Prisma | Veröffentlicht in MIZ 1/22 | Geschrieben von Herbert Thomsen

Die Spaziergänge der Anthroposophen, Evangelikalen und Reichsbürger

Querdenker*innen sind keineswegs in den Jahren 2020 und 2021 aus dem Nichts entstanden und haben sich auf den Straßen zufällig mit Reichsbürgern und Rechtsradikalen zu Demonstrationen und Spaziergängen getroffen. Eine wesentliche weltanschauliche Wurzel der Querdenker ist das Milieu der Anhänger der Anthroposophie, einer von Rudolf Steiner ins Leben gerufenen religiösen esoterischen Lehre. Der Kern dieser anthroposophisch religiösen Bewegung sind die Anthroposophischen Institute, die „Christengemeinschaft“ und die der „Waldorfpädagogik“ zuzurechnenden Schulen und Kindergärten. Die „Christengemeinschaft“ hat in der Bundesrepublik ca. 10.000 Mitglieder und 50.000 „Freunde“ in 140 Gemeinden. In der Anthroposophie ist eine Ablehnung von Impfungen tief verwurzelt.

In Bremen gibt es ein Anthropo­so­phisches Institut, die „Christen­gemein­schaft“ mit ihrer Michael Kirche, vier Waldorfschulen und acht Kindergartengruppen. In diesen Einrichtungen gibt es eine enge An­lehnung an die Thesen von Rudolf Steiner und in einigen Fällen auch erhebliche personelle Überschneidungen. Veranstaltungen der Bremer Chris­tengemeinschaft finden überwiegend im Anthroposophischen Institut statt.

Eine Kostprobe der ideologischen Verbundenheit mit den Querdenkern und dem „Neuen Krefelder Appell“ der Querdenkerbewegung lässt sich aus dem neuesten Gemeindebrief der Michael Gemeinde der Christengemeinschaft erkennen. Die drei Prediger*innen der Christengemeinschaft verfassten den Text gemeinsam. Es ist also keine exotische Einzelmeinung, was in der Einleitung zum Gemeindebrief Michael-Kirche der Christengemeinschaft in Bremen, im Winter 2021/22, zu lesen ist.

„Liebe Gemeinde,
ein Blick in die Gegenwart. – Vor hundert Jahren hat Rudolf Steiner immer wieder beklagt, dass seine Zeitgenossen einen zu bequemen Blick in die Zeit pflegen, weil sie die volle Wucht des Niedergangs nicht ertragen. – Wer verstehen möchte, was die Mächtigen dieser Welt mit dem Globus vorhaben, kann derzeit das programmatische Buch Covid-19 The Great Reset von Klaus Schwab, dem Gründer und Leiter des Weltwirtschaftsforums (Davos), lesen. Das Buch beschreibt eine Zukunft, wie sie die Mächtigen herbeiführen wollen. Diese Zukunft wird lange vorbereitet und hat schon begonnen. [...]

Sie gehören in den Entwicklungsgang der Welt hinein. Darauf komme ich, weil die Apokalypse solche Prophezeiungen enthält und auch Rudolf Steiner solches vorhersagt. Also vergeude ich meine Kräfte nicht unnötig, um dies zu verhindern. Ich erkenne es als eine vom Fürsten dieser Welt ausgehende Prüfung der Menschheit an. Wir Christen sind ja gewissermaßen grundsätzlich Verschwörungstheoretiker […] Gemäß Epheser 6 kämpfen wir nicht gegen Menschen, sondern wir wissen hinter den Menschen geistige, satanische Inspiratoren [...]

Klaus Schwab schreibt in blasphemischer Hybris, man werde eine neue Zeitrechnung schreiben: BC und AC. Was bisher before christ und after christ bedeutete, werde künftig before corona und after corona bedeuten. Wir sollten diese Hybris nicht bequem nehmen, sondern mit allem Ernst damit rechnen, dass die Mächtigen dieser Welt genau dies in die Tat umzusetzen im Begriffe sind.“

Im Querdenkeraufruf „Neuer Krefelder Appell“ findet sich zu diesem Thema folgende Passage:

„Eine noch größere Gefahr geht von der ‘Impf’-Kampagne aus – für Milli­arden Menschen. Dahinter steht die Strategie des ‘Great Reset’ des Forums der Superreichen, das sich ‘Welt­wirtschaftsforum’ nennt, mit dem der Kapitalismus über einen gezielten Zusammenbruch und einen ‘Neustart’ auf eine noch perversere Stufe gehoben werden soll“

Die Geistesverwandtschaft ist offensichtlich.

Der „Neue Krefelder Appell“ ist ein flacher Versuch, eine Querfront aus verschiedenen politischen Spektren zu begründen, die sich hinter die gemeinsame Ablehnung zur Impflicht versammeln können. Mit dabei sind Aktivisten der Querdenkerbewegung wie Michael Ballweg, Anselm Lenz oder Wolfgang Wodarg, einige zumeist isolierte Überbleibsel der Friedensbewegung der 1980er Jahre bis hin zu Evangelikalen und dem Familienclan Özoğuz, der für ein weltweites schiitisches Kalifat kämpft (Muslim Markt / Offenkundiges). Ein wesentlicher Teil der Unterstützer*innen entstammt dem Umfeld und dem Aktivistenkreis der Partei Die Basis. Diese Partei ist die bisher erfolgreichste, in der die Grundprinzipien der Anthroposophie fest verankert sind.

Die Michael Gemeinde ist in Bremen anerkannte Körperschaft des 
öffentlichen Rechts, eine privilegier­te Stellung, die auch die beiden Groß­kirchen genießen. Die Waldorf­schulen und die Kindergärten werden als staatlich anerkannte Privatschule bzw. Privatkindergärten aus Steuermitteln finanziert. Damit findet eine staatliche Förderung einer Sektierergruppierung statt, deren Mitglieder keinerlei Hemmungen haben, mit Rechts­radi­kalen, Reichs­bürgern oder Identi­tären auf die Straße zu gehen.

Im Bremer Stadtgebiet sind Demon­strationen und „Spaziergänge“ der Querdenker*innen oftmals schon in 
der Entstehung von Polizei und vor 
allem der örtlichen Antifa geblockt worden. Tatsächliche Kund­gebun­gen 
mit Redebeiträgen sind für die Querdenker unmöglich. Somit finden die „Spaziergänge“ vor allem im Bremer Umland statt. Hier gibt sich auch eine organisatorische Ver­brüderung mit dem evangelikalen Spektrum. Jüngstes Beispiel sind die in Verden, bei Bremen, durchgeführten Querdenkerkundgebungen. Häufiger Redner ist Johann Hesse, hauptberufliche Prediger und Geschäftsführer des evangelikalen „Gemeindehilfsbundes“ mit Sitz in Walsrode. Er moderiert auch bei Bibel TV, mobilisiert zu den „Märschen für das Leben“ nach Berlin und wettert gegen Impflicht und jegliche Schutzmaßnahmen gegen Corona. Vater Carl Christian Hesse kandidierte schon auf Wahllisten der AfD.

Auf dem Youtube-Kanal der Mar­tinigemeinde des berüchtigten Pastors 
Olaf Latzel ist auch der Eröff­nungs­beitrag von Johann Hesse zu den Bi­beltagen am 7 März diesen Jahres in Bremen zu sehen. Hesse hat auch schon in den vergangenen Jahren wiederholt in der Martinigemeinde gepredigt. Diesem Spektrum ist auch ein kürzlich veröffentlichter Aufruf von 130, überwiegend evangelikalen, Predigern gegen die Impflicht zuzurechnen.

Anthroposophen, Evangelikale und 
Islamisten eint der Glaube an die große Verschwörungstheorie, an die Schöp­fung und der Glaube an Gott. Bei den Corona-Spaziergängen sind sie vereint mit anderen Ver­schwö­rungs­theoretikern des „Great Reset“ oder Nationalisten und Rassisten im Glauben an die Überlegenheit der (jeweils) eigenen Nation und/oder Rasse. Gemeinsam ist ihnen die Un­fähigkeit, sich einer wissenschaftlichen Betrachtung der Welt zu stellen und daher klammern sie sich an ihre jeweilige, alte Erzählung.