Religionswissenschaft könnte im Idealfall leisten, wozu Theologie aufgrund ihrer Bindung an die Religionsgesellschaften nicht in der Lage ist: eine unvoreingenommene Untersuchung von Glaubensphänomenen, die auch die Schattenseiten von Religion nicht ausklammert. Die Realität in Deutschland sah seit jeher anders aus. Zahlreiche religionswissenschaftliche Lehrstühle sind innerhalb theologischer Fachbereiche angesiedelt; teilweise hat dies sogar zur Folge, dass Bewerber für einen Lehrstuhl die richtige Konfession mitbringen müssen. Hier weisen die Empfehlungen des Wissenschaftsrates in die richtige Richtung, wenn angeregt wird, „die Religionswissenschaft ... aus ihren institutionellen Abhängigkeiten von den christlichen Theologien“ zu lösen.
Die Arbeitsgruppe war sich jedoch bewusst, dass der Gestaltungsspielraum bei Veränderungen des wissenschaftlichen Feldes „Theologien und religionsbezogenen Wissenschaften“ durch das Staatskirchenrecht begrenzt ist. Dieses, so ist zu lesen, setze „Strukturplanungen für theologische Fakultäten bzw. Institute ... klare Grenzen“ und sämtliche Empfehlungen zielten auf Struktur veränderungen innerhalb dieses Rahmens. Dass im Wissenschaftsrat aufgrund dieser grundlegenden Konstellation Konfliktpotential gesehen wird, ist zwischen den Zeilen deutlich zu lesen, wird aber nur an einer Stelle ausgesprochen, wenn nämlich die „dringende Bitte insbesondere an die Katholische Kirche“ ergeht, „sich aus dem Habilitationsverfahren zurückzuziehen“.
Grundsätzlich richten sich die Vorschläge jedoch in erster Linie an die Hochschulen sowie die Bundesländer. Doch die Politik legt bislang keine allzu große Eile an den Tag, wenn es darum geht, die empfohlene Einrichtung eigenständiger religionswissenschaftlicher Studiengänge zu unterstützen.
Islamische Theologie
Ganz anders sieht es aus, wenn wir die andere Empfehlung des Wissenschaftsrates ins Auge fassen, „an zwei bis drei staatlichen Universitäten ... institutionell starke Einheiten für Islamische Studien aufzubauen. Diese sollten Zentren islamisch-theologischer Forschung werden und eine zentrale Rolle bei der Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses in Islamischen Studien spielen. Zugleich übernehmen sie die Aufgabe, islamische Religionslehrer und -lehrerinnen auszubilden, und ermöglichen darüber hinaus eine wissenschaftlich fundierte Ausbildung von Religionsgelehrten im staatlichen Hochschulsystem.“ Da alles im Rahmen des bestehenden Religionsverfassungsrechts – also analog zur katholischen und evangelischen Theologie – organisiert werden muss, sollen die muslimischen Glaubensgemeinschaften über Beiräte bei der „Berufung von Professoren und Professorinnen sowie bei der inhaltlichen Ausgestaltung des Lehrangebots mitwirken“.
Ziemlich schnell waren die vier Standorte festgelegt, an denen Insti tute eingerichtet werden sollten: Tü bingen, Münster, Erlangen/Nürnberg sowie Gießen/Frankfurt. Die Anschubfinanzierung für die ersten fünf Jahre erfolgte über Bundesmittel und betrug immerhin 20 Millionen Euro; danach werden die Länder und Stiftungen dafür aufkommen.
Das Beispiel Frankfurt/Main
Dass hier relativ schnell Nägel mit Köpfen gemacht wurden, könnte auch daran liegen, dass man mancherorts bereits jahrelang auf dieses Ziel hingearbeitet und entsprechende Strukturen geschaffen hatte. Am Beispiel des Studiengangs Vergleichende Religionswissenschaft und -geschichte der Goethe-Universität Frankfurt am Main, die mit je einer Professur der evangelischen bzw. der katholischen Theologie angegliedert ist, lässt sich dies zeigen. Hier wurden bis weit in die 1990er Jahre hinein Seminare zu den verschiedensten Religionen angeboten, vor allem zu Buddhismus und Hinduismus. Ab 1997 – zu einem Zeitpunkt, als die Kirchen nach langer Ablehnung gerade auf die Position einschwenkten, dass an öffentlichen Schulen auch Islamunterricht angeboten werden müsse – wurden dann über die Religionswissenschaft Kontakte zu muslimischen Gemeinschaften geknüpft und Dialogprojekte initiiert. Ansprechpartner war zunächst die Islamische Religionsgemeinschaft Hessen (IRH). Deren erster Vorsitzender Amir Zaidan verfasste 1998 die sog. Kamelfatwa, die muslimischen Mädchen verbot, auf Klassenfahrt zu gehen. Im gleichen Jahr hielt Zaidan sein erstes Seminar mit Jürgen Micksch vom Interkulturellen Rat und durfte noch bis 2003 Seminare an der Universität geben.
Schließlich ging man im Jahr 2003 auf ein Angebot der türkischen Religionsbehörde (Ditib/Diyanet) ein und am Fachbereich Evangelische Theologie wurde eine Stiftungsgastprofessur für Islamische Religion etabliert, fi nanziert von der Religionsbehörde. Als 2005 eine zweite Stiftungsprofessur eingerichtet wurde, titelte der UniReport „Religionswissenschaft gestärkt“. Viele Student_innen der Reli gionswissenschaft sahen hier jedoch keine Stärkung, sondern befürchteten eine Einengung und Ausrichtung der Themen vor allem auf den Islam. Als im Jahr darauf eine der Professuren für Religionswissenschaft neu besetzt werden sollte, gehörte zu den Anforderungen neben der Zugehörigkeit zur evangelischen Kirche (die Professur ist Teil der evangelischen Theologie) auch – und das war neu – ein Nachweis über einen Arbeitsschwerpunkt Islam.
Der Teilstudiengang Islamische Religion zog im Jahr 2009 an den Fachbereich Sprach- und Kulturwissenschaften und wurde zum Institut für Studien und Kultur der Religion des Islam. Als im Wintersemester 2010/11 ein BA-Studiengang „Islamische Studien“ eingerichtet wurde, ließ die Universität verlauten, dieser verstehe „sich im Sinne der Empfehlungen des Wissenschaftsrats vom 29.1.2010 als eine islambezogene Disziplin, die die Islamische Theologie mit allgemeinen geistes-, kultur- und sozialwissenschaftlichen Disziplinen verbindet“.1
Seit 2013 agiert das Institut unter dem Dach des Zentrums Islamische Studien. Gemeinsam mit der Universität Gießen ist Frankfurt nun für die Ausbildung von Religionslehrkräften zuständig. Insgesamt fünf Professuren stehen der Islamischen Theologie zur Verfügung. Von einer Stärkung der Religionswissenschaft kann beim besten Willen nicht gesprochen werden.
Hintergründe
Dass die Islamische Theologie so üppig ausgestattet wird, wird im Zusammenhang der Integrationsdebatte in Deutschland verständlich. Die Einrichtung eines Islam-Unterrichts an staatlichen Schulen wird seit rund 15 Jahren als Maßnahme zur Integration Zugewanderter dargestellt, die (nicht zuletzt aufgrund der Lobbyarbeit der Religionsgesellschaften) heute meist nur noch als Muslime wahrgenommen werden. Hinzu kommen sicherheitspolitische Überlegungen nach dem Motto „Gewaltprävention durch religiöse Bildung“. Dabei folgt man der Idee, dass Religion nur dann in Gewalt gipfeln könne, wenn sie missverstanden oder eben falsch gelehrt werde. Ein solides Studium der Religion und ein solider Islamunterricht an den Schulen sollen über Religion aufklären und so einer Radikalisierung junger Muslime vorbeugen.
Obwohl es fraglich erscheint, ob die se Annahme überhaupt richtig ist, wird die Universität dafür funktionalisiert, Theologen und Religionslehrer auszubilden und letztlich Kinder auf eine Religion zu prägen. Dass durch die Segregation der Schülerinnen und Schüler nach ihrer Religionszugehörigkeit nicht das Gemeinsame, sondern das Trennende betont wird, kommt dabei ebensowenig in den Blick wie die Möglichkeit, dass fundamentalistisch eingestellte Eltern, ihre Kinder vom staatlichen (in ihren Augen westlich manipulierten) Religionsunterricht abmelden oder zusätzlich in eine ihnen passend erscheinende „Koranschule“ schicken könnten.
Die Privilegien der christlichen Kir chen werden mit fragwürdigen Argumenten sukzessive auf „den Islam“ bzw. die konservativen Verbände, die für sich in Anspruch nehmen, diesen zu repräsentieren, ausgeweitet. Die doppelte Forderung des Wissenschaftsrates, Islamische Theologie einzurichten und zugleich mit der Religionswissenschaft eine unabhängige Beschäftigung mit Religion zu stärken, bleibt unerfüllt. Die Folgen dieser völlig einseitig an den Bedürfnissen von Sicherheitspolitikern und den Interessen der Religionsgesellschaften ausgerichteten Neugestaltung des wissenschaftlichen Feldes „Theologien und religionsbezogenen Wissenschaften“, liegen auf der Hand. In einer Religionswissenschaft, die strukturell im Einflussbereich der Theologie verbleibt, dominiert ein Wissenschaftsverständnis, das Kritik als Verletzung wissenschaftlicher Objektivität begreift. Dementsprechend finden sich in der Religionswissenschaft derzeit nur wenige Stimmen, die mit kritischer Distanz untersuchen, wo Zusammenhänge zwischen religiösen Auffassungen und der Verletzung von Grund- und Menschenrechten bestehen. Doch wer den kritischen Zugang zum Untersuchungsgegenstand geringschätzt, kann sich nicht auf Objektivität berufen. Im Gegenteil: Eine Religionswissenschaft, die sich allein auf die positive Religionsfreiheit beruft, läuft Gefahr sich zur Apologetin selbst fundamentalistischer Strömungen zu machen.
Anmerkung
1 http://www.uni-frankfurt.de/35791047 (Zugriff: 7.4.2015)