Staat und Kirche | Veröffentlicht in MIZ 3/21 | Geschrieben von Redaktion MIZ

Die Idee eines Neutralitätsgesetzes

Antworten der Parteien auf eine Anfrage des IBKA

Die Bundestagswahl ist gelaufen und alles deutet darauf hin, dass nach 16 Jahren Regierung unter Führung der Union in den nächsten Jahren eine Ampelkoalition die Politik bestimmen wird. Und so besteht zumindest die Möglichkeit, dass Bewegung ins Verhältnis von Politik und Religion bzw. Weltanschauung kommt. Denn so weit SPD, Grüne und FDP in finanz-, wirtschafts- und sozialpolitischen Fragen auch auseinanderliegen, in lebensweltlichen Angelegen­heiten werden größere Schnittmengen sichtbar. Hier liegt Potential für gesellschaftliche Veränderungen.

Im Juli hatte der Internationale Bund der Konfessionslosen und Atheisten (IBKA) die Parteien angefragt, was diese davon halten, auf das Mittel eines Neutralitätsgesetzes zurückzugreifen, um der Diskriminierung von nicht-
religiösen Menschen entgegenzuwirken. Aus den Antwortschreiben geht (in ganz groben Zügen) auch hervor, in welche Richtung die Entwicklung unter der zu erwartenden neuen Bun­desregierung laufen könnte.

Als zentrale Erkenntnis aus den Stellungnahmen von SPD, CDU, Grünen und Linken (die FDP hat nicht geantwortet) kann gelten: Die Idee eines Neutralitätsgesetzes auf Bundes­ebene bzw. eines entsprechenden Rahmen­gesetzes ist in der Politik noch nicht angekommen. Wenn die Schreiben überhaupt konkreter Bezug darauf nehmen, reicht der Horizont nicht weiter als bis zu einer für Staatsbedienstete verbindlichen Kleiderordnung. Dafür, dass ein Neutralitätsgesetz ein Instrument einer modernen Religionspolitik sein könnte, auf dessen Grundlage alle zivilgesellschaftlichen Kräfte unter gleichen Voraussetzungen nach gesellschaftlichem Einfluss streben könnten, fehlt derzeit noch die politische Phantasie.

Relativ unbeweglich

Weiter ist festzustellen: Die großen Par­teien nehmen die neuen gesell­schaft
­lichen Realitäten zwar zur Kennt­nis, tun sich aber schwer damit, ihre Politik auf die Veränderungen auszurichten. Die CDU hatte sich explizit zum Ko­operationsmodell bekannt (siehe MIZ 2/21, Seite 5) und meinte auf dieser Grundlage könne sie „der zunehmenden Vielfalt der religiös-weltanschaulichen Bekenntnisse in unserem Land gerecht werden“.

Und auch die SPD schreibt, dass sie „eine grundsätzliche religionspolitische Neuverständigung“ nicht für „angezeigt“ halte. Wie die Union befürwortet die SPD eine Ausweitung der bestehenden Privilegien auf andere als die christlichen Religionsgesellschaften. Dabei werden die Vorstellungen, „auch muslimischen Glaubensgemeinschaften unter bestimmten Prämissen der Zugang zum Religionsverfassungsrecht“ zu ermöglichen, im Gegensatz zur Union konkretisiert: Es gehe um „Fragen der wissenschaftlichen Ausbildung an isla
misch-theologischen Fakultäten, des islamischen Religionsunterrichts und der Finanzierung islamischer Orga­ni­sationen und ihrer gemeinwohldienlichen Tätigkeiten“.

Anzumerken ist allerdings, dass es 
durchaus fraglich ist, ob diese Posi­tion in der SPD konsensfähig ist. Denn 
geantwortet hat der Ab­ge­ord­nete Dr. Lars Castellucci, der in der Bundestags­fraktion als „Be­auftragter für Kirchen und Religions­gemein­schaften“ fungiert und als Kirchen-Lobbyist anzusehen ist. Noch 2018 bezeichnete Castellucci die im Grund­gesetz festgelegte Ablösung der Staats­leistungen als „Unsinn“ und plädierte für die Beibehaltung der Zahlungen.

Eine tatsächliche inhaltliche Ausein­andersetzung mit der Kritik des IBKA am Status quo leistet Castellucci nicht, die meisten seiner Aussagen sind Futter für das Phrasenschwein („Gelebte Viel­falt hat das Potenzial zu großer Frei­heit für alle“). Dabei achtet der Abgeordnete nicht einmal darauf, dass die verwendeten Textbausteine widerspruchsfrei zusammengefügt werden. So wirkt es unfreiwillig komisch, wenn er schreibt: „Im Blick müssen dabei immer die Menschen sein. Ihre Rechte sollen geschützt und ausgeweitet werden, nicht die von Institutionen“ – und im nächsten Absatz die Ausweitung von Privilegien auf muslimische Glaubens­gemeinschaften fordert.

Bei den kleineren Parteien entsteht weit eher der Eindruck, dass diese tatsächlich nach politischen Möglichkeiten für eine Neugestaltung der Verhältnisse suchen. Die Antwort des Geschäfts­führers der Grünen, Michael Kellner, verdeutlicht dies. Sie ist die kürzeste, doch durch den Verzicht auf wohlklingende Phrasen lässt sie trotzdem eine klare Perspektive erkennen. Auf die Idee eines Neutralitätsgesetzes geht er indirekt und differenziert ein: dem klaren Bekenntnis zum Verzicht auf religiöse Symbole in staatlichen Gebäuden steht Zurückhaltung hinsichtlich „pau­schale(r) Verbote von religiösen und weltanschaulichen Symbolen und Klei­dungsstücken“ bei Repräsentant_innen des Staates gegenüber.

Kellner spricht an, dass die Belange von konfessionsfreien Personen „umfassende Berücksichtigung“ finden müssten und eine „gleichberechtigte Teilhabe“ anzustreben sei. Als Beispiele nennt er die Besetzung der Rundfunk- und Fernsehräte sowie die öffentliche Gedenk- und Trauerkultur, „die bisher oft an die beiden großen christlichen Kirchen delegiert wird“.

Die Linke sieht im Neutralitätsgesetz eher Probleme als Chancen. So jedenfalls dürfte der Hinweis von Amira Mohamed Ali und Dietmar Bartsch auf das Bundesverfassungsgerichtsurteil zum Berliner Neutralitätsgesetz zu verstehen sein. In der pauschalen Formulierung, dass das Neutralitäts­gesetz „insbesondere Muslima und Juden diskriminiert“, zeigt sich der starke Einfluss von Kräften mit identitärem Religionsverständnis in der Fraktion. Theoretisch erbärmlich wird es, wenn die linke Fraktionsführung schreibt: „Gleichzeitig lehnen wir Gesetze ab, welche die Freiheit der Religion des einzelnen Menschen einschränken“, ohne auch nur in einem Nebensatz zu reflektieren, dass religiöse Vorstellungen mit anderen Grundrechten durchaus in Kollision geraten können.

Ansonsten besteht der Brief weitgehend aus Textbausteinen aus dem Wahlprogramm der Linken (siehe MIZ 2/21, S. 15f.). Darin finden sich zahlreiche von säkularen Verbänden seit langem erhobene Forderungen, die auch den Abbau von Privilegien umfassen. Eine grundlegende Reflexion über ein in religiös-weltanschaulicher Hinsicht neutrales Gemeinwesen findet sich hingegen auch dort nicht. Es ist ohnehin anzunehmen, dass die Partei auf absehbare Zeit nicht in der Lage sein wird, diesbezüglich politische Konzepte zu entwickeln, weil sich die emanzipatorischen universalistischen und die re­gressiven identitären Ansätze gegenseitig blockieren.

Die positive Erkenntnis aus den Antworten auf die Anfrage des IBKA ist, dass im politischen Berlin angekommen ist, dass Konfessionslose eine gesellschaftliche Größe darstellen. Allerdings werden sie in ihrer Bedeutung von einigen Parteien noch nicht entsprechend ihres Bevölkerungsanteils, son­dern ihres Organisationsgrades wahr­genommen. Ihre Interessen wiegen folglich nicht so stark wie die der Kirchen oder auch kleinerer (jetziger und zukünftiger) Profiteure der 
strukturellen Privilegierung von Reli­gionsgemeinschaften gegenüber anderen zivilgesellschaftliche Akteuren.
Trotzdem erscheint eine Verände­rung des jetzigen Zustandes möglich, auch diese Debatte ist im politischen Berlin angekommen. Allerdings geht die Tendenz eher dahin, die Kirchenprivilegien auszuweiten als sie abzuschaffen. Um davon profitieren zu können, müssten Konfessionslose sich auf die identitätspolitischen Vorgaben einlassen: Gesellschaftliche Teilhabe für die eigene Klientel (de fato eher: einige Funktionär_innen) wird gewährt, wenn keine Veränderung der Gesellschaft gefordert wird. Nicht nur für den IBKA dürfte dies inakzeptabel sein.

Entschieden ist freilich noch nichts. Um zu erreichen, dass der Zug doch noch in Richtung „Neutralität“ fährt, ist es notwendig, eine gesellschaftliche Debatte zu diesem Themenkomplex zu führen. Anknüpfen könnten die Verbände an Michael Kellners An­kündigung, die Grünen wollten „eine öffentliche Debatte darüber anstoßen, wie die Belange anderer religiöser und weltanschaulicher Gemeinschaften und die Belange religions- oder weltanschauungsgemeinschaftsfreier Men­schen bislang berücksichtigt werden und wie eine gleichberechtigte Teilhabe besser gelingen kann“. Das sollte beim Wort genommen werden.