Gigantische Menschenopfer – das ist meist allererste Impression in medialen Darstellungen über die Azteken (Mexika). „Die Azteken-Kultur beruhte auf Gewalt. … Moctezuma, der Herrscher, duldete keinen Widerspruch“, informiert stern.de1 anlässlich einer Moctezuma-Ausstellung 2010 im British Museum. „Für die Nachbarvölker der Azteken, die jahrzehntelang unter den blutrünstigen Raubzügen litten, war es eine Erlösung“ – dass endlich die europäischen „Befreier“ auf den Plan rückten!
„Sieger der Geschichte sehen anders aus!“, deklariert tagesspiegel.de,2 um dann aber ganz sachlich festzustellen: „Das Problem ist nur: Die Spanier, die Moctezuma erst gefangennahmen und dann sein Reich brutal zerstörten, haben ganze Arbeit geleistet. Kaum schriftliche Quellen sind überliefert aus der Zeit vor ihrem Einfall, alles ist entweder die spanische Perspektive (...) oder die mühsame Rekonstruktion späterer Generationen (...).“
Und dazwischen viel Platz für Schwarz-Weiß-Malerei. Vom Aztekenbezwinger Hernán Cortés sagt sein Gefolgsmann Bernal Díaz del Castillo: „Er hatte den Ehrgeiz, in allen Dingen den großen König Alexander nachzuahmen. Sein Machtstreben kannte keine Grenzen.“ Huch – genau das, was man dem „absolutistischen“ Moctezuma vorwirft! Tja, was dem Jupiter erlaubt ist, ist dem Ochs noch lang nicht erlaubt – vor allem wenn es ein ungetaufter Ochs ist...
Schon allein war es eine Zumutung für die Konquistadoren festzustellen, dass sie einer Hochkultur gegenübertraten. Tenochtitlan, Hauptstadt in einer riesigen Lagune und Vorgängerin von Mexiko-Stadt, war eine strahlende Metropole mit um die 100.000 Einwohnern, gepflegten Stadtvierteln, Kanälen und wundervollen Gärten, von den imposanten Sakralbauten ganz zu schweigen. „Wenn man bedenkt, dass diese Barbaren so weit von der Kenntnis Gottes und jeder Verbindung zu anderen vernunftbegabten Nationen entfernt sind, so ist es bewundernswert, mit wie viel Verstand sie an alle Dinge herangehen“, muss Cortés eingestehen.
Und nun musste erst recht die Propagandamaschine angeworfen werden, um die Eliminierung einer solchen Kultur daheim zu rechtfertigen (denn in Spanien war längst nicht jeder mit Cortés eigenmächtigem Treiben einverstanden). „Die Darstellung von Cortés ist ebenso heroisch wie ‘politisch korrekt’ und ein visuelles Spektakel, das Hollywood würdig gewesen wäre“, resümiert Serge Gruzinski.3 „Um seine Aktionen vor der Krone, der Justiz und den Theologen zu rechtfertigen“, konstruierte Cortés einen Mythos, demzufolge sich Moctezuma den Ankömmlingen bereitwilligst unterwarf, da er ihre Legitimität aufgrund uralter Weissagungen etc. anerkannte: „Moctezuma sagte einmal, dass ihm die Gefangenschaft gar nicht so unangenehm sei. Unsere Götter hätten uns ja dazu die Macht gegeben, und seine Götter hätten nichts dagegen unternommen. Cortés und Pater Bartolome nutzten diese Bemerkung natürlich gleich aus, um dem Fürsten noch einmal die Grundsätze unserer heiligen Religion klarzumachen.“ (Díaz del Castillo4). Ja, klar: Musketen und Kanonen versus Obsidianbeile, eine eindeutige Sache. Zweifellos hätte Cortés auch klein beigegeben, wenn ein Dutzend Leopard-Panzer auf ihn zugerollt wären ...
Und so bekehrungswillig war Moctezuma (trotz Feuerwaffenterror) durchaus nicht: „Ich habe über meine Diener vernommen, was Ihr über diese Götter und das Kreuz gesagt habt (...) Wir haben nichts darauf geantwortet, denn hier haben wir immer unsere eigenen Götter verehrt und für gut befunden.“ (Díaz del Castillo) Ferner verbat sich Moctezuma weitere Schmähungen seiner Götter durch die Gäste.
Er war immerhin seit fast zwei Jahrzehnten am Ruder, übrigens demokratisch von einem Ältestenrat gewählt, ein erfahrener Herrscher, exzellenter Redner und mit der höchsten priesterlichen Autorität versehen. Wie jeder Inhaber einer Machtstellung hatte auch er zweifellos seine Schattenseiten – dazu zählten jedoch gewiss nicht Feigheit und Naivität, die ihn in den Augen der Spanier und der politischen Gegner unter seinen Landsleuten die Nerven verlieren lassen, so dass er handlungsunfähig alles über sich ergehen lässt, um schließlich von seinen eigenen Leuten verächtlich gesteinigt zu werden.
Wir stehen in der Verantwortung, der Geschichte und ihren Akteuren Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Das Zerrbild Moctezumas II. hat hier und da Löcher, durch die ein großer, tragischer Herrscher hindurchschimmert. Dazu gehört folgende Anekdote:
„Gelegentlich einer Jagd betrat er einen Garten und pflückte, einer Laune folgend, einen reifen Maiskolben. Dann betrat er das Haus des Besitzers, fand es aber leer... Schließlich stellte sich der Besitzer vor und machte eine tiefe Verbeugung. Darauf fragte der Mann zu Moctezumas Überraschung, wie er dazu käme, einen gestohlenen Maiskolben in der Hand zu halten. Moctezuma hatte sein eigenes Gesetz gebrochen. Der Herrscher, von dieser Rüge verblüfft, bestand darauf, seinen Mantel, der den Wert eines ganzen Dorfes darstellte, als Geschenk dazulassen. … [Moctezuma verkündet]: ‘Dieser armselige Bursche hat mehr Mut und Willenskraft als alle (...), denn er hat es gewagt, mir zu verstehen zu geben, dass ich mein Gesetz gebrochen habe, und er hat recht’“, erzählt die Cronica Mexicana. Nigel Davies5 fügt hinzu: „Moctezuma war so sehr auf die Unbestechlichkeit seiner Richter bedacht, dass er sich (...) verkleidete, um ihr Verhalten zu prüfen.“
Das Schicksal hat Moctezuma insofern gnädig behandelt, als es ihm ersparte, die totale Zerstörung der Hauptstadt Tenochtitlan sowie anschließende weltanschauliche Indoktrination seines Volkes mitzuerleben. Die Ereignisse des Jahres 1520 im Tal von Mexiko und ihre Folgen gehören zu den am schwersten verdaulichen Episoden der Geschichte.
Anmerkungen
1 Fuchs, Cornelia: Auf den Spuren der Azteken, www.stern.de, 10.2009, Zugriff am 17.6.2020.
2 Tilmann, Christina: „Er, der spricht“, www.tagesspiegel.de, 28.9.2009, Zugriff am 17.6.2020.
3 Gruzinski, Serge: Drache und Federschlange, Frankfurt 2014, S. 118.
4 Alle Zitate von Díaz del Castillo nach: Bernal de Díaz del Castillo: Die Eroberung von Mexiko (Buchbesprechung), in: kapitel7.de, 6.8.2018.
5 Davies, Nigel: Die Azteken, 1973, S. 197.