Wer regelmäßig öffentliche Verkehrsmittel frequentiert, kennt das übliche Unterhaltungsprogramm, das dort ge boten wird: Randalierende Fußballfans, Piccolo-geschwängerte Damen- Kegelclubs oder allen Lärmschutzverordnungen trotzende Schulklassen. Das Programm ist wenig abwechslungsreich und wiederholt sich in regelmäßigen Abständen. Nur manchmal gibt es Überraschungen. Eine davon wurde mir neulich bei einer Fahrt mit der Deutschen Bahn zuteil.
Ich saß in einem handelsüblichen Sechserabteil zweiter Klasse und ließ meinen Gedanken freien Lauf, als sich zwei Damen mittleren Alters zu mir gesellten. Freudig erregt, mit Rucksack und in quietschbunter Outdoor-Montur. Die beiden waren, so erfuhr ich durch das unvermeidliche Belauschen ihrer angeregten Unterhaltung, auf den ersten Metern einer Pilgerreise. Seit Hape Kerkeling vor einigen Jahren mal kurz auf dem Jakobsweg war, ein sehr beliebter Sport bei Lebensmittekrise-Geplagten.
Da die Reise der beiden Pilgerinnen gerade erst begonnen hatte, gab es viel zu besprechen. Kartenmaterial und Wanderführer wurden ausgepackt, ebenso wie ein Reisebegleiter ganz besonderer Art: Ein kleines weißes Metalldöschen mit rotem Aufdruck. Aus der Entfernung konnte man es für eine Pflasterschachtel oder ein Fahrradreparatur-Set halten. Aber das Döschen enthielt nichts von diesen sinnvollen Reiseutensilien, sondern war eine „Prayerbox für unterwegs“. Inhalt: ein kleines silbriges Kreuz, ein Mini-Rosenkranz aus roten Holzperlen, eine Ampulle Weihwasser sowie ein Beipackzettel mit den gängigen christlichen Gebeten auf Deutsch, Englisch und Italienisch.
Ungläubig bat ich die Pilgerinnen darum, einen genaueren Blick auf die Box werfen zu dürfen. Sie stammte von einem Verein namens Kirche in Not – Weltweites Hilfswerk päpstlichen Rechts, der für besonders fantasielose Unterwegs-Beter auf dem Beipackzettel auch gleich Vorschläge für Gebetsanliegen mitlieferte, wie zum Beispiel „Die Neuevangelisierung Deutschlands und der ganzen Welt“ oder „Die Gabe der Stärke für verfolgte, bedrängte und notleidende Christen“. Verfolgte, bedrängte und notleidende Nicht-Christen sollen dagegen offenbar bleiben, wo der Pfeffer wächst.
Besonders charmant fand ich folgenden Hinweis auf dem Beipackzettel: „Prayerbox für unterwegs enthält Kleinteile, die von Kindern leicht verschluckt werden könnten. Bitte Vorsicht, wenn sie in der Nähe von Kindern aufbewahrt wird.“ Aha, dachte ich, das also war gemeint mit dem vermeintlichen Diktum des Heilands „Lasset die Kindlein zu mir kommen“.
Noch ehe ich jedoch diesen kleinen blasphemischen Einwand zur Sprache bringen konnte, holte eine der Pilgerinnen eine weitere Box aus ihrem Rucksack. Diesmal größer und bunter, eine Butterbrotdose mit zwei Kindern unter einem Regenbogen auf dem Deckel. Ich wurde darüber informiert, dass diese Dose keineswegs eine einfache Butterbrotdose sei, sondern die „Schulanfangsbox“ des Bonifatiuswerks. Ursprünglich „vollgefüllt mit kindgerechten geistlichen Impulsen“: Kindergebetbuch, Segenswürfel, Heiligenpostkarten zum Ausmalen und dem unvermeidlichen Fläschchen Weihwasser. Aus Gründen der Praktikabilität befanden sich in der Dose inzwischen allerdings Schinkenschnittchen.
Stolz verkündete die Pilgerin, dass es sich bei der Box um ein Geschenk ihrer kleinen Nichte handele. Die habe die christliche Brotdose gerade erst zu ihrem Kindergartenabschluss bekommen und sie voller Nächstenliebe sofort der pilgernden Tante weitergeschenkt. Im Stillen mutmaßte ich, dass die kleine Nichte das Ding einfach loswerden wollte, und zollte dem Kind unbekannterweise meinen Respekt.
Die Pilgerin war von dem Geschenk ihrer Nichte hingegen so begeistert, dass sie vor Antritt der Pilgerfahrt gleich mehrere dieser Boxen geordert und an die Nachbarskinder verteilt hatte. 14,90 Euro pro Stück, ab einer Abnahmemenge von zehn Exemplaren 9,90 Euro. So ein Angebot muss einen einfach in Versuchung führen …
Ich persönlich fand, dass es nun Zeit war für einen Boxenstopp, und war äußerst erleichtert, dass meine Fahrt endete, ehe die beiden Damen weitere christliche PR-Artikel aus ihren Rucksäcken fischten. Sprach- und boxenlos blieb ich am Bahnsteig stehen und sah dem Pilgerzug hinterher. Wäre es nicht an der Zeit, auch eine Atheisten-Box in den Handel zu bringen, fragte ich mich. Aber ich verwarf den Gedanken sofort wieder. Hirn lässt sich doch wesentlich sinnvoller im eigenen Schädel transportieren als in einer Butterbrotdose.