LeserINNENbriefe | Veröffentlicht in MIZ 4/11 | Geschrieben von Redaktion MIZ

LeserINNENbriefe

Zum Artikel „2083+1518=0“ von Christoph Lammers (MIZ 3/11)

Massaker (mit?)verantwortlich zu machen, ist genauso naiv, wie die immer wieder geäußerte Behauptung, Gewalt-Videos seien die Ursache für Schul-Massaker Jugendlicher bzw. junger Erwachsener.

Leider hat Lammers Breiviks paranoides Pamphlet nicht komplett durchgearbeitet bzw. sich nur jene Stellen herausgepickt, die zum Bild des christlichen Fundamentalisten passen. Dagegen lesen wir auf Seite 1.344: „I’m not going to pretend I’m a very religious person as that would be a lie. I’ve always been very pragmatic and influenced by my secular surroundings and environment.“ Und auf Seite 1398 schrieb der Killer: „Religious: I went from moderately to agnostic to moderately religious.“ Auf Seite 1.404 heißt es: „Regarding my personal relationship with God, I guess I’m not an excessively religious man. I am first and foremost a man of logic. However, I am a supporter of a monocultural Christian Europe.“ Die Bibel taucht noch nicht einmal unter seinen „liebsten Büchern“ auf – da steht an erster Stelle Orwells 1984. Die Bibel taucht erst unter „anderen wichtigen Büchern, die ich gelesen habe“ auf!

Allerdings scheint auch der von Lammers zitierte FAZ-Journalist Reinhard Bingener Breiviks Traktat nicht eingesehen zu haben, denn es stimmt nicht, daß sich letzterer nirgends wortwörtlich auf die Bibel berufen habe. Allerdings sind die vergleichsweise wenigen Stellen auf nur acht hintereinanderstehenden Seiten von insgesamt 1.500 Seiten aufgelistet, um „Selbstverteidigung“ und heiligen christlichen Krieg zu rechtfertigen (S. 1.327-1.334). Nun könnten diese Zitate immerhin auf einen „bibelfesten“ Christen hindeuten, doch weit gefehlt, denn all diese Zitate finden sich bereits fix und fertig hintereinander aufgelistet in zwei von Breivik angeführten Internet-Quellen! in seinem gesamten Pamphlet zitierte Breivik sonst aus der Bibel oder aus der Kirchenliteratur!

Auch mit dem Beten hat es der angebliche Christen-Fundamentalist nicht sehr. Auf Seite 1.344 sinnierte er kurz vor Ausführung seiner Gewalttaten eher intellektuell, als von tiefer religiöser Inbrunst erfüllt, daß er wohl zu Gott beten werde, wenn er sich unterwegs auf seiner „Mission“ befände. Das ist das einzige Mal, daß er vom Selbst-Beten sprach.

Nein, gefühlte Religiosität paßt nicht zu dem eiskalten Egomanen Breivik. Der is alles andere als ein Frömmler, der griff alles an kruder Ideologie auf, das er in die Finger bekam, um seine Gewaltphantasien rechtfertigen zu können. Er benutzte dabei die aus Sekundärquellen abgeschriebenen Bibelzitate genauso als Waffen wie seine echten Feuerwaffen und Bomben. Als Bildungsbürger per excellence, mußte er sich ganz einfach einen gewaltigen Berg an moralischem Rüstzeug errichten, um seine Gewalttaten rechtfertigen zu können! Dieses Vorgehen erinnert sehr an den Wust von linken Versatzstücken, die sich die RAF-Mörder zusammengeschmiert hatten, um ruhigen Gewissens gewaltmäßig so richtig die Sau rauslassen zu können!

Am Anfang steht immer eine unbändige Aggression. Um ihr Ausleben vor dem eigenen Gewissen rechtfertigen zu können, bastelt man sich dann nachträglich eine individuelle Rechtfertigungsethik zusammen. Dummerweise suchen wir in unserer objektivistischen Kultur die Ursachen von Gewalt bevorzugt außerhalb unser selbst...

Daß es Breivik nicht um irgendwelche Weltanschauungen ging, sondern allein um die Lust am Töten, beweisen seine Opfer, denn die waren ja keine Moslems, sondern zum Teil wie er Christen! Genauso gut könnte man Hitler als christlichen Fundamentalisten aufwerten, weil er als erzogener Christ die Juden für alles Übel in der Welt verantwortlich machte. Die Wahrheit ist viel profaner: Er wollte einfach auch nur seine Gewaltphantasien ausleben. Um dies moralisch
rechtfertigen zu können, erklärte er die Juden zu Un- und Untermenschen.

Rudolf Henke, Sandhausen