universalität der Menschen­rechte werden bis heute akademisch flankiert von Ausführungen „postkolonialer“ Studien, die Aufklärung und die Idee der Menschenrechte als „koloniale Rechtfertigungsnarrative“ ansehen.1 Applaus erhalten diese Konzeptionen von nur auf den ersten Blick unerwar­teter Seite: „Wenn der Begriff der Men­schenrechte ein rein westlicher ist, kann kein Zweifel bestehen, daß seine globale Verallgemeinerung eine Einmischung von außen darstellt, eine andere Art der Bekehrung und Beherr­schung, eine Fortsetzung des kolonialen Syndroms“2 – schreibt Alain de Benoist, Aushängeschild der „Neuen Rechten“, dessen „Antikolonialismus“ sich „Ethno­pluralismus“ nennt. Wer nach Schnitt­mengen zwischen einem verkappten Rassismus und einem aka­de­mischen Antirassismus sucht, könnte bei der Begeisterung für kollektive Identitäten und der Distanz zu Men­schenrechts­vorstellungen, die sich stark auf das Individuum fokussieren, fündig werden.
Lassen wir uns an dieser Stelle auf ein Gedankenexperiment ein: Nehmen wir an, es wäre möglich, eine weltweite Umfrage durchzuführen und alle acht Milliarden Menschen zu befragen, ob sie gerne eines oder mehrere dieser Rechte für sich persönlich in Anspruch nehmen würden:

o das Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit der Person
o nicht in Sklaverei oder Knechtschaft leben zu müssen
o nicht willkürlich verhaftet zu werden
o nicht gefoltert zu werden
o das Recht auf ein faires, öffentliches Gerichtsverfahren
o das Recht, sich (auch grenzüberschreitend) frei zu bewegen
o das Recht auf Asyl vor Verfolgung
o nicht, aus keinem Grund, diskriminiert zu werden
o den Schutz seiner (oder ihrer) Privatsphäre
o das Recht zu heiraten bzw. eine Familie zu gründen (und die Ent­scheidung selbst zu treffen)
o das Recht auf soziale Sicherheit, auch bei Krankheit, einer Behin­derung oder im Alter
o das Recht auf gleichen Lohn für gleiche Arbeit, der zudem eine menschenwürdige Existenz gewährleisten muss
o das Recht auf Freizeit
o das Recht auf Bildung
o das Recht, sich am kulturellen Leben zu beteiligen
o das Recht auf Gedanken-, Gewis­sens- und Religionsfreiheit
o das Recht auf Meinungs- und In­formationsfreiheit
o das Recht auf Versammlungs- und Ver­einigungsfreiheit

Wie viele Menschen würden wohl auf eines dieser Rechte verzichten? Wie viele auf fünf, auf zehn davon? Wie viele auf alle? Ich weiß natürlich nicht, was herauskommen würde, und wie stark sich die Ergebnisse regional unterscheiden würden, aber angesichts des Frau.Leben.Freiheit-Aufstandes im Iran habe ich einen Verdacht...

Würde das Ergebnis der Umfrage anders ausfallen, wenn gefragt würde, ob diese Rechte nicht nur für mich, sondern für alle gelten sollten? Und falls dem so wäre, worin könnten die Ursachen dafür liegen?

Die Allgemeine Erklärung der Men­schenrechte ist eines der großen Do­kumente der Menschheit. Gerade weil sie nach dem Grauen des europäischen Faschismus die Gleichheit der Menschen postuliert und nach dem Sieg über eine bis dahin unvorstellbare Form der Barbarei zivilisatorische Mindeststandards für alle Menschen formuliert. Dass sich die Mehrheit der Staaten heute nicht daran hält und viele Menschen nur davon träumen können, dass ihr Leben von den genannten Rechten geprägt sei, dass mit Verweise auf „die Menschenrechten“ Abhängigkeitsverhältnisse und sogar Invasionen gerechtfertigt werden – all das ändert nichts daran: Gerade der Anspruch auf universelle Gültigkeit, kann Menschen bestärken, dass sie mit ihrem Gefühl, dass sie gerade unterdrückt, ausgebeutet, benachteiligt werden, Recht haben.

Mit dem Schwerpunkt in dieser Ausgabe will die MIZ daran erinnern, dass die Menschenrechte den Herrschenden auch 1948 abgetrotzt werden mussten; in Interviews wird der „Stand“ einiger Rechte beleuchtet und es werden Gefahren – längst nicht alle – benannt, die der Idee der Menschenrechte heute drohen.

Anmerkungen

1 Vgl. den ansatzweise differenzierten Artikel von María do Mar Castro Varela / Nikita Dhawan: Die Universalität der Menschenrechte überdenken. In: Aus Politik und Zeitgeschichte 20/2020: Menschenrechte, S. 33-38; https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/309087/die-universalitaet-der-menschenrechte-ueberdenken/ (Zugriff 14.10.2023)
2 Alain de Benoist: Kritik der Menschenrechte, 2004, zit. nach: https://www.endstation-rechts.de/news/alain-de-benoist-menschenrechtler-wider-willen-zur-kritik-der-menschenrechte-2004 (Zugriff 15.10.2023)