Neulich | Veröffentlicht in MIZ 2/23 | Geschrieben von Daniela Wakonigg

Neulich …

... auf dem Gipfel

Die schier unfassbare Schönheit der Natur ist kaum irgendwo so sehr erfahrbar wie bei einer Wanderung durchs Gebirge. Doch selbst hier schaffen es die Religiösen, einem das Naturerlebnis zu vermiesen. Vor allem die besonders schönen Gipfel sind zugepflastert mit jenem bekannten römischen Folter- und Hinrichtungsgerät, das heute das zentrale Symbol der selbsternannten Religion der Nächstenliebe ist. Die meist meterhohen wuchtigen Holz- oder Steinkreuze thronen in den Alpen zu Tausenden an der jeweils höchsten Spitze eines Berges und lassen keinen Zweifel aufkommen, wer in der Region als allerhöchste Gottheit gilt. Allerdings wird diese Gottheit auch in den bekannten Gipfelkreuzregionen von immer weniger Menschen verehrt.

Dass Kreuze auf Bergen nichts zu suchen haben, finden inzwischen immer mehr Menschen. Pünktlich zum Beginn der diesjährigen Sommerurlaubssaison entbrannte in Italien und Österreich eine heiße Diskussion zu dem Thema. Angestoßen hatte sie Ende Juni ein Vertreter des italienischen Alpenvereins Club Alpino Italiano (CAI). Er hatte öffentlich geäußert, dass seiner Meinung nach keine neuen Gipfelkreuze mehr aufgestellt werden sollten, weil sie nicht mehr zeitgemäße religiöse Symbole auf Bergen seien. Das Thema schwappte über die Berggipfel ins Nachbarland Österreich, wo sich der Präsident des Österreichischen Alpenvereins (ÖAV), Andreas Ermacora, ebenfalls gegen das Aufstellen neuer Gipfelkreuze aussprach – wenn auch weniger aus religiösen Gründen. Es gebe schlicht bereits genug Gipfelkreuze, um die man sich zu kümmern habe, zum Beispiel ersetze man sie, wenn sie morsch würden.
Obwohl also kein einziges Gipfel­kreuz akut von der Abholzung bedroht ist, sorgten die Äußerungen unter Traditionalisten umgehend für Empörung. Aus Kreisen der konservativen ÖVP und der rechtspopulistischen FPÖ in Tirol war zu hören, Gipfelkreuze „seien ein Zeichen für das christliche Erbe Tirols und daher Teil der Identität des Landes“, ein Zeichen der „Dankbarkeit“ und „Spiritualität“, das „Tradition und Glaube“ repräsentiere.
Der Streit um das Thema „Gipfel­kreuz“ ist nicht neu. Auch in der Schweiz gab es vor mehr als zehn Jahren eine intensive Debatte ums Gipfelkreuz, nachdem ein Bergführer dort mehrere der religiösen Symbole zerstört hatte. Die Frage, ob es sich hierbei um Sachbeschädigung oder Blas­phemie handelt, sorgte für angeregte Diskussionen. Die Freidenker-Vereinigung der Schweiz (FVS) positionierte sich damals ebenfalls klar gegen das Aufstellen neuer Gipfelkreuze.
Falls es einen Gott geben sollte – was bekanntlich mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht der Fall ist – scheint es, als sei er in der Causa Gipfelkreuz nicht auf Seiten der Befürworter religiöser Berggipfel-Verzierungen. Er sieht tatenlos zu, wie Gipfelkreuze bei Bauarbeiten beschädigt werden, vom Blitz getroffen werden, unter Schnee und Eis zusammenbrechen oder durch Bergstürze in die Tiefe gerissen werden. Göttliche Begeisterung für Holzlatten auf Natur­schönheiten würde vermutlich anders aussehen.