Allgemeines | Veröffentlicht in MIZ 3/24 | Geschrieben von Gunnar Schedel

Religionsunterricht als Politikfeld

Der Bereich Bildung war im Laufe der Säkularisierungskonflikte in den letzten gut 200 Jahren ein besonders umkämpfter Sektor. Dies war darauf zurückzuführen, dass vor allem die Schulbildung zunächst fast vollständig in kirchlicher Hand lag. Und auch nachdem sie zunehmend als staatliche Aufgabe begriffen wurde, blieb die „kirchliche Schulaufsicht“ erhalten und der Einfluss der Kirchen auf die Lehrinhalte gesichert. Diesen Vorteil der Religionsgemeinschaften im Kampf um die Köpfe galt es zu beseitigen. Auch die Debatten um den Reli­gionsunterricht sind ein Stück weit unter dieser Perspektive zu verstehen.

Zunächst stand beim Religionsunter­richt aber ein anderer Aspekt im Vor­dergrund. Denn als im 19. Jahrhundert allmählich auch für Nicht­christen etwas Religionsfreiheit gewährt wurde und schließlich sogar ein Leben ohne Zuordnung zu einem Bekenntnis möglich war, blieb eine Bevölkerungsgruppe davon ausgenommen: Kinder und Ju­gendliche.

Denn selbst Kinder von Eltern, die keiner Kirche angehörten, mussten den Religionsunterricht besuchen.1 In Preußen gab es für einige Jahrzehnte Ausnahmeregelungen, aber seit 1892 wurden die Rahmenbedingungen be­wusst so verschärft, dass dieser Aus­weg für Konfessionslose, die keiner anerkannten freien Gemeinde angehörten (und damit für alle Un­gläubigen im engeren Sinne), de facto verschlossen war. Es ging in der Frage des Religions­unterrichts für Konfessionslose also bis 1918 in erster Linie um die Durchset
zung des grundlegenden Menschen­rechts, ihre Kinder ohne den Zugriff der Kirchen aufziehen zu können.

Es ist die Leistung von Adolph Hoffmann, dass dieser Zustand syste­matischer Diskriminierung beendet wurde. Bereits wenige Tage nach der Revolution verfasste der von den Arbeiter- und Soldatenräten zum Minister für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung ernannte USPD-Politiker einen Erlass, der die Befreiung vom Religionsunterricht ermöglichte. Wäh­rend die meisten für den schulischen Bereich angeschobenen Reformen keinen Bestand hatten, blieb es in diesem Fall dabei: Konfessionslose Kinder mussten seitdem nicht mehr zwangsweise den katholischen oder evangelischen Religionsunterricht besuchen.2 Dass die Umsetzung vor allem in ländlichen Gebieten nicht immer reibungslos verlief, ist leicht vorstellbar. Und aus Rainer Ponitkas Artikel in diesem Heft geht hervor, dass es bis heute Schulleiterinnen oder Lehrer gibt, die sich unterwegs im Namen des Herrn wähnen und versuchen, Schülerinnen und Schülern, die sich vom Religionsunterricht abmelden, Steine in der Weg zu legen. Aber grundsätzlich war dieser Konflikt zugunsten des Grundrechts auf Weltan­schauungsfreiheit entschieden.

Seitdem ist die Auseinandersetzung um den Religionsunterricht vor allem eine Frage gesellschaftlicher Gestaltungsmöglichkeiten: Es lässt sich daran ablesen, wie es um die Macht­verhältnisse zwischen religiösen und säkularistischen Kräften bestellt ist. Auf den ersten Blick scheint es so, als sei der Religionsunterricht unantastbar. Nicht nur weil ihm durch die Erwähnung in Art. 7, Abs. 3 des Grundgesetzes Verfassungsrang zukommt, sondern auch, weil er ausreichend Fürsprecher im konservati­ven Lager hat. Und so steht die „Ab­schaffung des Religionsunterrichts“ an öffentlichen Schulen schon seit langem auf der Forderungsliste der Interessenvertretungen der Konfes­sions­losen. Ob in den Schulkonzepten der Freidenker­bewegung oder im aktuellen Politischen Leitfaden des Internationalen Bundes der Konfessions­losen und Atheisten (IBKA) – fast überall findet sich die Idee einer Schule ohne Religionsunterricht. Sich in dieser Frage durchzusetzen, ist allerdings bis heute nicht gelungen.

Trotzdem wäre es falsch zu denken, es hätte in den vergangenen Jahr­zehnten keinerlei Veränderung gegeben. Nach der Novemberrevolution gab es in den 1920er Jahren eine ganze Reihe weltlicher Schulen, an denen kein Religionsunterricht erteilt wurde. Diese wurden abgeschafft, als die Machtverhältnisse sich 1933 grundlegend änderten. Unter den Nationalsozialisten hatten religions­ferne Gesellschaftskonzeptionen keine 
Chance mehr. Und auch in der Adenauer-Zeit kam dem Modell der weltlichen Schule keine nennenswerte Bedeutung mehr zu. Den Kirchen wurde nun wieder jene Kompetenz in Erziehungsfragen zugestanden, die von der sozialistischen Arbeiterbewegung mit gewissen auch praktischen Erfolgen bestritten worden war. Wenn es vor 1990 Schulen ohne Religionsunterricht gab, zeigte sich darin nicht politische Veränderung, sondern Lehrkräftemangel.
Als die Kirchen jedoch Anfang der 1990er Jahre versuchten, in Branden­burg das Schulfach Lebensgestaltung – Ethik – Religionskunde (LER) zu verhindern, scheiterten sie. Weder politischer Druck noch eine Klage vor dem Bundesverfassungsgericht konnten verhindern, dass das Fach flächendeckend eingeführt wurde. Heute nehmen in den Jahrgangsstufen, in denen es angeboten wird, rund 90% der Schülerinnen und Schüler an diesem wissenschaftsbasierten und weltanschaulich neutralen Unterricht teil. De facto hat LER den Religionsunterricht hier ersetzt.

Auch 2009 mussten die Kirchen eine Niederlage einstecken. Ihre Kampagne Pro Reli, die zur Einführung des Reli­gionsunterrichts als Wahlpflichtfach in Berlin führen sollte, scheiterte. Trotz prominenter Fürsprecher wurde nicht nur das Quorum verfehlt; auch unter den abgegebenen Stimmen gab es eine Mehrheit für die Beibehaltung des derzeitigen Modells, das auf der Freiwilligkeit der Teilnahme an den religiösen und weltanschaulichen Unter­weisungen beruht.

Offensichtlich haben die Kirchen nicht mehr die gesellschaftliche Ver­ankerungen und nicht ausreichend Macht, um in Sachen Religionsunterricht nach Belieben ihre Position durchsetzen zu können. Gleichwohl bleibt es das Ziel, den konfessionellen Unterricht überall, selbst im weitgehend konfessionslosen Berlin, einzuführen. Das zeigte sich zuletzt im vergangenen Winter, als sich CDU und SPD im Koalitionsvertrag darauf einigten, einen neuen Anlauf zu nehmen, den Sonderstatus Berlins aufzuheben.

Bei all diesen Manövern geht es, wie 
gesagt, um Machtpolitik. Wann immer pädagogische Argumente ins Feld geführt werden, wird es peinlich. Bei­spielsweise wenn der Regierende Bür­germeister von Berlin Kai Wegner (CDU) als Begründung für die geplante Einführung des konfessionellen Religionsunterrichts als Wahl­pflicht­fach meint, der nach Religions­zuge­hörigkeit getrennte Unterricht könne jungen Menschen zeigen, dass es unterschiedliche Glaubensrichtungen gebe: „Religion ist aber nichts, was spaltet, sondern etwas, was verbindet.“3 Was das in einer Stadt mit weit über 50% Konfessionslosen bedeuten mag, weiß Wegner wahrscheinlich selbst nicht.

Wer sich kirchlicherseits fachlich mit diesem Thema befasst, hat meist einen deutlich realistischeren Blick auf die Materie. So schreibt der Direktor des Instituts für Staatskirchenrecht der Diözesen Deutschlands (Bonn), Ansgar Hense: „Die verfassungsrechtliche Gewährleistung des Religions­unterrichts nach Art. 7 Abs. 3 GG birgt aber auch für die christlichen Kirchen mitunter Schwierigkeiten. Die religiösen Verhältnisse haben sich in den 75 Jahren seit der Konstituierung der Bundesrepublik Deutschland erheblich gewandelt. Der monokonfessionelle Religionsunterricht scheint mittlerweile kein absolutes Dogma (mehr) zu sein, wenngleich er noch immer die am weitesten verbreitete Form des regulären Religionsunterrichts an staatlichen Schulen darstellen dürfte. Schon seit Längerem werden ökumenische Kooperationen praktiziert.“4

Es stehen also, das ist sicher, Ver­änderungen an. Allein schon die demographische Entwicklung und die kontinuierlich sinkende Zahl an Kir­chenmitgliedern macht es unver­meid­lich, die Organisation des schulischen Religionsunterrichts zu reformieren. Versuche mit einem ökumenischen bzw. „konfessionell-kooperativen“ Unterricht laufen bereits seit Jahren. Auch die Einführung eines Islamunterrichts schreitet voran. Beide Formen des Religionsunterrichts haben streng genommen mit dem in Art. 7, Abs. 3 genannten Fach, das „in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Religionsgemeinschaften“ erteilt wird, nur noch wenig zu tun. Denn es geht, wie gesagt, um Machtpolitik (hier: die Versorgung der eigenen Klientel mit gut dotierten Stellen).
Welche Optionen ergeben sich in dieser Debatte für die Konfessionslosen? Welche Forderungen sollten ihre In­teressenverbände erheben? Mit welchen Strategien ließe sich der Status quo zum Besseren verändern?

Darauf zu vertrauen, dass sich die Sache von alleine in unserem Sinne regelt, dass der Religionsunterricht keine Zukunft hat, weil die Zahl der katholischen, evangelischen und muslimischen Kinder irgendwann zu gering ist, halte ich für keinen guten Plan. Der Beitrag von Mirko Schultze macht sehr deutlich, dass die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen dazu führen können, dass auch Konfessionslose ihre Kinder „freiwillig“ in den Reli­gionsunterricht schicken.

Sollen die säkularen Verbände wei­ter darauf drängen, dass der Reli­gions­untericht aus den öffentlichen Schulen verbannt wird? Welche Wege gibt es, angesichts Art. 7, Abs. 3 dieses Ziel zu erreichen? Bietet die Formulierung der „bekenntnisfreien Schule“ ein Instrument, Schulen ohne Religions­unterricht einzuführen? Und falls dem so wäre: Wie ließe sich das in der Praxis verwirklichen?

Sollen die Verbände in ihrer Kritik darauf setzen, dass die Finanzierung religiöser Un­ter­weisung der wachsenden Zahl an Kon­fes­sions­losen nicht zuzumuten ist? Oder eher auf den mangelnden wissenschaftlichen Charakter des Religionsunterrichts, der diesen zu einem Fremdkörper in der Schule macht, abstellen?

Oder soll ins Feld geführt werden, dass in einer pluralistischen Gesell­schaft ein Unterricht, der Schü­lerinnen und Schüler nach vermeintlichen Iden­titäten trennt, gesellschaftliche Spal­tungen eher vertieft als sie aufzuheben? Kann es ein Hebel sein, einen integrativer Unterricht zu fordern, in dem die Schülerinnen und Schüler gemeinsam über Lebensfragen und ethische Entscheidungen diskutieren? Oder riskieren wir damit, dass zumindest eine Generation lang nicht mehr benötigte Religionslehrkräfte ein solches Fach dominieren würden?

Nicht zuletzt: Hat das Thema Reli­gionsunterricht überhaupt genug Mo­bilisierungspotential, ist es den Konfes­sionslosen wichtig genug, um sich in dieser Sache zu engagieren?

Die Antwort auf diese Frage wird nicht zuletzt davon abhängen, welche Stategie die Religionsgesellschaften ver­folgen werden. Auch wenn die beiden großen christlichen Kirchen derzeit eher defensiv agieren und sich vorrangig um ihre eigenen Probleme kümmern – den Anspruch, dem Rest der Welt die Frohe Botschaft beizubiegen, haben sie nie aufgegeben. Wenn sie im Religionsunterricht eine realistische Option sehen, diesen dafür einzusetzen, werden sie es versuchen. Es geht, wie gesagt, um Machtpolitik.

Anmerkungen

1 Vgl. Horst Groschopp: Weltliche Schule und Lebenskunde. Dokumente und Texte zur Hundertjahrfeier ihrer praktischen Innovation 1920. Aschaffenburg 2020, S. 39-43. In Preußen gab es seit 1859 eine Regelung, die „Dissidenten“-Kinder von der Teilnahme am Religionsunterricht befreite, sofern nachgewiesen werden konnte, dass sie durch einen selbstorganisierten Unterricht in die „Christenlehre“ eingeführt wurden.
2 Vgl. Michael Schmidt: Adolph Hoffmann und die Trennung von Schule und Kirche in der Novemberrevolution. In: Horst Groschopp (Hrsg.): „Los von der Kirche!“ Adolph Hoff­mann und die Staat-Kirche-Trennung in Deutschland. Aschaffenburg 2009, S. 109-127.
3 Berlin will Religionsunterricht als Wahlpflichtfach bis Ende 2026, rbb vom 7.5.2024 (Zugriff 6.11.2024)
4 Ansgar Hense: Die Neuordnung des Religionsunterrichts im Land Berlin (Zugriff 6.11.2024)