Allgemeines | Veröffentlicht in MIZ 3/22 | Geschrieben von Gunnar Schedel

Warten auf den Bachmann

Ein Schriftsteller ist immer ein „weiches Ziel“. Dass Salman Rushdie jahrzehntelang davor bewahrt werden konnte, Opfer eines Anschlags zu werden, war der Symbolkraft seines Schicksals geschuldet und wurde mit enormem Aufwand erreicht. Die Erwartung, dass ein solcher Schutz jedem bedrohten Autor, jeder gefährdeten Frauenrechtlerin zuteil werden könnte, ist unrealistisch – selbst wenn die Menschenrechte das politische Handeln deutlich stärker prägen würden, als sie dies derzeit tun.

Das Leben im Versteck, unter permanentem Personenschutz hatte Rushdie ohnehin viel von seiner Menschlichkeit genommen, hatte ihn zu einer „Figur“ gemacht, einer Stimme aus dem Irgendwo. Für einen Autor, der für Humanität kämpft, muss das eine bedrückende Situation sein, seinem Publikum nicht mehr auf Augenhöhe begegnen zu können. Aber immerhin konnte sich Salman Rushdie in den langen Jahren wohl einigermaßen sicher fühlen und er hatte die Möglichkeit, weiterhin zu publizieren. Anderen bleibt nur die Alternative, das volle Risiko auf sich zu nehmen oder zu verstummen.

Dass es Salman Rushdie ausgerechnet getroffen hat, als er in einem gut gefüllten Saal über Meinungsfreiheit und den Schutz verfolgter Literat:innen sprach, ist in gewisser Weise tragisch, aber zugleich bezeichnend für eine Situation, aus der es keinen einfachen Ausweg gibt. Schriftsteller sind, sobald sie mit dem Publikum in Kontakt treten, „weiche Ziele“; schwer zu schützen, wenn Offenheit nicht gegen eine Atmosphäre Distanz schaffender Einschüchterung eingetauscht werden soll. Und Rushdie ist seit 1989 die Zielperson für die religiöse Rechte. Seine Respektlosigkeit gegenüber Tra­ditionen und sein klares Bekenntnis zur universalistischen Gültigkeit der Menschenrechte zogen den Hass nicht nur iranischer Mullahs auf sich.

Es war wohl ein „Einzeltäter“, wie es auch bei von rassistischen Rechten verübten Anschlägen immer wieder zu hören ist. Und das Studium von Browserverläufen soll nun erklären, warum der junge Mann auf den Dichter eingestochen hat. Tatsächlich aber ist dieser Anschlag wie die Ermordung des Lehrers Samuel Paty, das Massaker in den Redaktionsräumen der Satire-Zeitschrift Charlie Hebdo und die vielen alltäglichen Übergriffe, bei denen es keine Toten gibt und die nicht den Weg in die Medien finden, Ausdruck einer gesellschaftlichen Zuspitzung, die von der religiösen Rechten und ihren akademischen Wegbereiter:innen betrieben wird und die staatliche Stellen mittlerweile nach Kräften unterstützen.

Unter dem Deckmantel der „Anti-Diskriminierung“ feiern zutiefst ambivalente Begriffe wie „Respekt“ ihre Wiederauferstehung, wird die Analyse komplexer Herrschaftsverhältnissen durch eindimensionale Schuldzuwei­sungen ersetzt und eine Homogenität bestimmter communities vorausgesetzt, deren Annahme gefährlich ist für jede Form von Abweichung.

Salman Rushdie ist ein solcher „Ab­weichler“. Als Kind indischer Muslime (oder muslimischer Inder?) nahm er sich das Recht, nicht auf Traditionen zu achten und mit religiösen Textstellen ironisch umzugehen. Dass dies im Iran unter der Gefolgschaft des Regimes als Angriff auf „die“ Muslime wahrgenommen wird, ist nachvollziehbar. Aber Rushdie musste erfahren, dass auch viele im „freien Westen“ die Schuld eher bei ihm sahen. Er hatte schließlich „angefangen“ und einen Roman geschrieben, der mit der orthodoxen Lesart des Korans kollidierte.

Das Argumentationsmuster, die 
Rolle von Täter und Opfer umzukehren, begegnet uns in vielen Ausein­an­dersetzungen um „Gottes­läste­rung“ und 
„Religions­beschim­pfung“ und bildet die Grundlage des § 166 StGB: Wer mit Gewalt gegen Spott oder Kritik vorgeht, muss vorher so existenziell attackiert worden sein, dass das Opfer des gewalttätigen Angriffs nicht nur selbst daran schuld ist, sondern dafür auch bestraft werden muss. (Ein aktuelles Beispiel haben wir in MIZ 2/22 berichtet.)

Das war seit jeher die Sichtweise der religiösen Rechten, im letzten Vierteljahrhundert hat diese Auffassung jedoch auch im „Westen“, vor allem im Rahmen vermeintlich antikolonialer und antirassistischer Diskurse zunehmend Zustimmung gefunden. Einige der Reaktionen auf den Anschlag auf die Charlie Hebdo-Redaktion zeigten unmissverständlich, dass es ein erschreckendes Einvernehmen gibt zwischen religiösen Reaktionär:innen und in New York oder Berlin lebenden Intellektuellen.

Ihr Auftreten unterscheidet sie natürlich. Und der sprachliche Duktus. Letztere würden nie selbst direkt zu Gewalt aufrufen. Es wird sich kein Foto finden lassen, das sie hinter einem Transparent versammelt zeigt, auf dem eine einfache Forderung wie „Shoot to death“ steht. Das wäre schlecht für die eigene Karriere. Sie warten auf den Bachmann. Geduldig.

Sie kennen die emotionale Grund­stimmung in den Kreisen der religiösen Rechten. Sie bringen das Gefühl des Abgewertetseins, ja des Bedrohtseins in diesen Menschen immer wieder zum Klingen und kanalisieren es, wenn sie darauf verweisen, dass Humanismus und Menschenrechte Projekte alter weißer Männer seien, dass Religionskritik als Rassismus an­zusehen sei und das Eintreten für Gleichheit und gegen Privilegien ein Mittel zur Diskriminierung von Min­d­er­heiten. An gesellschaftlichen Verän­derungen, die dieses Gefühl beseitigen würden, weil die Ursachen dafür beseitigt werden, sind sie nicht interessiert. Sie sehen ihre Aufgabe darin, die Zustände zu beklagen. Und zu erhalten, um sie weiter beklagen zu können.

Und sie wissen, dass irgendwann in irgendeinem (meistens sind es junge Männer) das Klingen so laut wird, dass der meint, jetzt handeln zu müssen. Sie wissen: Irgendwann kommt ein Bachmann. Oder ein Matar.
Ob sie sich dann freuen? Es ist sinnlos, darüber zu spekulieren. Und gleichgültig. Aber fest steht: Ohne ihre als Legitimation für die „Bestrafung“ von Dissidenten und Kritikerinnen verstandenen Äuße­rungen kämen kein Bach­mann und kein Matar. Oder zumindest einige weniger.