Zu diesem Zweck hat der Verband im Juli die im Bundestag vertretenen Parteien angeschrieben und gefragt, was diese von der Idee eines Neutralitätsgesetzes halten.
Neutralitätsgesetze sieht der IBKA gegenwärtig als „die beste Möglichkeit, die Religionsfreiheit, insbesondere auch die negative, umfassend zu gewährleisten“. Es hätte zur Folge, „dass alle hier lebenden Menschen, unabhängig von ihrer Religion bzw. Weltanschauung, gleich behandelt werden. Alle zivilgesellschaftlichen Kräfte würden unter gleichen Voraussetzungen nach gesellschaftlichem Einfluss streben.“
Die derzeitigen Regelungen, beispielsweise das Privileg einiger Religionsgemeinschaften, als Körperschaft des öffentlichen Rechts zu agieren, seien überholt. Denn sie stammten aus einer Zeit, als nahezu alle Einwohnerinnen und Einwohner einer christlichen Konfession angehörten. Dieser Zustand habe heute keinen Bestand mehr: „Tatsächlich aber ist in den letzten 30 Jahren durch Migration und Konversion eine auch weltanschaulich sehr vielfältige Gesellschaft entstanden. Nur noch rund 60% der in Deutschland lebenden Menschen bekennen sich zum Christentum, über ein Drittel gehört keiner Religion mehr an. Eine strukturelle Privilegierung der Religionsgemeinschaften gegenüber anderen zivilgesellschaftlichen Gruppen diskriminiert eine wachsende Zahl von Menschen und erscheint deshalb nicht mehr zeitgemäß.“
Offensichtlich hat das Schreiben die Parteien ins Grübeln gebracht, denn bis Redaktionsschluss lagen nur Antworten von der CDU vor – der Partei die traditionell kirchennah auftritt und deren aktueller Kanzlerkandidat auch für genau diese Ausrichtung steht.
Um Erfahrungen aus der Debatte um das Berliner Neutralitätsgesetz einzubeziehen, hat die MIZ-Redaktion zudem zwei Personen befragt, die diese Auseinandersetzung verfolgt haben und sich intensiv mit der Stellung von Religion in der Gesellschaft befassen: Hannah Wettig von den Säkularen Grünen und Roman Grabowski, der in Berlin in der LAG Säkulare Linke aktiv ist.
Die Antworten geben erste Hinweise, welche Aspekte in einer anstehenden Diskussion um weltschauliche Neutralität des Staates eine Rolle spielen dürften.
Fragen an Hannah Wettig
MIZ: Es gibt in deutsche Gesetzen zahlreiche Ausnahmebestimmungen, die religös motivierte Abweichungen erlauben. Als Beispiele wären das Allgemeine Gleichstellungsgesetz (§ 9) oder das Tierschutzgesetz (§ 4a) zu nennen. Wie sind solche Ausnahmen zu bewerten?
Hannah Wettig: Die freie Religionsausübung ist ein Grundrecht. Das ist auch gut so. Dagegen können aber andere Grundrechte stehen – und dann muss geprüft werden, wie weit hier Eingriffe gerechtfertigt sind. Tiere haben erstmal keine Grundrechte (sie sind durch einfache Gesetze geschützt), insofern sehe ich die Erlaubnis zum Schächten aus juristischer Sicht nicht kritisch. Aus praktischer Sicht und eigener Anschauung (da ich viel in islamischen Ländern war, habe ich schon beim Schächten zugesehen) erscheint mir das keine brutalere Praxis als das Schlachten in hiesigen Schlachthöfen, eher im Gegenteil. Ich bin da aber keine Expertin.
Beim Allgemeinen Gleichstellungsgesetz stehen Grundrechte gegeneinander und es ist grundsätzlich immer zu prüfen, ob ein Eingriff in die Geschlechtergleichstellung zu rechtfertigen ist. Da das Diskriminierungsverbot höher zu werten ist als die Religionsfreiheit, sollte man darüber nachdenken, ob etwa die katholische Kirche einen Ausgleich für Frauen schaffen muss, wenn sie ihnen das Priesteramt verwehrt. Gleiches sollte für Moscheevereine gelten, die keine weiblichen Imame zulassen. Man kann den Leuten keinen anderen Glauben aufzwingen, aber man kann an Körperschaften oder Vereine Anforderungen in Bezug auf innere Demokratie etc. stellen.
MIZ: Wie ließe sich denn verhindern, dass religiöse Vorstellungen in Gesetze einfließen oder sogar deren zentrale Bestimmungen prägen? Das „Sterbehilfeverhinderungsgesetz“ ist ja, obwohl es eindeutig kirchlichen Vorstellungen folgte und drei Viertel der Bevölkerung dagegen waren, vom Bundestag formgerecht beschlossen worden?
Hannah Wettig: Man kann nicht verhindern, dass religiöse Vorstellungen in Gesetze einfließen. Wir alle sind von unseren Herkunftsreligionen geprägt. Man kann aber das Bewusstsein darüber stärken, etwa durch einen vergleichenden kritischen Religionsunterricht in der Schule. Es hilft schon sehr, wenn man wenigstens weiß, woher die eigenen Wertvorstellungen kommen. Zum Zweiten sollte der Einfluss der Kirchen dringend der tatsächlichen Bedeutung angepasst werden, etwa in Rundfunkräten.
MIZ: Gibt es Bereiche, in denen Religionen und Weltanschauungen Sonderrechte zugestanden werden können, ohne die für einen Rechtsstaat grundlegende Maxime, dass Gesetze für alle in gleicher Weise gelten müssen, zu beschädigen?
Hannah Wettig: Ja. Das ergibt sich aus der Religionsfreiheit: Menschen müssen ihren Glauben ausüben können. Allerdings sollte das nicht heißen, dass dadurch gleichzeitig die Rechte aller anderen mitbeschnitten werden. Es ist nicht einzusehen, warum Muslime, Juden, Konfessionslose etc. am Karfreitag nicht tanzen gehen dürfen. Umgekehrt wäre es nicht in Ordnung, wenn etwa eine Schule den Schulball auf den Karfreitag legt.
Ich bin aber durchaus der Meinung, dass Muslime das Recht haben sollten, ihren Urlaub im Ramadan zu nehmen, dass für Juden und Muslime andere Regeln bei der Bestattung gelten etc. Grundsätzlich muss alles, was nicht die Rechte anderer beschneidet, erlaubt sein.
MIZ: Auf welchem Weg könnte erfolgreich verhindert werden, dass Menschen, die im Zweifelsfall religiöse Gesetze über staatliche Gesetze stellen, den Staat repräsentieren? Auf welchen Ebenen wäre das notwendig, auf welchen vernachlässigbar? Wie könnte „Gesinnungsschnüffelei“ vermieden werden?
Hannah Wettig: Ich halte sehr viel vom Neutralitätsgesetz. Das basiert allerdings nicht auf dem Gedanken, dass Menschen, die ihre Religion zur Schau stellen, ihre Religion über staatliche Gesetze stellen.
Der Gedanke ist aber interessant. Denn tatsächlich ist davon auszugehen, dass sie es tun. Man könnte das sogar als eine Art Schutz von religiösen Menschen formulieren: Sie müssen davor geschützt werden, in eine Lage zu kommen, in der sie gegen die Gebote ihrer Religion handeln müssen. Das würde dann sicherlich nicht mehr grundsätzlich für Lehrerinnen gelten, aber z.B. für Biologielehrerinnen. In jedem Fall gälte es für das Richter, Staatsanwälte.
MIZ: Ist es in diesem Zusammenhang legitim, durch äußere Kennzeichen, wie etwa die Kleidung zu signalisieren, dass religiöse Kleidervorschriften als wichtiger angesehen werden als das staatliche Neutralitätsgebot?
Hannah Wettig: Nein. Es ist für mich auch schwer nachvollziehbar, warum jemand das unbedingt will. Warum gründet man dann nicht eine islamische Schule? Ich wäre auch sehr irritiert, wenn Nonnen anfingen sich in den Lehrberuf einzuklagen und darauf bestünden, im Habit zu unterrichten. Das ist doch absurd. Allein die Tatsache, dass es diese Klagen gibt, lassen die Alarmglocken schrillen.
MIZ: Muss der Neutralitätsgedanke auch bei öffentlichen Dienstleistungen, die zur Daseinsvorsorge gehören, berücksichtigt werden?
Hannah Wettig: Ja, es sollte immer eine staatliche oder zumindest konfessionslose Alternative geben. Bei Kindergärten sollte diese Alternative auch fußläufig erreichbar sein, spricht: Niemand darf von religiösen Dienstleitungen abhängig sein.
MIZ: Was bedeutet das angesichts des weitgehend über die Verbände der Freien Wohlfahrtspflege organisierten deutschen Sozialsystems? An welchen „Stellschrauben“ könnte hier gedreht werden?
Hannah Wettig: Soweit ich weiß, gibt es eine flächendeckende staatliche Krankhausversorgung. Wenn auch das nächste und qualitativ bessere Krankenhaus ein religiöses sein mag, so gibt es doch immer eine Alternative. Bei Kindergärten ist das leider in Westdeutschland oft nicht so. Da wir sowieso viele neue Kindergärten brauchen, sollten diese neuen in der Regel staatliche sein, wo religiöse bisher die Regel waren. Man könnte beispielsweise Kommunen zu einer Quote verpflichten.
MIZ: Unterm Strich: Brauchen wir ein Neutralitätsrahmengesetz und Neutralitätsgesetze auf Länderebene? Oder gibt es bessere Wege, die Neutralität des Staates, gerade aus der Perspektive der Konfessionslosen, zu gewährleisten?
Hannah Wettig: Ja, wir brauchen Neutralitätsgesetze.
Fragen an Roman Grabowski
MIZ: Es gibt in deutsche Gesetzen zahlreiche Ausnahmebestimmungen, die religös motivierte Abweichungen erlauben. Als Beispiele wären das Allgemeine Gleichstellungsgesetz (§ 9) oder das Tierschutzgesetz (§ 4a) zu nennen. Wie sind solche Ausnahmen zu bewerten?
Roman Grabowski: Glaubensfreiheit ist ein wichtiges Grundrecht, auch die Ausübung der Religion im Privaten und die Möglichkeit des Zusammenschlusses anhand der Konfession oder der Weltanschauung müssen gewährleistet sein. Jedoch gibt es keinen vernünftigen Grund dafür, dass in einem modernen Staat Religionsgemeinschaften derart weitgehende Sonderrechte zugestanden werde, die Güter von Verfassungsrang wie Recht auf körperliche Unversehrtheit oder den Tierschutz verletzen. Denn das tun die Beschneidung männlicher Minderjähriger ohne medizinische Notwendigkeit oder das Schächten. Auch das kirchliche Arbeitsrecht ist in dieser Form, insbesondere in der recht großzügigen Auslegung der deutschen Gerichte, ein Anachronismus. Es muss teilweise abgeschafft, teilweise auf den engsten Kern des sogenannten „verkündungsnahen Bereichs“ eingeschränkt und insgesamt an das Arbeitsrecht eines gewöhnlichen Tendenzbetriebs angepasst werden. Zu nennen wäre noch eine Reihe weiterer Privilegien, die abgeschafft gehören, etwa die Staatsleistungen oder die Einziehung der Kirchensteuer.
MIZ: Wie ließe sich denn verhindern, dass religiöse Vorstellungen in Gesetze einfließen oder sogar deren zentrale Bestimmungen prägen? Das „Sterbehilfeverhinderungsgesetz“ ist ja, obwohl es eindeutig kirchlichen Vorstellungen folgte und drei Viertel der Bevölkerung dagegen waren, vom Bundestag formgerecht beschlossen worden?
Roman Grabowski: Hier gibt es zwei Ebenen. Zum einen die Kräfteverhältnisse im Parlament. Die Parteien sind in ihrer Ausrichtung und Mentalität unterschiedlich stark von christlichem Gedankengut und persönlicher Nähe zu den beiden großen Kirchen geprägt. Traditionell ist eine Partei wie die CDU religionspolitisch anders aufgestellt als etwa die FDP oder die Linkspartei. Hier haben es also die Wählerinnen und Wähler in der Hand. Sie schaffen mit ihrem Votum die möglichen Mehrheiten und Regierungsoptionen und zeichnen damit auch die Perspektiven für eine Politik im Geiste der Säkularität vor. Doch mindestens genauso wichtig wie die Zusammensetzung des Bundestags ist die Zurückdrängung des Einflusses der Kirchen auf die Abgeordneten, die oft genug nicht aus Überzeugung, sondern aus Konfliktscheu, fehlgeleiteter Konsensorientierung oder schierem Opportunismus den Standpunkten und Forderungen der Kirchen entgegenkommen. Ein ähnliches Phänomen ist übrigens leider auf der linken Seite zu beobachten, wenn beispielsweise aus falsch verstandenem Antirassismus immer mehr die Agenda konservativer bis reaktionärer Islamverbände übernommen wird.
MIZ: Gibt es Bereiche, in denen Religionen und Weltanschauungen Sonderrechte zugestanden werden können, ohne die für einen Rechtsstaat grundlegende Maxime, dass Gesetze für alle in gleicher Weise gelten müssen, zu beschädigen?
Roman Grabowski: Es gibt Bereiche, in denen ich nicht von Sonderrechten, sondern Sonderformen sprechen würde, die vollkommen legitim sind. Diese spielen sich vor allem im Rahmen des Privat- und Gemeindelebens ab. In welchem Zeremoniell eine Ehe geschlossen oder eine Bestattung vollzogen oder eine Jugendfeier durchgeführt werden, ob jemand sich Rat beim Lebensberater, beim Persönlichkeitscoach, beim Psychologen oder beim Geistlichen holt, sollte den Menschen selbst überlassen werden. Einzige Bedingungen sind: Es darf dabei nicht zu Konflikten mit bzw. Einschränkungen der Freiheit und den Rechten von Religionsfreien kommen wie etwa bei „stillen“ Feiertagen und für alle anerkannten Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften muss der Grundsatz der Gleichbehandlung gelten.
MIZ: Auf welchem Weg könnte erfolgreich verhindert werden, dass Menschen, die im Zweifelsfall religiöse Gesetze über staatliche Gesetze stellen, den Staat repräsentieren? Auf welchen Ebenen wäre das notwendig, auf welchen vernachlässigbar? Wie könnte „Gesinnungsschnüffelei“ vermieden werden?
Roman Grabowski: Für die meisten gläubigen Menschen in unserem Land sind ihre Religion und deren Gebote glücklicherweise eine Angelegenheit von Privat- und Gemeindeleben und keineswegs höherstehend als Demokratie und unsere Rechtsordnung. Mit einer fundamentalistischen Einstellung wie der genannten ist man nicht nur im Staatsdienst, sondern generell in einer freiheitlich-demokratischen rechtsstaatlichen Gesellschaft fehl am Platze. Die Bekämpfung fundamentalistischer und extremistischer Einstellungen und Bestrebungen muss also bereits hier beginnen, am Fundament des Gemeinwesens, weit bevor solche Personen in den Staatsdienst vordringen. Bewerber für den öffentlichen Dienst oder die Beamtenanstellung verpflichten sich alle per Vertrag oder Eid auf die Gesetze unseres Landes und die freiheitlich-demokratische Grundordnung. Bei Verstößen dagegen greifen die behördlichen dienstrechtlichen Instrumente. Das betrachte ich in vielen Bereichen als ausreichend. Bei den hoheitlichen Kernaufgaben Sicherheit, Justiz und Bildung ist es schwierig, um Formen von Gesinnungsprüfung herumzukommen, da das Schadenspotenzial hier besonders hoch liegt. Hier wären intensive Gespräche und Tests für Bewerber im Vorfeld und bei begründetem Verdacht auf eine extremistische Einstellung eventuell weitere Nachforschungen bei unabhängigen anerkannten Dokumentations-, Beratungs- und Recherchestellen der Weg. In diesem Zusammenhang möchte ich auch die Forderung nach einer Dokumentationsstelle Politischer Islam nach dem Vorbild Österreichs bekräftigen.
MIZ: Ist es in diesem Zusammenhang legitim, durch äußere Kennzeichen, wie etwa die Kleidung zu signalisieren, dass religiöse Kleidervorschriften als wichtiger angesehen werden als das staatliche Neutralitätsgebot?
Roman Grabowski: Nein, Vertreter des Staates sollten in wesentlichen Aufgabenbereichen ein religiös-weltanschaulich neutrales Erscheinungsbild abgeben. Religiös oder weltanschaulich geprägte Symbole und Kleidungsstücke sollten während der Dienstzeit nicht sichtbar getragen werden dürfen. So schreibt es das Berliner Neutralitätsgesetz für die Bereiche von Polizei, Justiz und öffentlicher Schule vor und ist damit mustergültig. Dass diese Einschränkung im Dienst trotz des Rechts auf Religionsfreiheit zumutbar ist, hat der Europäische Gerichtshof bereits in zwei Urteilen für die Privatwirtschaft bestätigt. Für den Staatsdienst dürfte dies noch mehr gelten, da für den Staat qua Verfassung das Neutralitätsgebot gilt. Die Religionsausübung ist, wie eine EuGH-Generalanwältin sinngemäß argumentierte, kein unveränderliches Merkmal wie Geschlecht oder Hautfarbe, sondern eine willentlich gestaltbare Praxis, bei der eine zeitweise Zurückhaltung möglich ist. Wichtig ist auch hier die Wahrung des Gleichbehandlungsprinzips: keine Religion oder Weltanschauung darf bevorzugt oder benachteiligt werden.
MIZ: Muss der Neutralitätsgedanke auch bei öffentlichen Dienstleistungen, die zur Daseinsvorsorge gehören, berücksichtigt werden?
Roman Grabowski: In staatlichen oder von der öffentlichen Hand getragenen Einrichtungen muss selbstverständlich das Neutralitätsprinzip strikt gelten. Die freien Träger hingegen können konfessionell oder weltanschaulich ausgerichtet sein. Wenn es eine entsprechende Nachfrage in der Bevölkerung gibt, sollte diese auch gedeckt werden, durchaus auch mit staatlicher Unterstützung. Wenn Menschen ihre Kinder in eine christliche Kita geben wollen, sollten sie die Möglichkeit dazu haben. Zentral sind hier drei Bedingungen: Erstens – da sind wir wieder beim kirchlichen Arbeitsrecht – müssen bei Einrichtungen der Wohlfahrtspflege in der Trägerschaft von Glaubensgemeinschaften die Gesetze des allgemeinen Arbeitsrechts gelten. Zweitens muss das religiöse oder weltanschauliche Profil eindeutig erkennbar sein. Ein katholisches Krankenhaus oder eine katholische Kita müssen auch so heißen. Drittens muss der Staat dafür sorgen, dass die Bürgerinnen und Bürger tatsächlich eine freie Wahl bei der Inanspruchnahme von Angeboten sozialer Daseinsvorsorge haben. Wenn sich beispielsweise in einer Region fast alle Kitas oder Seniorenheime in kirchlicher Trägerschaft befinden und Religionsfreie oder überzeugte Atheisten faktisch gezwungen sind, deren Dienste in Anspruch zu nehmen, ist der staatliche Auftrag nicht erfüllt.
MIZ: Unterm Strich: Brauchen wir ein Neutralitätsrahmengesetz und Neutralitätsgesetze auf Länderebene? Oder gibt es bessere Wege, die Neutralität des Staates, gerade aus der Perspektive der Konfessionslosen, zu gewährleisten?
Roman Grabowski: Ein klares Ja. Mit einem Rahmengesetz zur Neutralität auf Bundesebene ließen sich mehrere langanhaltende Widersprüche und Probleme lösen. Da wäre zum einen der seit langer Zeit bestehende Widerstreit zwischen zwei Modellen religiös-weltanschaulicher Neutralität des Staates: einer „distanzierenden“ und einer „offenen und übergreifenden“, wie es das Bundesverfassungsgericht 2015 formuliert hat. Ein Rahmengesetz könnte hier endlich für die bislang fehlende Klärung der Verhältnisse zwischen diesen Ansätzen sorgen. Zum anderen könnte damit der teils unerhörten Privilegierung der christlichen Kirchen in manchen Bundesländern, allen voran in Bayern, wo am Eingang aller staatlichen Gebäude ein Kreuz prangen muss, ein Ende gesetzt und eine Gleichberechtigung für Organisationen von Konfessionslosen und Humanisten durchgesetzt werden. Des Weiteren könnten damit die institutionellen und finanziellen Verflechtungen zwischen Staat und Kirchen endlich entwirrt und geordnet werden. Die Neutralitätspflicht der Staatsbediensteten könnte ebenfalls einheitlich festgelegt werden. In Berlin haben wir mit dem Neutralitätsgesetz eine Regelung, die sich seit Jahren in der Praxis bewährt hat und an der man sich dabei beispielhaft orientieren sollte.