Wider Erwarten sind die Akteure aber nicht nur irgendwelche Unkundigen, Aktive der sogenannten „Neuen Rechten“ oder sog. „besorgte Bürger_innen“, die sich über den ausgerufenen „Gender-Wahn“ echauffieren, sondern ebenso Expert_innen und Journalist_innen, die ihre jeweiligen Positionen enthusiastisch verfechten. Darunter finden sich auch Wissenschaftler_innen, die einen empirisch nicht haltbaren Boom der Gender Studies an deutschen Universitäten verkünden.
Und was daran interessiert säkulare Leser_innen? Dass sich selbst der Vatikan mit dem Begriff „Gender“ befasst? Dass auch die evangelische Kirche oder Evangelikale das Thema bedienen? Weil der Vorwurf der Unwissenschaftlichkeit auch von säkularen Wisssenschaftler_innen vorgebracht wird? Oder weil die Kritik an Gender- und Frauenforschung im Fahrwasser rechtspopulistischer, antieuropäischer und fundamentalistischer Bewegungen erst richtig Fahrt aufgenommen hat?
Bettina Bussmann bezieht in ihrem Beitrag dazu Stellung, worauf sich der Vorwurf der „Unwissenschaftlichkeit“ bezieht. Sie zeigt auf, wo das Potential beziehungsweise die Grenzen von Genderfragen in der Wissenschaft und wo Ressentiments aus Unkenntnis zu verorten sind.
Andreas Kemper stellt in seinem
Beitrag eine der konservativen, rechtspopulistischen Bewegungen vor, die sogenannte „Männerrechtsbewegung“ oder „Maskulisten“. Er geht der Frage
nach, wer die selbsternannten Antifemisten sind, wie diese agieren und in welchen Netzwerken sie ihre Bastion „Anti-Genderismus“ beziehen.
Und was kann darüber hinaus am Thema interessieren? Sollte es gar der Umstand sein, dass zahlenmäßig angesichts der Statistiken der IBKA-Mitglieder oder der Teilnehmer_innen an Veranstaltungen eine deutlich stärkere Beteiligung von Männern in der Szene augenfällig ist? Oder dass sich gesellschaftliche Prozesse im Kleinen abbilden, wenn an der Häufigkeit und Länge der Redebeiträge eine bezifferbare Dominanz abgelesen werden kann? Oder dass die Besetzung von sogenannten Expert_innenrunden eher den Anschein erweckt, als gebe es keine Expertinnen?
Letztgenannte Fragen beschreiben strukturelle Probleme, auf welche die schwedische Gesellschaft Antworten gesucht hat, die schwedische Politik und Wirtschaft gemeinsam wesentliche Maßnahmen über Jahrzehnte hinweg ein- und durchgesetzt haben. Einen Einstieg in das Thema Gleichstellung und Gendermainstreaming in Schweden bietet der Beitrag von Brigitte Stepanek.
Wie weit das Thema Gender, Gleichstellung, manifeste Rollenbilder, Geschlecht und Geschlechtszuweisung gefasst werden kann, reißt die Kolumne von Juliane Löffler an. Der zentrale Satz „Macht wird eben niemals freiwillig abgegeben“ macht das grundlegende Anliegen von Gender Studien und gelebter Gleichstellungspraxis deutlich. Weil Gender im Deutschen nicht einfach mit „Geschlecht“ übersetzt werden kann, denn dabei ist das soziale Geschlecht gemeint. Ein kurzes Beispiel: Ich bezeichne mich als Feministin, die den queer-feministischen Ideen durchaus viel abgewinnen kann: Damit möchte ich sagen, dass meine Idee von Gleichstellung und antidiskriminierendem Umgang vielgestaltig ist. In den Geisteswissenschaften stechen unter den Studienanfänger_innen deutlich die Frauen hervor, je nach Disziplin kann die Zahl bis in die 90er Prozentzahlen steigen. Das Verhältnis verkehrt sich komplett, werden die Professor_innenzahlen in den Blick genommen, ähnliches gilt für Wirtschaftunternehmen. Das ist faktisch nichts Neues. Was aber weniger bekannt sein dürfte, ist, dass Jungen im Grundschulalter im Vergleich zu den Mädchen deutlich schlechtere Lese- und Schreibkompetenzen im Altersdurchschnitt zeigen. Wir können allgemein fragen, warum Schwächen bei Jungen und Männern nicht zugelassen und nur hinter vorgehaltener Hand thematisiert werden. Mir ist an dieser Stelle aber wichtiger, dass Maßnahmen ergriffen und Anreize geschaffen werden, damit für Jungen das Lesen attraktiver gemacht wird.
Aber ich möchte den Gedanken „Schwächen zeigen“ bei Jungen und Männern noch einmal aufnehmen. Denken Sie mal einen Moment über folgende Frage nach: Welcher juristischer Tatbestand wurde und wird mit der emotionalen Schwäche von Männern begründet?
Wenn Sie die Antwort bereits gefunden haben, verstehen Sie, warum meine Ratio bzw. meine Skepsis geweckt wird und mir viel wichtiger erscheint, nach gesellschaftlichen Konstruktionen und soziokulturellen und sozioökonomischen Umständen zu fragen.
Die Antwort auf die oben gestellte Frage lautet: sexuelle Übergriffe und Vergewaltigung. Angenommen die gesellschaftliche Norm oder Normierung, wie eben jene, dass Mädchen und Frauen emotionaler sind beziehungsweise sich stärker von Emotionen (Trieben) leiten lassen, Jungs und Männer hingegen nicht. Da bleibt mir nur die konsequente Frage: Warum sollte das Argument zählen, wenn es um unkontrollierte Triebsteuerung geht?
Und eben diese Frage nach den Machtverhältnissen stellt sich erneut, wenn geschlechtspezifische Sprache zur Debatte steht. Ist doch egal, ob Experte oder Experten oder Expert_in und Expert_innen steht. Tatsächlich? Eine gute Bekannte gibt Seminare zu Gender Mainstreaming für die Wirtschaft. Sie teilt jedes Seminar gleich zu Beginn angekündigt in zwei Blöcke: 50% der Zeit spreche ich in der uns gewohnten Art und Weise, alle in der grammatikalischen männlichen Form an, die anderen 50% der Zeit spreche ich alle komplett in der grammatikalischen weiblichen Form an. Das Ergebnis ist verblüffend: Sehr viele Männer geben beim Feedback an, dass sie sich nicht angesprochen fühlten im zweiten Teil des Seminars...
Und „Genderforschung bedeutet nicht Feminismus oder Frauenförderung“, das ist zwar völlig richtig, aber der Genderforschung tut es gut, auch Frauenforschung zu betreiben. Denn selbst wenn die Frage nach der „Wahrheit“ oftmals höher gewertet wird und leichter erscheint. Emanzipation und Selbstbestimmung sind historisch gewachsen. So ist sprachlich aus der „Unterdrückung der Frauen“ die „Diskriminierung von Geschlechtern“ geworden. Die Frage von Macht und Machtverhältnissen und ihrer Widersprüche formuliert einst Mary Daly (1928-2010): „Die Forderung der Frau nach Gleichberechtigung in der Kirche ist in etwa vergleichbar mit der Forderung eines Schwarzen nach Gleichberechtigung im Ku Klux Klan.“ Und gerade weil die Beschäftigung mit Anderen, implizit rassistischen Spielarten von Diskriminierung nun auch zur „eigenen“ und nicht mehr zur „fremden“ Geschichte gehört.