Buchbesprechung | Veröffentlicht in MIZ 3/23 | Geschrieben von Gerhard Rampp

Rezension von Alois Berger: Föhrenwald, das vergessene Schtetl

Alois Berger: Föhrenwald, das vergessene Schtetl. Ein verdrängtes Kapitel deutsch-jüdischer Nach­kriegsgeschichte. München: Piper 2023, 240 Seiten, 
gebunden, Euro 24.-, ISBN 978-3-492-07106-2

Von 1945 bis 1957 war Föhrenwald bei Wolfratshausen die größte rein jüdische Stadt Europas mit zeitweise deutlich über 5000 Einwohnern. 1939 wurde sie als NS-Mustersiedlung für Arbeitskräfte in den nahegelegenen Rüstungsbetrieben erbaut. 1945 richtete die US-Militärverwaltung den Ort für „Jewish Displaced Persons“ ein, die überwiegend auf eine Ausreise nach Palästina oder die USA hofften. Daraus entwickelte sich eine selbstverwaltete Stadt mit der gesamten üblichen Infrastruktur. Sie verfügte neben den normalen Ausbildungsstätten über mehrere Synagogen für die verschiedenen jüdischen Glaubensrichtungen sowie eine Religionsschule und eine Hochschule für jüdische Theologie. Die jüdischen Bewohner konnten sich zunächst frei entfalten – bis die amerikanische Verwaltung 1951 ihre Schutzfunktion an die deutschen Be­hörden übertrug.

Der 1957 in Wolfratshausen geborene Autor der Dokumentation über das vergessene Schtetl schildert recht ausführlich und eindringlich, wie die deutschen Sicherheitsbehörden anschließend die Juden mit immer wiederkehrenden Razzien einschüchterten und so verächtlich behandelten, wie sie es in den beiden vorangegangenen Jahrzehnten gelernt hatten. 1957 wurden die letzten Bewohner genötigt wegzuziehen, um Platz für katholische „Heimatvertriebene“ aus dem Osten zu schaffen. Der Freistaat Bayern hatte dies mit der katholischen Diözese München und Freising vereinbart. Jede Erinnerung an jüdisches Leben wurde fortan ausgelöscht, die Straßen wurden umbenannt, sogar der Ort Föhrenwald hieß nun Waldram und wurde später nach Wolfratshausen eingemeindet. Die Hauptsynagoge wurde zur katholischen Kirche umgewidmet, der Davidstern abgesägt – nicht 1938 wohlgemerkt, sondern um 1958.
Dem Autor wurde dieses „kalte Pogrom“ in seiner Jugendzeit verschwiegen. „Juden kamen in diesem Leben nur am Rande vor, genauer: um Ostern. Da erinnerten die Pfarrer daran, dass es Juden waren, die vor knapp 2000 Jahren unseren Herrn Jesu ans Kreuz schlagen ließen.“ Erst später engagierte sich Alois Berger in der Erinnerungsarbeit seiner Heimatstadt. Daraus entstand schließlich dieses dokumentarische Werk. Wer das Buch liest, merkt indes bald, dass hier nur vordergründig die rabiate Verdrängung von jüdischem Leben beschrieben wird. Mehr und mehr geht es auch um jene Mischung von christlichem Überlegenheitsdünkel und ewiggestrigen, antijüdischen Denkmustern, die im katholischen Südbayern (zumindest außerhalb der Großstädte) bis in die achtziger Jahre nachwirkte und mancherorts auch junge Aiwangers produzieren konnte.
Immerhin: Als der erinnerungskulturelle Verein Bürger für Föhrenwald 2022 eine offizielle Auszeichnung für seinen Einsatz gegen Antisemitismus erhielt, zeigten sich auch die Vertreter der Stadt Wolfratshausen stolz und sparten nicht mit Anerkennung.