Allgemeines | Veröffentlicht in MIZ 4/21 | Geschrieben von Gunnar Schedel

Über Menschen

Wer eine Sprache lernt, einen Sport betreibt oder ein Instrument spielt, kennt das Gefühl: Besser zu werden gehört für die meisten Menschen zu den Grundbedürfnissen. Und wenn das Talent trotz allen Übens nicht weiter führt als zu Etüden, Kreismeisterschaft und Smalltalk, entsteht bei vielen der Wunsch, die Unzulänglichkeit des menschlichen Körpers und Geistes zu überwinden.

Zahlreiche solcher Defizite hat die Menschheit in den vergangenen Jahr­hunderten behoben, immer im Rahmen der damaligen technologischen Mög­lichkeiten: Das Fernglas ließ uns in die Ferne blicken, der Heißluftballon erfüllte den Traum vom Fliegen, Penicillin bügelte die Schwä­chen unseres Immunsystems aus. Vor allem in der Medizin sind die Ergebnisse naturwissenschaftlicher Forschung, die in den Menschen „eingebaut“ werden (ob künstliches Hüftgelenk oder Herzschrittmacher), nicht mehr wegzudenken. Und Gentechnik und Künstliche Intelligenz eröffnen für die Zukunft noch viel weitergehende Möglichkeiten, physiologische oder neurologische Schäden zu beheben.

Ein Mensch mit Herzschrittmacher ist sicherlich noch ein Mensch. Oder? Mit einem Cochlea-Implantat (das Gehörlosen mit intaktem Hörnerv ermöglicht zu hören) wohl auch. Oder? Es wird ja nur künstlich hergestellt, was ein Mensch im Normalfall hat (einen regelmäßigen Herzschlag) oder kann (hören). Und wie wäre es, wenn es gelänge, eine Gehörprothese zu implantieren, deren Frequenzbereich bis 50.000 Hertz reicht (bis etwa dahin können Hunde hören)? Wo liegt die Grenze, an der wir etwas qualitativ Neues annehmen würden, an dem ein Mensch das Menschsein überschreitet?

Mitte des 20. Jahrhunderts entstand die Idee des Transhumanismus. Angesichts wachsender technischer Möglichkeiten erschien es nicht mehr völlig utopisch, einen neuen Menschen zu „schaffen“, der über die uns natürlich gegebenen Möglichkeiten hinausragt. Der Transhumanismus knüpft zunächst an den Humanismus an, stellt den Menschen ins Zentrum seiner Überlegungen, bekennt sich zu Vernunft und Wissenschaft. Doch er findet sich mit der Beschränktheit unserer Existenz, mit körperlichen Gebrechen und intellektuellen Grenzen nicht ab: Der Mensch soll in seinen körperlichen und geistigen Fähigkeiten „verbessert“ werden.

Das klingt, als könne dadurch vielleicht die „Ungerechtigkeit“ der Natur ausgeglichen werden. Wem die Natur etwas vorenthalten hat (z.B. musikalische Begabung), dem (oder der) wird menschengemachter Ersatz bereitgestellt. Und je weiter Hirnforschung und Genanalyse voranschreiten, desto wahrscheinlicher wird es, dass dies kein utopisches Versprechen bleibt, sondern dass eines nicht allzu fernen Tages bekannt sein wird, was ein entsprechender Chip können muss, der dann ins Gehirn transplantiert wird. Wäre das dann der letzte Schritt in der menschlichen Emanzipation von der Natur?

Oder vernachlässigen die transhumanistischen Zukunftsvisionen, dass 
es hier eher um persönliche Ver­voll­kommnung als um kollektiven Fortschritt geht? Wer sich zum Jahres­wechsel die weltweiten Corona-Impf­quoten angesehen hat, musste feststellen, dass es ungeheure Unterschiede gibt. Einige Länder in Afrika wiesen eine Impfrate von unter 10% auf. Wenn schon die Verteilung eines vergleichsweise billigen Impfstoffes so ungleich verläuft, was wäre für High-Tech-Anwendungen zu erwarten? Sprechen wir wirklich über eine Verbesserung der Lebenssituation für potentiell alle Menschen auf dem Erdball? Oder geht es nur um Zeitvertreib für Superreiche (wie etwa Weltraumausflüge)?

Daran schließen sich weitere Fragen an: Wenn es darum geht, eine Techno­logie zum Nutzen der Menschheit einzusetzen, sollte die Forschung dann darauf konzentriert werden, mas­senkompatible Anwendungen zu erschaffen oder die technologische Ent­wicklung voranzutreiben? Um beim Beispiel des Hör-Implantats zu bleiben: Standardimplantate für möglichst viele Gehörlose oder ein Implantat, das das Erlebnis ermöglicht zu hören, was Fledermäuse hören. Ressourcen sind nun mal begrenzt. Was wäre die transhumanistische Antwort? Was die humanistische? Sind die identisch?

Es lassen sich aber auch grundsätzlichere Fragen stellen: Was wird als defizitär angesehen? An welchen Leitbildern von Mensch orientieren wir uns? Die Gefahr, dass in einer kapitalistischen Welt, in der alle Menschen in Konkurrenz zueinander gestellt sind, „Enhancement“ verstanden wird als Anpassung an die Anfordernisse eben dieser Konkurrenz, ist nicht von der Hand zu weisen. Die Emanzipation von der Natur führt dann nicht weiter als zur Selbstoptimierung für den Markt, die alles andere als selbstbestimmt wäre. Von medial vermittelten Bildern von Schönheit und Normalität ganz zu schweigen. Wenn sich Transhumanismus als Utopie für die Menschheit versteht, müssen die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen mitberücksichtigt werden, um zu einer realistischen Einschätzung der Folgen zu kommen.

Schließlich stellt sich die Frage nach dem Fundament des Humanismus: Wann ist der Mensch noch ein Mensch? Und was heißt es für unser Selbstbild, dass es wahrscheinlich in absehbarer Zeit Künstliche Intelligenz mit Bewusstsein geben könnte? Es ist nicht notwendig, sich auf mehr oder weniger religiös geprägte Vorstellungen von Gottesebenbildlichkeit oder Men­schenwürde zu berufen, um hier Dis­kussionsbedarf zu haben.

Ein Schwerpunkt in einer Viertel­jahreszeitschrift kann nicht beanspruchen, diese Fragen erschöpfend zu beantworten, und so bemühen sich unsere Beiträge um einen Problemaufriss: Was ist Transhumanismus überhaupt? Welche Konzeptionen sind realistisch, welche spekulativ und welche pure Science-Fiction? Was bedeuten transhumanistische Vorstellungen für unser Selbstbild? Wo passen humanistische und transhumanistische Ideen zusammen und wo kollidieren sie miteinander? Haben wir es mit einer Zukunftsvision zu tun oder mit einer intellektuellen Sackgasse?