In den meisten industrialisierten Staaten sind die traditionellen Religion auf dem Rückzug, vor allem, wenn sie kirchlich verfasst ist. Das gilt selbst für Länder wie Irland, die noch vor nur einer Generation als bis in den letzten Winkel der Gesellschaft katholisch geprägt galten. Kann diese Entwicklung als Bestätigung der Theorien verstanden werden, die ein allmähliches Verschwinden von Religion in der Moderne prognostizieren?
Die Antwort auf diese Frage hängt wesentlich davon ab, was wir unter „Verschwinden“ genau verstehen und wie wir „Religion“ definieren. Seit dem frühen 20. Jahrhundert gibt es Versuche, Religion „funktionalistisch“ zu begreifen – also den Blick darauf zu lenken, welche Aufgaben Religion für die Gesellschaft, aber auch für die einzelnen Menschen übernimmt bzw. welche Funktionen ihr zugewiesen werden.
Was die persönliche Ebene angeht, unterliegt „Religion“ heute den Rahmenbedingungen der kapitalistischen Warengesellschaft. Als „religiös“ bezeichneten Bedürfnisse werden nicht mehr alleine von den traditionellen Religionen befriedigt, auch neue Religionen drängen auf den Markt, und selbst Anbieter ohne im engeren Sinne religiösen oder weltanschaulichen Hintergrund bieten ihre Dienste dafür an. Hier wäre die Frage, inwieweit in der Bevölkerung unterm Strich tatsächlich ein Rückgang „religiöser“ Bedürfnisse zu verzeichnen ist oder ob sich diese nur wandeln.
Feststeht allerdings: Die Kirchen haben ihre Monopolstellung verloren, sind selbst zu „Anbietern“ herabgesunken, die in Konkurrenz mit anderen Anbietern stehen. Und der „Wettbewerb“ ist hier offenbar so stark, dass die Kirchen teilweise sogar ihre Exklusivität aufgegeben, d.h. sie bieten ihre Rituale wie Dienstleistungen auch für Nicht-Mitglieder an (z.B. eine kirchliche Trauung, wenn nur ein Partner Mitglied der betreffenden Kirche ist1). Damit sinkt wiederum die Notwendigkeit, Mitglied einer Kirche zu bleiben, um bestimmte Bedürfnisse zu befriedigen. Und so nimmt die Zahl der Mitglieder in vielen europäischen Ländern, aber auch in Nordamerika rapide ab.
Aber verschwindet mit den Mitgliedern auch die Religion?
Dass eine Religion nicht zwangsläufig Mitglieder braucht, um religiöses Leben zu entfalten, verdeutlichte Günter Kehrer einmal am Beispiel der antiken römischen Religion. Dem Pontifex Maximus, so der Religionssoziologe, wäre nie eingefallen, die Menschen, die in seinem Tempel ein Opfer darbrachten, als „Mitglieder“ der von ihm repräsentierten Religion anzusehen. Die öffentliche Ehrerbietung wies der römischen Religion ihre Bedeutung zu und gewährleistete ihre Finanzierung. Eine darüber hinausgehende Bindung der Gläubigen an die Institution Religion erschien nicht notwendig.
Insbesondere unter demokratischen
Rahmenbedingungen können Mitglieder für eine Religion, vor allem aber für den Herrschaftsapparat einer Religion sogar zum Problem werden. Denn Mitglieder, die in religiösen Fragen mitreden wollen, stellen das Lehramt und damit letztlich die Hierarchie infrage (die Stellungnahmen aus dem Vatikan zum „Synodalen Weg“ in der katholischen Kirche in Deutschland legen nahe, dass dort genau diese Einschätzung vertreten wird2).
Was müssten die Kirchen unternehmen, um sich auf eine Zukunft ohne Mitglieder einzustellen?
Sie müssten wohl zunächst ihre gesellschaftliche Rolle neu definieren. Lange haben sich die beiden großen christlichen Kirchen darauf berufen, dass sie die Mehrheit der Bevölkerung repräsentieren und deshalb bei jeder nur erdenklichen Frage Gehör finden müssen. Nachdem mittlerweile die Konfessionslosen die größte Bevölkerungsgruppe bilden, sind zunehmend andere Argumentationen zu hören, warum die Kirchen an gesellschaftlichen Entscheidungen beteiligt werden sollen: Sie berufen sich auf die vermeintliche christliche Prägung unserer Kultur, auf die besondere Qualität ihrer Argumente usw. In der Tendenz lässt sich feststellen, dass die Kirchen sich heute stärker als Trägerinnen von Kultur und Werten, denn als Trägerinnen von Religion darstellen.
Die Voraussetzungen, diesen Wandel erfolgreich hinzukriegen, sind gar nicht so schlecht. Die Kirchen verfügen über einen enormen Besitzstand: materiell, personell und politisch. Allein ihr Vermögen und ihr Immobilienbesitz verschaffen ihnen einen Puffer für Um
bruchszeiten. Die Einrichtungen in kirchlicher Trägerschaft stellen ein weiteres Faustpfand dar, mit dem vor allem klamme Kommunen erpresst werden
können. Dazu kommt eine große Zahl gut ausgebildeter Funktionäre, ein beeindruckendes Lobbynetzwerk...
Wie eine Bank, wenn sie als „systemrelevant“ eingeschätzt wird, fortgesetzt versagen kann und von der Gesellschaft trotzdem immer wieder „gerettet“ wird,
dürften auch die Kirchen jenen Zustand erreicht haben, der ihnen eine Existenz auch ohne Mitglieder, aber mit öffentlicher Finanzierung garantiert: Sie sind too big to fail.
Der Islam übrigens kennt ursprünglich auch keine Mitgliedschaft in einer Religionskörperschaft (die Gläubigen sind in der umma vereint). Vielleicht ergibt sich daraus eine völlig neue Perspektive auf die anhaltenden Bemühungen, „den Islam“ in Deutsch
land mit einer öffentlichen Finanzierung auszustatten. Denn die Kirchen, insbesondere die evangelische, waren seit Ende der 1990er Jahre intensiv daran beteiligt, nach Möglichkeiten zu suchen, wie die Islamverbände (die nur etwa 10-20% der in Deutschland lebenden Muslime vertreten) staatlich alimentiert werden könnten. Ein Schelm wer an einen Testballon für die eigenen Zukunft denkt...
Anmerkungen
1 Die Bemühungen, den dogmatischen Anspruch aufrechtzuerhalten und trotzdem im Geschäft zu bleiben, nimmt dabei teilweise satirische Züge an: „War der Partner einst Mitglied der katholischen Kirche – und jetzt nicht mehr –, liegt ein Trauverbot vor. Doch keine Sorge, das ist kein Hindernis, sondern eine formale Angelegenheit.“ – https://www.katholisch.de/artikel/24223-einer-katholisch-der-andere-nicht-so-klappt-die-kirchliche-trauung (Zugriff 2.8.2023)
2 „Synodalität ist nicht dasselbe wie Demokratie“, https://www.vaticannews.va/de/kirche/news/2018-05/menke-dogmatiker-synodalitaet-interview-kommunion-protestanten.html (Zugriff 7.8.2023)