Das Urteil über die Verfassungswidrigkeit des § 217 StGB hat den Rechtszustand von vor November 2015 wiederhergestellt, der seit Jahrzehnten Bestand hatte und erst dann Anlass zu Unruhe gab, als im Zuge der demografischen Veränderungen auch in Deutschland die Wünsche nach Selbstbestimmung am Lebensende lauter wurden und sich Sterbehilfeorganisationen anboten, diese zu erfüllen. Statt in diesen Wünschen ein legitimes Bedürfnis zu sehen, dem das deutsche Medizin- und Versorgungssystem nur unzureichend gerecht wurde, waren die führenden konservativen Kräfte von Anfang an bemüht, diese Wünsche als entweder „angebotsinduziert“ – als Opfer der Verführung der Sterbehilfeorganisationen – darzustellen oder zu pathologisieren. Da mit dem § 217 auch das Verbot der Sterbehilfeorganisationen aufgehoben ist, konzentrieren sich die Bemühungen von dieser Seite gegenwärtig auf die letztere Strategie, ungeachtet der wissenschaftlichen Belege dafür, dass die Sterbewünsche Schwerkranker und Hochbetagter mit denen von Menschen mit einer klinischen Depression oder in einer akuten psychischen Krise in der Regel nur wenig gemeinsam haben. Nicht verwunderlich insofern, dass die seit März dieses Jahres wiederaufgenommene Tätigkeit der deutschen Sterbehilfeorganisation keineswegs zu der befürchteten zahlenmäßigen Explosion der Fälle von Freitodbegleitung geführt hat. Nach bestem Wissen geschätzt halten sie sich im zweistelligen Bereich. In allen Fällen ist ein polizeiliches Ermittlungsverfahren entweder nicht aufgenommen oder nach kurzer Prüfung eingestellt worden.
Auch für Bundesgesundheitsminister Jens Spahn ist der politische Spielraum mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts eng geworden. Allerdings lässt er keinen Zweifel daran, dass er über das Urteil „not amused“ ist. Seine Treue zum ethischen Vorrang des Lebensschutzes vor der Selbstbestimmung zeigte er vor allem in zwei Aktionen, mit denen er bei vielen Menschen, die sich die Aussicht auf Sterbehilfe in Deutschland erhalten wollen, für Enttäuschung gesorgt hat. Die eine ist die Aufrechterhaltung der Weisung an das seinem Ministerium unterstellte Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM), Gesuche um Zugang zu dem in der Schweiz bewährten oral einnehmbaren tödlichen Mittel Natriumpentobarbital ausnahmslos abzulehnen – entgegen dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom März 2017, nach dem schwer und unheilbar Kranken in einer extremen Notlage die Erlaubnis zum Erwerb eines letal wirkenden Medikamentes nicht versagt werden dürfe. Dass es Minister Spahn nicht schreckt, mit dieser Kompetenzüberschreitung sogar das Prinzip der Gewaltenteilung in Frage zu stellen, zeigt, wie ernst es ihm mit der politischen Durchsetzung seiner persönlichen Ethik ist – die freilich nur von einer Minderheit der Bevölkerung geteilt wird. Die Begründung für diesen Schritt, dass es nicht Aufgabe des Staates sein könne, die Absicht zur Selbsttötung aktiv zu unterstützen, ist allerdings selbst auf der Grundlage einer Priorisierung des Lebensschutzes vor der Selbstbestimmung schief. Die Ermöglichung einer Selbsttötung ist nicht dasselbe wie eine aktive Unterstützung, solange die Aktivität, wie im Fall der Findung eines Sterbehelfers und der Beschaffung eines tödlichen Mittels, wesentlich beim Sterbewilligen verbleibt.
Die zweite Aktion ist ein Schreiben vom 15. April 2020, in dem er zu einem „konstruktiven Dialog“ einlädt, dieses aber mit ganz wenigen Ausnahmen ausschließlich an Verbände und Sachverständige richtete, die den verfassungswidrigen § 217 unterstützt oder sogar gefordert hatten. Weder eine der humanistischen Vereinigungen, die den § 217 StGB von Anfang an als verfassungswidrig kritisiert haben, noch eine Sterbehilfeorganisation oder die Deutsche Gesellschaft für Humanes Sterben, die sich seit Jahrzehnten für eine Liberalisierung der Sterbehilfe einsetzt, wurden berücksichtigt. In der Antwort der Bundesregierung auf eine diesbezügliche Kleine Anfrage der FDP-Abgeordneten Kathrin Helling-Plahr vom 3.8.2020 hieß es dazu lediglich, dass das Bundesministerium für Gesundheit (BMG) Stellungnahmen bei Verbänden eingeholt habe, „die bereits im Austausch mit dem BMG standen“. Man hätte allerdings von der ministeriellen Ankündigung, er werde „jetzt mit allen Beteiligten zu sprechen, um eine verfassungsgerechte Lösung zu finden“ erwarten können, dass es nicht nur das Sprechen über die an der Suizidassistenz erfahrenen Verbänden, sondern auch das Sprechen mit ihnen umfasst.
Beide Aktionen mussten den Eindruck bestätigen, die Suizidhilfe werde von der Regierung wie ein Schmuddelkind behandelt, an dem man sich möglichst nicht die Hände schmutzig macht. Skandalös war aber nicht nur die Handverlesenheit des Adressatenkreises, sondern auch die Hartnäckigkeit, mit der die Vorstände einiger der angeschriebenen Verbände in ihren Stellungnahmen ausgesprochen restriktive Vorschläge zu einer Neuregelung der Suizidhilfe machten, ohne sich dabei um das Meinungsbild unter ihren – überwiegend deutlich liberaler eingestellten – Mitgliedern zu kümmern. Während ansonsten seit längerem ein populistischer Politikstil üblich geworden ist, bei dem sich die Führungsebenen primär als Dienstleister verstehen und nur wenig Bedenken haben, noch die unnachhaltigsten Bedürfnisse ihrer Klienten zu bedienen, scheinen sie in Fragen der Sterbehilfe erneut Geschmack am Paternalismus gefunden zu haben.
Neben den 22 angeforderten sind weitere 30 Stellungnahmen unaufgefordert übersandt worden. Einige der Einsender, etwa die Giordano-Bruno-Stiftung, hat von dem Einladungsschreiben erst über Umwege und in den ersten Junitagen erfahren, so dass ihre Stellungnahme wortwörtlich in Nachtarbeit verfasst werden musste, um sie innerhalb der eng bemessenen Frist einreichen zu können.
Trotz des engen Spielraums für verfassungskonforme Lösungen verlaufen zwischen den in den Stellungnahmen gemachten Vorschlägen ideologische Gräben. Es erscheint wenig wahrscheinlich, dass es in dieser Legislaturperiode bei dem angestrebten „legislativen Schutzkonzept“ zu einer Einigung kommt. Das ist allerdings gut so. Der gesetzgeberische Aktivismus, wie ihn der Bundestag 2015 mit der Einführung des § 217 StGB bewiesen hat, sollte sich nicht wiederholen.