Buchbesprechung | Veröffentlicht in MIZ 1/21 | Geschrieben von Thomas Waschke

Rezension von Axel Lange: Evolutionstheorie im Wandel

Axel Lange: Evolutionstheorie im Wandel. Ist Darwin überholt? Springer Verlag, Heidelberg 2020. 4317 Seiten, gebunden, Euro 39,99 Euro. ISBN 978-3-662-60914-9

Mit seinem Buch Evolutionstheorie im Wandel hat Axel Lange eine Lücke im deutschsprachigen Angebot geschlossen. Der Untertitel „Ist Darwin überholt?“ lässt auf den ersten Blick auf ein evolutionskritisches Buch schließen. Tatsächlich ist der Begriff Kreationismus zwar im Index aufgelistet, kommt im gesamten Buch aber nur noch einmal vor, und der Kontext ist eindeutig: „Für Kreationismus und ähnliche geistige Verirrungen bleibt somit hier kein Raum.“ (S. 275)

Das Buch formuliert zwar eine Kritik am aktuellen Standard der Evolutionsbiologie (der meist als Synthetische Theorie der Evolution bezeichnet wird), diese Kritik erfolgt aber ausschließlich auf der Basis von experimentellen Befunden und der Vorstellung einer alternativen Theorie (der aktuell noch in der Entstehung begriffenen Erweiterten Synthese), die zwar den Rahmen der aktuellen Standard-Theorie sprengt, aber innerhalb des Naturalismus verbleibt. Schöpfung spielt in diesem Buch keine Rolle.

Axel Lange studierte zunächst in Freiburg Wirtschaftswissenschaften und Philosophie und arbeitete anschließend im Vertriebs- und Marketingmanagement in der IT. Sein tiefes Interesse an der Evolutionsbiologie führte letztlich zu einer Umorientierung. 2012 schrieb Lange ein Buch über Evo-Devo, das als Grundlage für eine Dissertation an der Uni Wien diente, in der er sich mit der Entstehung zusätzlicher Finger und Zehen (Polydaktylie), befasste. Die Ergebnisse seiner Arbeiten wurden als kumulative Dissertation veröffentlicht, 2018 erfolgte die Promotion mit Auszeichnung.

Das Buch umfasst insgesamt über 400 Seiten. Im Text der neun Kapitel sind ausführliche informative Interviews mit Autoren (Gerd B. Müller, Denis Noble, Armin Moczek, John Odling-Smee und Eva Jablonka), die wichtige Beiträge zu der neuen Theorie geliefert haben, integriert. In einem Nachtrag mit dem Titel „Die Player des Neuen“ werden 40 Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen porträtiert, die an der Entwicklung der neuen Theorie entweder aktiv beteiligt waren oder Forschungen durchführten, auf deren Ergebnissen die Vertreter der neuen Theorie aufbauen. Den Abschluss bilden ein ausführliches Glossar (33 Seiten mit 247 Haupt-Einträgen) und ein Index.

Der Autor hält sich zwar nach eigenen Angaben mit einer eigenen Einschätzung zurück, es wird aber deutlich, dass er für die Erweiterte Synthese plädiert. Aufgrund des zur Verfügung stehenden Raums ist es im Rahmen dieser Rezension nicht möglich, konkret darzustellen, welche Änderungen des Standards aus der Sicht der neuen Theorie erfolgen müssten. In den nächsten Ausgaben dieser Zeitschrift wird eine Artikel-Serie über die Entwicklung der Evolutionstheorie erscheinen, in der aus wissenschaftshistorischer und fachwissenschaftlicher Sicht auf diese Fragen eingegangen wird. In der vorliegenden Rezension kann nur kursorisch auf den Inhalt des Buchs eingegangen werden.

In neun Kapiteln werden sehr unterschiedliche Bereiche behandelt, die vom Umfang her eigentlich hinreichend Material für je ein Buch liefern könnten.

Die beiden ersten Kapitel befassen sich mit Wissenschaftsgeschichte. Zunächst wird in Kapitel 1 der Weg zu Darwins Theorie unter Einbeziehung eines Gegenentwurfs von Bateson skizziert, anschließend in Kapitel 2 die Entwicklung der Evolutionsbiologie bis hin zur Etablierung des aktuellen Standards.

Den meisten Raum im Buch nehmen die nächsten beiden Kapitel ein, in denen zunächst Evo-Devo, eine relativ junge Forschungsdisziplin, die sich letztlich damit befasst, wie im Laufe der Embryonalentwicklung eines Organismus ein konkreter Phänotyp entsteht und wie das mit einer Evolution verbunden werden kann, ausführlich dargestellt wird (Kapitel 3). Im anschließenden Kapitel 4 werden ausgewählte Forschungsergebnisse aus diesem Bereich, darunter auch die Ausbildung zusätzlicher Finger und Zehen, mit denen sich der Autor in seiner Dissertation befasst hat, anschaulich präsentiert.

Der für die weitere Argumentation des Buchs zentralen Theorie der Nischenkonstruktion (Organismen verändern aktiv ihre Umwelt und deren Selektionsbedingungen, beispielsweise durch Bauten wie Biberdämme oder auch im Falle des Menschen durch die Kultur) ist ein eigenes Kapitel (5) gewidmet.

Im für den Ansatz des Buchs zentralen Kapitel 6 erfolgt eine Zusammenfassung der Bedeutung der in den drei vorigen Kapiteln diskutierten Erkenntnisse für eine umfassendere Evolutionstheorie in Form der Vorstellung der Erweiterten Synthese. Dieses noch in der Entwicklung begriffene Projekt soll die neuen Befunde zu einer umfassenden Evolutionstheorie integrieren. Der bisher vertretene Standard ist nach Auffassung nicht nur des Autors aufgrund dessen theoretischer Konzeption dazu prinzipiell nicht in der Lage.

Die beiden nächsten Kapitel sind dann speziell der Evolution des Menschen (zunächst der Evolution des Denkens, Kapitel 7, und dann der weiteren, auch nicht-biologischen, Zukunft des Menschen, Kapitel 8), gewidmet. In diesen Kapiteln, die durchaus Stoff für je ein weiteres Buch liefen könnten, zeigt der Autor, dass sich die Thesen der Erweiterten Synthese, vor allem die der Nischenkonstruktion, auch in diesem Bereich sinnvoller anwenden lassen als die des bisherigen Standards.

Im abschließenden Kapitel 9 diskutiert der Autor wissenschaftstheoretische Fragen, vor allem die nach dem Verhältnis zwischen dem aktuellen Standard, der Synthetischen Theorie der Evolution, und der Erweiterten Synthese. Der Autor zeigt dabei, dass der Standard aus der Sicht der Erweiterten Synthese nicht nur Probleme damit hat, die aktuellen Forschungsergebnisse zu integrieren sondern auch konzeptionelle Schwächen aufweist. Der Autor diskutiert konkrete Möglichkeiten, wie im Bereich der Wissenschaftstheorie mit den beiden alternativen Theorien umgegangen werden könnte.

Der Autor unterstützt den Leser durch eine sinnvolle Gliederung, die in allen Kapiteln realisiert ist: Nach einer allgemeinen Einführung, unter der die für das Verständnis des Kapitels besonders wichtigen Stichworte, die im Glossar dann auch ausführlich erklärt werden, aufgelistet sind, folgt die eigentliche Darstellung. Den Abschluss bilden eine Zusammenfassung mit Literaturangaben zum Text und „Tipps zum Weiterlesen und Weiterklicken“. Das fehlende zusammenfassende Literaturverzeichnis kann man so leicht verschmerzen.

Durch diese Strukturierung wird jedes Kapitel zu einer in sich geschlossenen Einheit. Es bietet sich zwar an, die Kapitel in der vorliegenden Reihenfolge zu lesen, je nach Interesse kann der Leser aber auch Kapitel überspringen oder an beliebiger Stelle mit der Lektüre beginnen. Die Querverweise erweisen sich hier als sehr hilfreich. Hervorzuheben ist die Auflockerung des Textes durch sehr ästhetische Bilder und anschauliche Grafiken bzw. zusammenfassende Tabellen, vor allem beim Vergleich der beiden Theorien.

Bei einem Buch mit dieser enormen theoretischen Breite bleibt es nicht aus, dass der Text einige Ungenauigkeiten und problematische Formulierungen enthält. Sie schmälern aber keineswegs den positiven Gesamteindruck.

Obwohl sich der Autor bemüht hat, ein für jeden interessierten Leser verständliches Buch zu schreiben, muss aufgrund der Thematik einiges an Fachwissen vorausgesetzt werden. Jeder Leser müsste aber mit etwas Anstrengung in der Lage sein, zumindest in Grundsätzen zu erkennen, worin das grundlegend Neue der Erweiterten Synthese besteht und warum der aktuelle Standard zumindest einer grundlegenden Erneuerung wenn nicht gar Ablösung bedarf.

Zusammenfassend ist zu sagen, dass es im deutschen Sprachraum, mit Ausnahme des ersten Buchs des Autors, das aber einen etwas anderen Schwerpunkt hat, kein vergleichbares Buch gibt. Schon aus diesem Grund verdient dieses Werk Beachtung.

Für wen ist dieses Buch geeignet? Auf jeden Fall für alle, die sich für Evolutionsbiologie, deren Geschichte und aktuelle Entwicklungen interessieren und über biologische Grundkenntnisse, wie sie im Gymnasium vermittelt werden, verfügt. Auch Fachleute werden aufgrund der Breite des Spektrums der behandelten Themen und der angegebenen Literatur Anregungen finden. Die speziell der Evolution des Menschen gewidmeten Teile sind auch für Leser, die sich weniger für Evolutionsbiologie interessieren, aufschlussreich.